Die Erwartungen hinsichtlich der Digitalisierung des Gesundheitswesens einschließlich der Pflege sind vielfältig.
Digitalisierung bedeutet mehr als nur die Transformation analoger Daten in eine digitalisierte Form und umfasst drei Stufen hin zu einer umfassenden digitalen Transformation:
Digitisierung (digitization): Bislang "analoge" Informationen werden in digitale Kommunikations- und Interaktionsbeziehungen überführt;
Digitalisierung (digitalization): Die Nutzung von digitalen Daten verändert den Interaktions- oder Arbeitsprozess und somit auch Vorstellungen und Erwartungen der handelnden Akteur:innen in Bezug auf die Art des Zusammenwirkens in Gesundheits- und Pflegeprozessen;
Digitale Transformation (digital transformation): Die Umsetzung einer Digitalisierungsstrategie zielt auf die Nutzen- und Zielvorstellungen der beteiligten Akteur:innen, Organisationen und letztendlich der Gesellschaft insgesamt.
Das Gesundheitswesen eignet sich als vielfältiger Anwendungskontext von Digitalisierungsstrategien, da dort – aus der Natur der Interaktions- und Sorgebeziehungen heraus – unterschiedliche Informationsbeziehungen vorhanden sind und der Informationsaustausch für diagnostische, therapeutische und sonstige Betreuungsprozesse von hoher Relevanz ist.
Gerade die Erfahrungen aus der Covid-19-Pandemie haben die Erwartungen an eine digitalisierte Gesundheits- und Pflegeversorgung steigen lassen, gleichzeitig wurde die Bedeutung von öffentlicher Infrastruktur und institutionellen Regelungen für eine zielführende, resiliente Gesundheitsversorgung und die darin liegende Bedeutung von Dateninfrastrukturen deutlich.
Einsatzfelder von Digitalisierung
Für das Gesundheits- und Pflegewesen sollen vier Ansätze für den Einsatz von Digitalisierung betrachtet werden, die sich aus dem Zusammenspiel der Interaktionsbeziehungen und der Bedeutung der Datenanknüpfungspunkte, wie etwa elektronische Fallakten, ergeben.
eHealth (electronicHealth): Grundlage eines digitalisierten Gesundheitsnetzwerkes ist die Vernetzung und dadurch mögliche Automatisierung medizinisch-pflegerischer Dienstleistungsprozesse. Dies geschieht durch unterstützende Informations- und Dokumentationssysteme für Interaktionsbeziehungen, wie etwa elektronische Dokumentationssysteme oder die elektronische Patientenakte (ePA);
tHealth (teleHealth): Aufbauend auf eHealth-Systemen und Datennutzungsstrategien können Anwendungen und Organisationsmodelle zur telemedizinischen oder telepflegerischen Versorgung greifen, indem eine Vernetzung unterschiedlicher Orte und Datenquellen durch digitale Infrastrukturen und parallele Dienstleistungsmodelle erfolgt;
mHealth (mobileHealth): Patientenzentrierte Technologien, die Patient:innen befähigen, mit Gesundheitsdaten selbständig umzugehen und diese zu nutzen, lassen sich mit mHealth kennzeichnen. Exemplarisch dafür sind Gesundheitsapps;
pHealth (personalHealth): Als erweiternde oder auch verknüpfende Strategie sind KI-Ansätze zu bezeichnen, die aus der Nutzung sowohl strukturierter als auch zusehends unstrukturierter Daten ein "Lernen" aus diesen Daten im Sinne eines Big-Data-Ansatzes ermöglichen, um beispielsweise aus längsschnittlichen wie querschnittlichen Daten von Individuen und Rückkoppelungen an Referenzdaten Vorhersagen abzuleiten, etwa im Sinne personalisierter Medizin. pHealth kann somit gerade mit mHealth – etwa Wearables – verknüpft werden, um einen Ansatzpunkt für eine personenbezogene, längsschnittliche Datenerhebung zu erlangen.
Allen Kategorien ist gemein, dass sie nicht auf eine rein technisch-digitale Umsetzung ausgelegt sind, sondern im Sinne einer digitalen Transformation Haltungen, Interessen und Anreize der Beteiligten sowie infrastrukturelle Aspekte der Datenanbindung integrieren müssen. Die Bedeutung des einbettenden Daten-Ökosystems leistet dabei für eine zielführende Umsetzung von Digitalisierung einen wesentlichen Beitrag.
eHealth: Vernetzungsplattform für Datenquellen
Die Vernetzung der Akteur:innen im Gesundheits- und Pflegewesen erfolgt in Deutschland über die sogenannte Telematikinfrastruktur (TI) als zentrale Plattform für digitale Anwendungen und bildet die Grundstruktur für weitere Dienstleistungsangebote. Für Aufbau, Betrieb und Weiterentwicklung ist die gematik GmbH als nationale Agentur für digitale Medizin verantwortlich. Die TI soll alle Akteur:innen des Gesundheitswesens im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung vernetzen und für einen sektor- und systemübergreifenden sowie sicheren Informationsaustausch sorgen, unter anderem durch die verpflichtende Schaffung sogenannter Interoperabilitätsstandards. Auf dieses geschlossene Netz haben nur registrierte Nutzer:innen mit einem elektronischen Heilberufs- und Praxisausweis Zugang. Zur Stärkung der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen wurden in den vergangenen Jahren einige Gesetze zur stärkeren Vernetzung von Akteur:innen durch die TI verabschiedet.
Seit 2022 ist beispielsweise der Versand elektronischer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen verpflichtend, seit 2023 können auch Arbeitgeber:innen diese online abrufen. Die Nutzung des E-Rezepts für verschreibungspflichtige Medikamente ist seit 2024 verpflichtend. Die ePA wird 2024 jedoch von weniger als 1 Prozent der Patient:innen in Anspruch genommen.
Andere europäische Länder sind hier weiter. Ein wesentlicher Faktor liegt in der Verknüpfung von Datenquellen – etwa Versorgungseinrichtungen, Versorgungsdaten, Abrechnungsdaten – innerhalb eines übergeordneten und miteinander verbundenen Datenraumes. Mit dem European Health Data Space (EDHS) ist auch auf EU-Ebene ein sicherer Austausch von Gesundheitsdaten vorgesehen. Ziel ist es, den Datenaustausch in der gesamten EU zu vereinfachen, einen Binnenmarkt für elektronische Patientendatensysteme zu fördern und gesammelte Daten im Sinne einer Sekundärnutzung für Forschung, Innovation, Politikgestaltung und Regulierungstätigkeiten einzusetzen.
Dänemark beispielsweise verfolgt schon länger eine umfassende Digital-Health-Strategie, eingeordnet in eine Digitalisierung der gesamten dänischen Gesellschaft.
tHealth: Veränderung der Dienstleistungsproduktion
Exemplarisch für tHealth sind telemedizinische Leistungen, also die Versorgung über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg.
Auch auf EU-Ebene zeigen sich ähnliche Entwicklungen. So nahm die Zahl persönlicher Arztkontakte europaweit zwischen 2019 und 2020 um 20 Prozent ab, während sich Telekonsultationen von 11 auf 22 Prozent verdoppelten. In mindestens vier Ländern wurde das bisherige Verbot von Telekonsultationen aufgehoben und weitere Länder nahmen diese in die Kostenerstattung auf. Dänemark sticht bei diesen Beobachtungen heraus, da hier bereits vor der Pandemie Telekonsultationen einen hohen Anteil der Gesundheitsleistungen ausmachten.
Die digitalisierte Kommunikation erfordert die Nutzung gleicher Interoperabilitätsstandards. Als Standard für den elektronischen Austausch von Gesundheitsinformationen gilt das sogenannte Fast Healthcare Interoperability Resources (FHIR), bei dem eine modulare Struktur von "Ressourcen" genutzt wird, die grundlegende Bausteine für verschiedene Gesundheitsinformationen darstellen, etwa Patientendaten, Diagnosen, Behandlungen und Laborergebnisse. Diese können über standardisierte Schnittstellen ausgetauscht werden, was die Integration und Vernetzung von Systemen im Gesundheitswesen erleichtert.
mHealth:Patientenzentrierte Lösungen
mHealth umfasst Digitalisierungslösungen für Klient:innen oder Patient:innen, die durch die Anwendung von Apps oder Online-Anwendungen eine mobile und ortsunabhängige Nutzung digitalisierter Serviceleistungen in Anspruch nehmen können. mHealth muss damit auf einer Telematikinfrastruktur (eHealth) aufbauen, um einen kontinuierlichen Datenaustausch zu ermöglichen. Auch kann mHealth bewusst Teil einer telemedizinischen oder telepflegerischen Lösung sein. Gleichwohl wird der Bedeutung von App-gestützten Lösungen eine besondere Rolle zugesprochen. Mit dem 2019 in Kraft getretenen DVG sollte die Marktzulassung und Erstattung von sogenannten Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) beschleunigt werden. Bei DiGA handelt es sich um Apps oder Software zur Erkennung, Überwachung und Behandlung von Krankheiten. Reine Präventionsleistungen sind davon ausgeschlossen. DiGA müssen einen klar definierten medizinischen Nutzen haben, als Medizinprodukte zugelassen sein und einen hohen Datenschutz- und Datensicherheitsstandard erfüllen. Der gesamte Evidenzanspruch wird durch die Kontrolle auf sogenannte "positive Versorgungseffekte" überprüft.
Anknüpfend daran wurden 2021 Digitale Pflegeanwendungen (DiPA) eingeführt, die sich an Personen mit Pflegebedarf richten, unter anderem um Beeinträchtigungen der Selbständigkeit zu mindern oder einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit entgegenzuwirken. DiPA können ausschließlich im ambulanten Pflegesektor erstattet werden, nicht aber im stationären Umfeld. Auch werden sie nicht verschrieben, sondern die Kosten bis zu einem monatlichen Betrag von 50 Euro auf Antrag von der zuständigen Pflegekasse rückerstattet. Darüber hinausgehende Leistungen müssen selbst getragen werden.
Im europäischen Vergleich nutzen inzwischen einige Länder DiGA als Vorbild. Allen voran hat Frankreich 2023 als zweites Land ein ähnliches Modell entwickelt (PECAN). Auch hier wird für Anwendungen, die ohne abschließende klinische Evidenz die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen, die vorzeitige Kostenübernahme durch die Krankenkassen für ein Jahr ermöglicht. Innerhalb dieses Jahres ist die Evidenz anhand einer klinischen Studie nachzuweisen, die bei Antragstellung bereits laufen muss.
Belgiens Zugangsweg zu digitalen Gesundheitslösungen basiert auf der mHealthBelgium-Plattform, auf der alle Apps gesammelt werden, die CE-zertifiziert und in Belgien als Medizinprodukte zugelassen sind. Diese werden je nach Produktstand in drei Stufen mit wachsenden Anforderungen eingeteilt. Keine der 30 Apps auf der Plattform befindet sich derzeit auf Stufe 3, bei der nach Nachweis von Diagnose- oder Überwachungsfunktionalität sowie klinischer Wirksamkeit und gesundheitsökonomischer Effekte, zum Beispiel Verbesserungen im Versorgungsprozess, eine Finanzierung durch Krankenkassen erfolgt.
Entsprechende Nachahmungsmodelle für DiPA existieren auf europäischer Ebene bislang nicht. Mit Blick auf die gesundheitsökonomische und -politische Evidenzlage zeigen DiGA ein ambivalentes Ergebnis, insbesondere bei Fragen nach der langfristigen Wirksamkeit – gerade bei Anwendungen höherer Risikoklassen. Hier können Anpassungen und die Verknüpfung mit Real-World-Data für einen systematischen Wirkungs- und Outcomekontext förderlich wirken. Das DigiG sieht herfür eine verpflichtende anwendungsbegleitende Erfolgsmessung ab 2025 vor, um mehr Einblick in die langfristige Nutzung, Akzeptanz und Wirksamkeit zu erlangen.
pHealth: Systematische Datennutzung
Der Bereich der KI-gestützten Datennutzung erweitert und verknüpft die bisher genannten Anwendungskontexte. Mit Blick auf Medizin und Pflege sind zwei Ansatzpunkte von KI zu unterscheiden, nämlich erstens Anwendungsfelder maschinellen Lernens, in denen aus Daten Musterprädiktionen abgeleitet werden, die etwa Entscheidungen zu Diagnose, Therapie oder auch Pflegeplanung beeinflussen können.
Der Blick in die europäischen Gesundheitssysteme zeigt eine Vielzahl von Projekten und Einzelanwendungen KI-gestützter Systeme, etwa in der Diagnose und Therapie onkologischer Erkrankungen oder in der Dermatologie.
Studien zu KI in der Pflege verdeutlichen die Potenziale bei entscheidungsunterstützender Prädiktion, etwa von Pflegerisiken wie Sturz oder Dekubitus.
Für Forschungszwecke ist die Nutzung von erhobenen Versorgungsdaten wichtig, um sowohl innovative als auch bereits in der Regelversorgung verortete Therapien zu evaluieren und Behandlungsmöglichkeiten individuell abzuwägen.
Das im März 2024 in Kraft getretene deutsche Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) sieht daher eine zentrale Datenzugangs- und Koordinierungsstelle für die Nutzung von Gesundheitsdaten vor, bei der verschiedene Datenquellen zu Forschungszwecken miteinander verknüpft werden können, um den Zugang für die Forschung zu erleichtern. Der bereits angesprochene EHDS skaliert diese Bestrebungen auf die EU-Ebene und ermöglicht die Datennutzung über Ländergrenzen hinweg. Durch Opt-out-Regelungen soll die Freiwilligkeit der Datennutzung gewährleistet sein und jede:r die Hoheit über die eigenen Daten behalten.
Implikationen für die Gesundheitspolitik
Während andere Länder schon vor der Covid-19-Pandemie Gesundheits- und Pflegeprozesse erkennbar digitalisiert hatten, haben entsprechende Entwicklungen in Deutschland erst in den vergangenen Jahren an Fahrt aufgenommen. Gründe hierfür liegen weniger in technischen Aspekten, sondern auf organisatorischer und systemischer Seite, insbesondere aber auch an hohen datenschutzrechtlichen Bedenken.
Hier lohnt der Blick auf Studien, die sich mit dem Umsetzungsstand von Digitalisierungslösungen im Gesundheits- und Pflegebereich auseinandersetzen. Die Gesundheitswissenschaftler Saigí-Rubió et al. beispielsweise haben in einer Metastudie förderliche und hemmende Faktoren von telemedizinischen Lösungen in Europa untersucht.
In einer anderen Metastudie mit Fokus auf den Zusammenhang von Telemedizin und Gesundheitspolitik in den USA sehen Kruse et al. zum Beispiel solche telemedizinischen Lösungen als gesundheitspolitisch effektiv an, die den Zugang zu Gesundheits- oder Pflegeleistungen erleichtern und damit eine höhere Erreichbarkeit fördern, mit potenziell positiven Auswirkungen auf die Versorgungsqualität. Wesentliche Barrieren sind die Implementierungs- und Nutzungskosten von Telemedizin, gefolgt von Anfragen an die Gewährleistung der Patientensicherheit.
Sahni et al. sprechen diese Aspekte in einem jüngst veröffentlichten Papier zu ökonomischen Potenzialen von KI im Gesundheitswesen in ähnlicher Weise an. Um eine tragfähige Implementierung von KI-basierten Lösungen zu erreichen, braucht es den Autoren nach einen klugen Mix aus technologischen, vor allem aber sozialen und organisatorisch-ökonomischen Aspekten.
Vertrauensbildende Maßnahmen sind somit hoch relevant, sowohl im Sinne einer regulierenden Strategie auf der Makroebene etwa durch europäische Regulierungen wie den AI Act als auch in der konkreten Umsetzung dieser Strategien.
Schließlich muss aus einer ordnungspolitischen Sicht die Frage gestellt werden, mit welcher Begründung und mit welchen Ansätzen digitale Lösungen in der Gesundheits- und Pflegeversorgung zum Einsatz kommen sollen. Die gesundheitspolitischen Zielsetzungen sind auch Teil einer Diskussion darüber, wie etwa veränderte Versorgungsprozesse, insbesondere durch die Weiterentwicklung von KI, mit Umsetzungs- und Geschäftsmodellen im Gesundheits- und Sozialwesen integriert werden können. Damit verknüpft ist auch die Notwendigkeit, einen erweiterten Blick auf (neue) Abhängigkeiten von Daten und Datennutzung zu werfen, einschließlich heterogener und verzerrter Daten. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie sich soziale Infrastrukturen vor diesem Hintergrund weiterentwickeln sollen.