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Metrische Gesundheitskultur | Gesundheit und Digitalisierung | bpb.de

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Metrische Gesundheitskultur Selbstoptimierung im digitalen Zeitalter

Stefan Selke

/ 14 Minuten zu lesen

Selbstvermessungstechnologien wie Fitnessarmbänder oder Gesundheitsapps gelten als Sinnbild rationaler Lebensführung. Neben ihren Potenzialen für die gesundheitliche Prävention müssen jedoch auch schleichende Effekte auf Individuum und Gesellschaft mitbedacht werden.

Selbstveredelungsversuche des Menschen reichen von der antiken Diätetik über mechanische Schrittzähler bis zu zeitgenössischen Technologien digitaler Selbstvermessung. Der jüngste Innovationszyklus nennt sich, je nach Diskurs oder Vorliebe, Lifelogging, Personal Data, digitale Selbstvermessung oder Self-Tracking. Mittels miniaturisierter Sensoren in tragbaren Datenaufzeichnungsgeräten wie Fitnessarmbändern, Smartwatches oder Apps – aber auch etwa in Hightech-Socken für Diabetiker oder "intelligenten" Textilien – werden Orts-, Zeit- und Körperdaten gesammelt und ausgewertet. Dies umfasst unter anderem Aktivitäten wie Bewegung, Schlaf und Kalorienverbrauch, aber auch biometrische Daten wie Blutdruck, Body-Mass-Index (BMI), Glukosewerte und Menstruationszyklen oder gar Emotionen wie Angst oder Motivation.

Veralltäglichung

Selbstvermessung findet mittlerweile als popularisierte Alltagspraxis statt. Als Wachstumstreiber gilt dabei die Vermessung der eigenen Gesundheit. Digitaltechnik verwandelt Körperzustände in Datenmaterial, um daraus Handlungsanweisungen abzuleiten. Das eigene Leben wird auf diese Weise zu einem Optimierungsprojekt.

Die Beliebtheit digitaler Selbstvermessung erklärt sich allerdings nicht vollständig aus dem Streben nach Selbstverbesserung oder technologischen Innovationen. Der Trend zur Selbstvermessung lässt sich erstens als klinischer Blick auf die eigene Lebensführung verstehen. Wurden numerische Repräsentationen des Körpers bislang von Kliniken, Praxen und weiteren Gesundheitseinrichtungen vorgenommen, können diese nun selbst hergestellt werden. Damit sind zweitens neue Möglichkeiten privater Kontingenzreduktion, das heißt der Orientierung und Bändigung der ungewissen Zukunft, verbunden. Objektive Daten sollen die Selbstwahrnehmung verbessern und zu rationaler Lebensführung beitragen. Hilfreich ist hierzu die Reduktion auf die Maßstabsebene des Beherrschbaren: den eigenen Körper.

Datafizierung der eigenen Gesundheit

Die Allgegenwart von Wearables, also tragbarer Digitaltechnik, befördert die Dynamisierung digitaler Selbstvermessung. Dabei steht der Mensch als "Zielobjekt" im Mittelpunkt, wobei sich Gesundheitsmonitoring als Hauptform etabliert hat. Zudem fördert das unter Kostendruck stehende Gesundheitswesen die Popularisierung von eHealth beziehungsweise mHealth (mobile Health) als Gesundheitsrevolution. Verschiedene Aspekte wie Wellness, Fitness, Ernährung und Bewegung, Präventions- oder Rehabilitationsmaßnahmen, aber auch Pflege lassen sich mit digitaler Selbstvermessung verbinden. Bei der muskuloskelettalen Rehabilitation, etwa bei einer Knie-Rehabilitation, wurden positive Erfahrungen mit tragbaren Sensoren gemacht, die helfen, Übungen selbständig zu Hause durchzuführen. Abgesehen von Kostensenkung führt Selbstvermessung dabei zu einer gesteigerten Autonomie der PatientInnen. Unklar bleibt indes, wie die Daten in klinisches Wissen einbezogen werden und dürfen.

Neben selbstinitiierter Vermessung finden sich auch angeordnete Maßnahmen, zum Beispiel betriebliches Gesundheitsmanagement, das darauf ausgelegt ist, den Krankenstand zu senken. Weil dabei strukturelle Probleme der Arbeitsüberlastung in individuelles Verhalten (rück-)übersetzt werden, kann dies auch als neuer Modus innerbetrieblicher Konkurrenz gedeutet werden. Darüber hinaus gibt es starke datenschutzrechtliche Bedenken hinsichtlich der Sicherung der persönlichen, körperbezogenen und psychologischen Daten.

Potenziale digitaler Selbstvermessung

Auf den ersten Blick fallen vor allem zahlreiche Potenziale selbst erstellter Gesundheitsmetriken ins Auge. Selbstvermessung etabliert neue Routinen, Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten. Lebensweltliche Erfahrungen können mit neuen Deutungsangeboten in Zusammenhang gebracht werden, Zahlen erzeugen (vermeintlich) verlässliche Anhaltspunkte. Die Beobachtung von Datenreihen wirkt sich entlastend auf die Selbstwahrnehmung aus, was durchaus das Sicherheitsgefühl in wechselhaften Gesundheitssituationen steigern kann.

Vor allem im Teilen und gemeinsamen Bearbeiten von Daten wird ein großer Gewinn gesehen. Das damit verbundene Versprechen der Emanzipation findet so innovative Ausdrucksweisen: Etwa können (chronisch) Kranke auf Plattformen wie "PatientsLikeMe" oder "23andMe" persönliche Daten über Medikamente oder Therapien veröffentlichen und teilen, sich von der Expertenmacht der Ärzteschaft emanzipieren und zudem Versprechungen der Pharmaindustrie empirisch überprüfen. Die Bezugsgröße der Datenerhebungen ändert sich vom Einzelfall zur Großgruppe, damit verschieben sich entsprechend auch Aussagekraft der Daten und Machtverhältnisse. Im Kontext der sogenannten Personal Health Science kommt es zwischen zertifiziertem und nicht-zertifiziertem Wissen zur Selbstexpertisierung von Laien, die als "digitale Prosumenten" – eine Kombination aus Datenproduzenten und -konsumenten – die beratende Rolle, autoritäre Deutungsmacht und Intuition medizinischer ExpertInnen infrage stellen oder zumindest abschwächen. Offen ist dennoch, wie Wissen, das einen ausgeprägten Körper- und Selbstbezug auf der Basis partizipativ geteilter individueller Daten aufweist, verallgemeinert und nutzbar gemacht werden kann.

Insgesamt ist digitale Selbstvermessung mit einem Zuwachs an Körperwissen in medizinischen Kontexten verbunden, ermöglicht Beurteilungen der eigenen Gesundheit und vermag, zu einem förderlichen Verhalten beizutragen. Selbstvermessung hat daher das Potenzial, zu einer gesünderen Gesellschaft und zu niedrigeren Gesundheitskosten zu führen.

Risiken der Datafizierung

Neben Potenzialen sollten auch Risiken in den Blick genommen werden. Selbstvermessung findet stets in einem Spannungsfeld statt: Sie richtet sich auf den Körper als "messbaren Gegenstand", während sich der Leib als sinnliche Selbst- und Umwelterfahrung konkreter Zählbarkeit entzieht. Ein ganzheitliches Gesundheitsverständnis ist mit singulären Datenpunkten schwer in Einklang zu bringen. Trotzdem sollte Selbstvermessung nicht nur als rationales, sondern auch als emotionales Projekt verstanden werden. Körperliche Prozesse werden in Zahlen und Bilder übersetzt, die wiederum Affekte erzeugen, die zur Selbstreflexion und -veränderung führen können. Durch "praktizierte Zahlenwache" werden Resonanzen zum Selbst erzeugt.

Diese Praktiken schließen kaum noch einen Lebensbereich aus. Da die genutzten Technologien diejenigen Standards und Konventionen manifestieren, nach denen sie programmiert wurden, sind Fitnessarmbänder, Smartwatches und Gesundheitsapps nicht nur "smarte" Technologien, sondern vielmehr Repräsentanten neuer Normen und sozialer Erwartungen. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Ambivalenz der Präventionsidee selbst. Die "präventive Wende" im Gesundheitsbereich führte, spätestens seit der Bewegung des Healthismus in den 1980er Jahren in den USA, zu einem gesellschaftssanitären Projekt, das statt repressiver Kontrolle von oben die schleichende Etablierung von Selbstverbesserungspraktiken von unten förderte. Als Form der Selbstverantwortlichkeit (Responsibilisierung) greift die Logik der Prävention tief ins Alltagshandeln ein, zum Beispiel in Form von Verzichtsaufrufen, als algorithmenbasierte Motivation (Nudging) oder in Form spielerischer Wettbewerbe (Gamification). Weil sich dabei auch der Druck zur Selbstoptimierung erhöht, wird die flexible Anpassungsfähigkeit vieler Menschen überfordert. Deshalb resultiert der Zuwachs an Daten nicht automatisch in der Konsequenz, dass sich Menschen vermehrt und zugleich erfolgreich um die eigene Gesundheit kümmern.

Technikunterstützte Selbstbeobachtung und der latent verpflichtende Charakter von Prävention verweisen wechselseitig aufeinander. Die Möglichkeiten zur numerischen Erfassung von Körperzuständen verändern sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Sprachfähigkeit über Gesundheit. Gerade im Gesundheitswesen drückt sich die Durchsetzung des dominierenden gesundheitsökonomisch-bürokratischen Vernunftstils in der Definition von Risikoparametern und Grenzwerten aus.

Unklar ist, ob popularisierte Praktiken der Selbstvermessung zu neuen Formen der Gesundheitskompetenz (Health Literacy) beitragen oder ob durch die rein numerische Erfassung von Gesundheitszuständen eher neue Barrieren erzeugt werden. Welche Formen der Differenzierung oder gar Diskriminierung entstehen, wenn selbstvermessene Daten zur Zielgröße des Gesundheitssystems werden? In Studien zeigte sich, dass typische SelbstvermesserInnen tendenziell jung, gebildet, privilegiert und gesund sind. Eine Kompetenzsteigerung scheint daher vor allem bei jenen stattzufinden, die bereits ein hohes Maß an Gesundheit, Wissen und eine gute sozioökonomische Ausgangslage mitbringen. Umgekehrt sind geringe finanzielle Ausstattung und Wissensressourcen Gründe, digitale Selbstvermessung nicht zu nutzen – ein Effekt der Selbstselektion. Langzeitfolgen dieser Entwicklung müssen erst noch bilanziert werden.

Verwertungslogiken

Im Kapitalismus wird als akzeptable Leistung nur anerkannt, was vermess- und berechenbar ist – oder zumindest so scheint. Selbstvermessung kann daher als ökonomisierbare Alltagspraxis verstanden werden. Sie resultiert aus der Leidenschaft für repetitive Ordnungen, geordnete Zeit- und Lebenseinteilungen sowie Sehnsucht nach Kontrolle (Accountability). Kein Fitness-Tracking ohne optimale Schrittzahl, idealen BMI oder erstrebenswerten Kalorienwert. Der Mensch wird tendenziell als Energiequelle betrachtet, die möglichst störungsfrei und effizient Leistung, etwa Gesundheits-, Arbeits- oder Beziehungsleistung, abgeben soll. Idealerweise investiert daher das präventive Selbst in eigenes Körperkapital (korporales Kapital). Körperarbeit und Selbstvermessung sind Ausdruck symbolischer Gesundheit und Indikatoren eines Gesundheitsverständnisses, das sich vor allem in Aktivierungs- und Selbstverantwortungsappellen im Kontext ökonomischer Logiken ausdrückt. Berechenbarkeit gilt als Ausdruck leistungsgerechter Lebensführung. Die Frage nach dem "richtigen Maß des Lebens" verschiebt sich immer weiter hin zur Frage nach dem "Wert des Menschen", soziale Bewertbarkeit wird zunehmend an ökonomische Verwertbarkeit geknüpft. Besonders offensichtlich wird diese Verwertungslogik dort, wo PatientInnen oder ArbeitnehmerInnen von Versicherungen oder Arbeitgebern mit Rabatten und Boni für normgerechtes Verhalten belohnt werden.

Selbstverzweckung

Weil sich Gesundheitsbemühungen von Krankheitsbehandlung zu Krankheitsverhinderung verschieben, dient die Selbstbeobachtung privater Gesundheitsdaten im Rahmen sogenannter Pay-as-you-live-Tarife (PAYL) der Einlösung der zeitgenössischen Präventionslogik. Versicherte erhalten individuelle Gegenleistung für die Weitergabe selbstvermessener Körper- und Gesundheitsdaten. Boni und Prämien machen PAYL für Versicherte und zugleich für Versicherungen lukrativ. Abgesehen von Datenschutzfragen birgt die Erlangung und Auswertung privater Datensätze durch den Versicherungssektor allerdings die Gefahr der Kategorisierung von Personen mit negativen Konsequenzen.

Soziale Aspekte wie Solidarität, Fürsorge und Verantwortung werden nach und nach ökonomisch kalkulierbar gemacht. PAYL verschiebt den Bezugsrahmen von Gesundheit und erodiert die Idee von Solidarität. Problematisch daran ist auch, dass sich der Markt der Gesundheitsapps noch nicht bis zur Etablierung von Qualitätsstandards gefestigt hat. Die Verlagerung der dominanten Handlungsform von der Sorge zur Prävention ist weitgehend politisch gewollt und findet breiten Konsens im Kontext eines "kybernetischen Kapitalismus", in dem der Mensch letztlich selbst zur Ware wird (Kommodifizierung) und sich selbst verzweckt. Neben der Verantwortung werden dabei auch Risiken und Ängste individualisiert und instrumentalisiert. Das Gefühl, durch digitale Selbstvermessung bewertet oder gar überwacht zu werden, verunsichert.

Unklar ist zudem, ob Fitnesstracker und Gesundheitsapps nachhaltig dazu beitragen, angestrebte Gesundheitsziele zu erreichen. Zukünftig wird also auszuhandeln sein, wo die neue Grenze zwischen Eigenverantwortung und technisierter Selbstsorge sowie zwischen Kollektivabsicherung und individualisierten Versicherungsverträgen liegt.

Normkultur

Die Nachweispflicht über Präventionsbemühungen – etwa durch die Sammlung und Weitergabe normgerechter Fitnessdaten im Kontext von PAYL – stellt Menschen, die sich nicht an diesen Programmen beteiligen, potenziell unter Verdacht. Dies führt einerseits zu einer Umkehr der Beweislast, anderseits zu einem logischen Konflikt. Denn anders als Behandlung und Heilung ist Prävention generell unabgeschlossen. Der Präventionsgedanke erzeugt somit kontinuierlichen Druck zur stetigen Prüfung und Verbesserung von Gesundheit. Gesundheitshandeln und -ziele müssen permanent hinterfragt und optimiert werden. Auf diese Weise etabliert sich schleichend eine Bringschuld auf Basis nachweisbaren Gesundheitshandelns. Damit verschiebt sich der Bezugsrahmen von Wohlbefinden zu Leistungserbringung. Werden strukturelle Krankheitsursachen zum Problem individueller Risikovorsorge umdefiniert, taucht im Extremfall eine neue Schuldfrage auf.

Daten wirken disziplinierend und desintegrierend zugleich. Präventionsangebote und Gesundheitsmetriken spiegeln dabei jedoch selten die Vielfalt der Bevölkerung wider, sondern repräsentieren eher das digitale Abbild eines "Norm-Menschen" etwa in Bezug auf Gender, Alter, Ethnie oder Bildung. Für Personen mit Krankheiten, Verletzungen oder Behinderungen sind diese Idealnormen unerreichbar. Metrische Standards repräsentieren die Perspektive jener Gruppen nur unzureichend. Gerade vulnerable Personen geben an, dass Gerätedaten und eigener Körperzustand selten zusammenpassen. Durch diese Verzerrung können diskriminierende Vorenthalte von Gesundheitsleistungen entstehen. Selbstvermessung im Bereich Gesundheit ist also auch eine Frage der Inklusion und sozialen Teilhabe.

Kulturwandel durch Metriken

Inzwischen lassen sich zahlreiche physische, psychische und soziale Zusammenhänge von Gesundheit metrisch erfassen. Hierbei werden persönliche Messwerte in ein Netz von "bedeutenden Daten" eingewebt, was den Abgleich mit vordefinierten Standards und vergleichende Leistungsbeurteilungen ermöglicht. Mit Gesundheitsmetriken geht stets eine Verschiebung von einer qualitativen zu einer quantitativen Sichtweise einher. Vielfältige Daten werden zu einem Gesamtbild, im Extremfall zu einem Index oder Health Score, zusammengefasst, was im Widerspruch zur lebenspraktischen Wahrnehmung steht.

Nahezu alle Selbstvermessungstechnologien motivieren, die eigenen Daten zu teilen. Während digitale Selbstvermessung an Bedeutung gewinnt und digitale Technologien private Gesundheitsprojekte unterstützten, bilden sich neue Konventionen des Vergleichens heraus. Formen der Quantifizierung des eigenen Lebens sind mittlerweile zu einem unübersehbaren Bestandteil der öffentlichen und privaten Kommunikation im "Zeitalter der Vergleichung" geworden. Mustererkennung in privaten Daten gilt als neue Form der Selbsterkenntnis und passt gut zum Streben nach Selbstoptimierung. Offen ist, wie Menschen praktisch damit umgehen, dass die Objektivität von Zahlen kein Sachverhalt, sondern letztlich eine Zurechnung ist. Unterm Strich wirken Metriken regulativ und normativ. Sie bestimmen mit, welche Maßnahmen sich für den Zuwachs von Gesundheitskompetenzen praktisch etablieren. Gerade durch digitale Technologien erfährt die Idee der Gesundheit eine andauernde Verwandlung, wobei ältere und neue Vorstellungen gegenwärtig nebeneinander existieren.

Metrische Macht und Kolonisierung

Daten gelten als Rohstoff der Zukunft. Tatsächlich umfasst das datengetriebene Leben bereits jetzt zahlreiche Lebensbereiche. Hauptkennzeichen metrischer Kulturen ist die Entgrenzung von Vermessungspraktiken, die zwar Urteile erleichtern, gleichzeitig aber Menschen verstärkt in vermessbare Objekte verwandeln. Metrische Macht basiert auf Vermessungssystemen, die soziales Leben ordnen, gleichzeitig aber auch neu organisieren. Deshalb wirkt die korrelative Macht der Algorithmen auf diejenigen zurück, die sich selbst optimieren wollen.

Aufgrund der Allgegenwart von Metriken kann inzwischen von "assistiver" oder "metrischer Kolonisierung" gesprochen werden. So entstehen neue Sichtweisen auf Körper, Gesundheit und Individuum, verbunden mit neuen Denkweisen, Wertefragen sowie Fragen zur Identität. Metriken dienen hierbei der dreifachen Neubestimmung von Verhältnissen: zwischen Individuen und deren Körper, zwischen BürgerInnen und Institutionen sowie zwischen dem Biologischen und dem Sozialen.

Kontingenzdilemma

Spätestens hier zeigt sich das Doppelgesicht privatisierter Kontingenzreduktion. Dieses Kontingenzdilemma ist die zentrale Herausforderung metrischer Gesundheitskulturen. Einerseits ermöglicht Selbstvermessung Eigenverantwortung und Selbstsorge. Andererseits führt dies über technisch vermitteltes Drängen zu Vorgaben, die in die private Lebensführung eingreifen. Gerade Fitness – verstanden als leistungsabhängiger Teil der Gesundheit – wird ein erhöhter sozialer Stellenwert zugeschrieben. Mit der Konzentration auf Fitness als überprüfbarem Gesundheitswert verändert sich jedoch insgesamt der Blick auf Gesundheit.

Selbstvermessung kann also als Entlastung von lebensweltlicher Kontingenz erfahren werden. Gleichzeitig lassen sich gegenläufige Schwierigkeiten feststellen, die der Hoffnung auf rationale Lebensführung entgegenstehen: Wissensbezogene Kontingenz resultiert erstens aus dem Zweifel, ob unsere Welt überhaupt unerschütterliche Fakten enthält, die messbar sind. Zweitens entsteht soziale Kontingenz dort, wo Fakten, zum Beispiel Gesundheitswerte, sozial ausgehandelt werden müssen. Drittens entstehen permanent neue technische Kontingenzen durch Nutzungsbarrieren oder notwendige Update-Zyklen. Selbst wenn die Reduktion individueller Handlungskontingenz mittels digitaler Selbstvermessung, zum Beispiel durch Trainings- oder Ernährungspläne, gelingt, erhöht sich durch den Einsatz meist unverstandener und intransparenter Technik die lebensweltliche Kontingenz. Insgesamt wächst damit der Bedarf an Orientierungsleistungen in einer durch digitale Technik überformten Welt.

Souveränität und Vulnerabilität

Somit stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen es für (freiwilligen) Souveränitätstransfer in digitale Systeme gibt und welche Folgen mit der Verantwortungsverlagerung einhergehen. In einer Stellungnahme zum Thema "Big Data und Gesundheit" entwickelte der Deutsche Ethikrat "Datensouveränität" als Leitkonzept, das wesentlich auf dem Prinzip der informationellen Freiheitsgestaltung aufbaut. Digitale Souveränität bedeutet, digitale Technologien kompetent einzusetzen und die Chancen, etwa auf Wohlergehen, und Folgen, etwa für die Privatheit, abschätzen zu können. Dem Prinzip digitaler Souveränität kann jedoch das Prinzip der "digitalen Vulnerabilität" gegenübergestellt werden, das die Situation digitaler SelbstvermesserInnen als Konstellationen externer Einflussfaktoren und interner Resonanzräume fasst. Es bleibt zu erwägen, ob Gesundsheitsmetriken ein ganzheitliches Gesundheitsverständnis fördern oder diesem entgegenstehen.

Somit sollte der Ruf nach Förderung individueller Gesundheitskompetenz, also die Förderung der Fähigkeit, Gesundheitsinformationen zu suchen, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, mit Blick auf das "Black Boxing" im Feld der erhobenen Gesundheitsdaten kritisch hinterfragt werden. Es sind gerade die Bedürftigen, gesundheitlich Eingeschränkten, auf die von Selbstvermessungsanwendungen erhobene Daten und Trainingspläne nicht passen und die daher strukturell keine Kompetenzgewinne erfahren können.

Rationale Diskriminierung

Digitale Datensammlungen erzeugen neue soziale Unterscheidungsmöglichkeiten. Auf Basis immer genauer auflösender (granularer) Daten lassen sich Beurteilungen von PatientInnen, MitarbeiterInnen und BürgerInnen herstellen. Daten werden dabei jedoch nicht nur genauer, sondern auch trennender. Rationale Diskriminierung bedeutet, dass datenbasierte Unterscheidungen soziale Folgen nach sich ziehen. Daten übersetzen einerseits Normen, andererseits werden sie mit Chancen gekoppelt. Aus deskriptiven Daten werden normative Daten, die soziale Erwartungen, zum Beispiel an "richtiges" Gesundheitshandeln, repräsentieren. Durch Vermessung kommt es zu ständiger Fehlersuche, sinkender Fehlertoleranz und gesteigerter Abweichungssensibilität anderen und uns selbst gegenüber.

Damit setzt sich insgesamt ein defizitorientiertes Organisationsprinzip des Sozialen durch. Das passiert auch, wenn sich der Diskriminierungsaspekt hinter den Fassaden spielerischer Wettbewerbe oder von Belohnungssystemen (Incentivierung) verbirgt. So kritisiert etwa der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen, dass durch die zunehmende Korrelation von physiologischen und emotionalen Zuständen die Möglichkeiten steigen, mittels Ergebnissen der Selbstvermessung in Kombination mit freiwilliger Datenablieferung "in das Innerste von VerbraucherInnen zu blicken". Weil sie Anpassungszwänge organisieren, enthalten Präventionsprojekte immer auch repressive Impulse.

Grundsätzlich sind Entlastungsfunktionen durch Selbstvermessung leichter nachzuzeichnen als Entmündigungsurteile. Die "Dialektik von Entlastung und Entmündigung" zwischen marktkonformer Selbstoptimierung und dem Aufstieg neuer Kompetenzbegriffe wie Health-, eHealth- oder mHealth-Literacy ist das zentrale Spannungsfeld zeitgenössischer, zugleich aber auch zukünftiger Formen von Selbstvermessung.

Transformationsräume

Selbstvermessung ist eng mit gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden, die teils unterhalb der Wahrnehmungsschwelle stattfinden. Prozesse des schleichenden Wandels müssen daher aufmerksam in den Blick genommen werden. Zukünftig braucht es zudem ein Umdenken, was die Relationierung von Mensch-Maschine-Systemen betrifft. Denn künftig wird künstliche Intelligenz für Selbstvermessungspraktiken eine tragende Rolle spielen. Dann wird deutlich werden, dass im Kontext präventiver Lebensführung Digitaltechnik mehr als nur Werkzeugcharakter besitzt. Selbstvermessungstechnologien sollten vielmehr als aktiv mithandelnde, welterzeugende und weltverändernde Assistenten oder gar quasi-soziale Partner betrachtet werden.

Quer durch alle Anwendungsfelder digitaler Selbstvermessung ziehen sich immense Heilsversprechen. Die Verheißung digitaler Technik erhält zunehmend eine Trostfunktion in erschöpften Gesellschaften. Schattenseiten des neuen, datengetriebenen Bewusstseins sind die zunehmende moralische Aufladung der Lebensführung, die Entstehung von Verdachts- und Verbotskulturen, die Neigung zur Bevormundung und zum Hineinregieren in persönliche Lebensentwürfe.

Abschließend gilt es daher, zumindest einen Ausblick auf Alternativen zu wagen. Um Digitalisierungsverlierer zu vermeiden und Aspekte der sozialen Verletzbarkeit gebührend zu berücksichtigen, braucht es neben Verheißungen auch Skeptizismus sowie alternative Praktiken wie Digital Detox oder Mindfullness, die dazu anregen, Abhängigkeiten von Technologien zu reduzieren und Entscheidungsautonomie zurückzugewinnen. Die Vorteile metrischer Gesundheitskulturen dürfen am Ende nicht mit zwanghafter Perfektion bezahlt werden. Immerhin gibt es einen anthropologischen Widerstand gegen Verdatung und Quantifizierung des eigenen Lebens, weil damit Entfremdung verbunden ist. Zwischen Selbstermächtigung und Selbstentgrenzung warten noch immer zahlreiche Fragen auf Klärung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Stefanie Duttweiler et al. (Hrsg.), Leben nach Zahlen. Self-Tracking als Optimierungsprojekt?, Bielefeld 2016; Stefan Selke (Hrsg.), Lifelogging. Digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung zwischen disruptiver Technologie und kulturellem Wandel, Wiesbaden 2016.

  2. Vgl. Lisa Wiedemann, Self-Tracking. Vermessungspraktiken im Kontext von Quantified Self und Diabetes, Wiesbaden 2019.

  3. Vgl. Thorben Mämecke, Benchmarking the Self, in: Duttweiler et al. (Anm. 1), S. 103–122.

  4. Vgl. Nils Heyen/Sascha Dickel/Anne Brünnighaus (Hrsg.), Personal Health Science. Persönliches Gesundheitswissen zwischen Selbstsorge und Bürgerforschung, Wiesbaden 2019.

  5. Vgl. Duttweiler et al. (Anm. 1).

  6. Vgl. Wiedemann (Anm. 2).

  7. Vgl. Hagen Kühn, Healthismus. Eine Analyse der Präventionspolitik und Gesundheitsförderung in den USA, Berlin 1993.

  8. Vgl. Martin Lengwiler/Jeannette Madaráz, Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010.

  9. Vgl. Guy Paré/Chad Leaver/Claire Bourget, Diffusion of the Digital Health Self-Tracking Movement in Canada: Results of a National Survey, in: Journal of Medical Internet Research 5/2018, S. 579–594, hier S. 584.

  10. Vgl. dazu das bundesweit erste Forschungsprojekt zu PAYL-Tarifen "Big Data und Boni". Für die zentralen Ergebnisse siehe Externer Link: http://www.zugluft.de/ausgabe-2-2021.

  11. Vgl. Simon Schaup, Wir nennen es flexible Selbstkontrolle, in: Stefanie Duttweiler et al. (Anm. 1), S. 63–68.

  12. Vgl. Minna Ruckenstein/Natascha Dow Schüll, The Datafication of Health, in: Annual Review of Anthropology 1/2017, S. 261–278.

  13. Vgl. dazu das Forschungsprojekt "VALID" zu ethischen Aspekten digitaler Selbstvermessung. Für die zentralen Ergebnisse siehe Externer Link: http://www.zugluft.de/ausgabe-1-2021.

  14. Vgl. Mämecke (Anm. 3).

  15. Bettina Heintz, Wir leben im Zeitalter der Vergleichung. Perspektiven einer Soziologie des Vergleichs, in: Zeitschrift für Soziologie 5/2016, S. 305–323.

  16. Vgl. Valeska Cappel/Karoline Kappler, Plurality of Values in mHealth: Conventions and Ethical Dilemmas, in: Thomas Christian Bächle/Alina Wernick (Hrsg.), Futures of eHealth. Social, Ethical and Legal Challenges, Berlin 2019, S. 31–37.

  17. Vgl. David Beer, Metric Power, London 2016, S. 22.

  18. In Anlehnung an die Theorie der Kolonialisierung der Lebenswelt von Jürgen Habermas soll damit auf das Eindringen von (algorithmischen) Systemlogiken in die (private) Lebenswelt hingewiesen werden. Durch den Überhang zweckrationaler und quantifizierter Handlungsimperative werden wertrationale und qualitative Prozesse zurückgedrängt. Lebensbedingungen und -ziele werden nicht mehr ausgehandelt, sondern vermehrt durch "intelligente" Systeme vorgegeben. Dies kann zu Sinnverlust, Entfremdung oder Entsolidarisierung führen.

  19. Vgl. Btihay Ajana, Metric Culture. Ontologies of Self-Tracking Practices, London 2018.

  20. Vgl. Deutscher Ethikrat, Big Data und Gesundheit – Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung, Berlin 2018.

  21. Vgl. Stefan Selke, Rationale Diskriminierung. Neuordnung des Sozialen durch Lifelogging, in: Prävention. Zeitschrift für Gesundheitsförderung 3/2015, S. 69–73.

  22. Gerd Gigerenzer/Kirsten Schlegel-Matthies/Gert G. Wagner, Digitale Welt und Gesundheit. eHealth und mHealth – Chancen und Risiken der Digitalisierung im Gesundheitsbereich, hrsg. vom Sachverständigenrat für Verbraucherfragen, Berlin 2016.

  23. Vgl. Klaus Wiegerling/Reinhard Heil, Gesellschaftliche und ethische Folgen der digitalen Transformation des Gesundheitswesens, in: Robert Haring (Hrsg.), Gesundheit digital: Perspektiven zur Digitalisierung im Gesundheitswesen, Berlin 2019, S. 213–230, hier S. 225.

  24. Vgl. Stefan Selke, Technik als Trost. Verheißungen Künstlicher Intelligenz, Bielefeld 2023.

Lizenz

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ist Professor für Gesellschaftlichen Wandel und Forschungsprofessor für Transformative und Öffentliche Wissenschaft an der Hochschule Furtwangen.