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Digital Public Health | Gesundheit und Digitalisierung | bpb.de

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Digital Public Health Ungenutzte Potenziale trotz Fortschritten in der Pandemie

Hajo Zeeb Iris Pigeot Benjamin Schüz

/ 14 Minuten zu lesen

Die Digitalisierung hat enormes Potenzial für den Bereich Public Health, befindet sich in Deutschland aber noch am Anfang. Neben der Bekämpfung der digitalen Chancenungleichheit spielen Falschinformationen in den sozialen Medien eine immer stärkere Rolle.

Die digitale Transformation ist schon lange ein Leitthema in der Entwicklung des Gesundheitswesens. So wurde bereits 2005 die Nationale Agentur für Digitale Medizin (Gematik) gegründet. Bis vor wenigen Jahren aber wurde die Frage vernachlässigt, wie sich Digitalisierung im Bereich Public Health, also der öffentlichen Gesundheitsvorsorge mit Fokus auf Prävention und Gesundheitsförderung, auswirkt und wie sie sinnvoll angewandt werden kann. Beschleunigt durch die Covid-19-Pandemie sind digitale Interventionen für Public Health mittlerweile von großer Bedeutung – sowohl die konkreten Potenziale als auch die Nachteile und Gefahren der Digitalisierung sind dabei kenntlicher geworden.

Public Health wird digital

Zu den wichtigsten Aufgaben von Public Health gehören die Überwachung von Krankheiten und die Beurteilung der Gesundheit der Bevölkerung, die Vorsorge und Planung für Notfälle, Gesundheitsschutz in Arbeit, Umwelt und Ernährung, Prävention und Gesundheitsförderung sowie eine Reihe unterstützender Funktionen einschließlich der Gesundheitskommunikation und der Public-Health-Forschung. Für all diese Bereiche birgt die Digitalisierung zum Teil umfassende Veränderungen und neue Möglichkeiten.

Große Fortschritte hat zum Beispiel die digitale Epidemiologie gemacht: Hier werden etwa Suchanfragen nach Krankheitssymptomen im Internet ausgewertet und als Frühwarnsystem genutzt oder mobile Daten von Nutzenden ausgewertet, wie bei der Erfassung des Mobilitätsgeschehens während der Covid-19-Pandemie. Die schnelle internetbasierte Durchführung von Gesundheitsbefragungen wird zunehmend allein oder als Ergänzung zu analogen Untersuchungen eingesetzt, um Gesundheitsgefahren oder neue Entwicklungen frühzeitig erkennen zu können. So wird die Datenbasis für Public Health agiler und umfassender, wobei sich gleichzeitig neue Fragen zur Qualität der Daten ergeben, insbesondere aufgrund der Nichtteilnahme bestimmter Gruppen an digitalen Studien.

Auch in der Notfallplanung und -vorsorge spielen digitale Technologien zunehmend eine Rolle, insbesondere durch Apps zur schnellen Informationsverbreitung. Hier ergeben sich neue Möglichkeiten der Interaktion, wenn Bürger:innen auch selbst Warnhinweise oder Informationen versenden; dies geschieht beispielsweise in Katastrophensituationen mittels informellen Messengergruppen. Es bringt allerdings verstärkt neue Bedrohungen durch Fehl- und Falschinformationen mit sich.

Auf die Prävention von Erkrankungen, die sich auf die Erkennung und Verminderung von Risikofaktoren oder die frühe Bestimmung von behandelbaren Symptomen konzentriert, hat die digitale Transformation besonders starke Auswirkungen: Das Angebot digitaler Anwendungen für die Unterstützung gesundheitsförderlicher Verhaltensweisen, allen voran Bewegung und Ernährung, ist riesig und entwickelt sich sehr dynamisch; für einzelne Bereiche wie etwa das Rauchen gibt es digitale Tools und Kursangebote, die bei der Erfüllung bestimmter Kriterien als sogenannte digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) von den gesetzlichen Krankenkassen gefördert werden.

Andere Apps bieten Informationen und Daten zum Beispiel über die Wohn- und Lebensumwelt an, unter anderem zur Lage von Grünflächen, zur Luftqualität oder zum aktuellen Index der Sonnenlichteinstrahlung. Diese Informationen können einerseits das individuelle gesundheitsförderliche Verhalten unterstützen, andererseits aber auch für die Gesundheitsplanung in ganzen Bevölkerungsgruppen eingesetzt werden. Insgesamt weist jedoch nur ein kleiner Anteil aller digitalen Angebote für Prävention und Gesundheitsförderung eine gute Qualitätssicherung auf oder orientiert sich an bestehenden Bedarfen – hier ist der Markt sehr schnelllebig und die Qualitätsanforderungen sind je nach Ausrichtung der digitalen Tools höchst unterschiedlich. Zurzeit liegen Bewertungskriterien vor allem in Form von Zulassungskriterien vor, die allerdings auch kurzfristige Wirksamkeitsnachweise akzeptieren. Die Zulassung von DiGAs erfordert lediglich eine allgemeine Wirksamkeitsprüfung (Also: Ist die Wirksamkeit besser als bei ausbleibender Intervention?) und keinen wissenschaftlichen Vergleich zu etablierten analogen Maßnahmen.

Digitale Gesundheitskompetenz

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Umgang mit digitalen Technologien für Gesundheit ist die Kompetenz, mit Gesundheitsinformationen angemessen umzugehen und digitale Technologien für die eigene Gesundheit und die Verbesserung der Lebensqualität nutzbar zu machen. Dazu gehört auch die Befähigung, Fehlinformationen zu erkennen und die Qualität von Apps und anderen digitalen Angeboten abschätzen zu können. Die hierfür notwendigen Fähigkeiten und Einflussfaktoren werden im Konzept der digitalen Gesundheitskompetenz gebündelt, das in neueren Definitionen auch die eigene Erstellung von Inhalten für digitale Kommunikation einschließt – diese kann allerdings auch in Fehl- und Falschinformationen resultieren, wenn kritische Kompetenz fehlt. Bürger:innen, aber auch Fachkräfte im Gesundheitssektor benötigen eine gute digitale Gesundheitskompetenz, um die Digitalisierung von Public Health und des Gesundheitswesens nicht nur passiv zu erleben, sondern aktiv mitzugestalten.

Jüngere Erhebungen haben auf großen Verbesserungsbedarf hingewiesen: So zeigte eine Untersuchung, dass etwa Dreiviertel der Bevölkerung nur eine geringe digitale Gesundheitskompetenz hat, ein Wert, der sich während der Corona-Pandemie etwas verringerte. Besondere Schwierigkeiten, so der Befund auch in vergleichbaren Untersuchungen, bestehen bei der Bewertung der Vertrauenswürdigkeit von gesundheitsbezogenen digitalen Informationen. Dies ist eng mit der sogenannten Infodemie verbunden, einem Überfluss von produzierten (Falsch-)Informationen, der eine entsprechende Bewertung erschwert und der auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als erhebliche Bedrohung eingestuft wird.

Für Public Health besteht daher eine wichtige aktuelle Aufgabe darin, zu einer Verbesserung der Gesundheitskompetenz sowohl der Bevölkerung als auch der Fachkräfte im Gesundheitswesen beizutragen. Letztere spielen eine wichtige Rolle bei der Verbreitung und angemessenen Anwendung digitaler Technologien und müssen daher selber entsprechend gut ausgebildet und kompetent sein.

Digitale Umgebung – entscheidend (nicht nur) für Public Health

Welchen Effekt hat die Digitalisierung auf die populationsbezogene Gesundheit? Die WHO hat zur Darstellung der Einflussgrößen ein Modell der sozialen Determinanten von Gesundheit entwickelt, das zwischen strukturellen Einflussgrößen und vermittelnden sozialen Einflussgrößen unterscheidet. Dieses Modell lässt sich auch auf den digitalen Kontext erweitern: Wichtig ist hier der breitere sozialpolitische Kontext, der wesentlich beeinflusst, aufgrund welcher Merkmale, Eigenschaften und Gruppenzugehörigkeiten Menschen einen konkreten sozialen Status einnehmen.

Solche Modelle werden auch "sozialökologisch" genannt, weil sie soziale mit umweltbezogenen Einflüssen auf mehreren Ebenen kombinieren, die sich von individuellen und sozialen Einflüssen über physische und institutionelle Umgebungsfaktoren bis hin zu ökonomisch-gesellschaftlichen Einflüssen auf höheren Ebenen anordnen lassen. Im sozialpolitischen Kontext spielen beispielsweise gesamtgesellschaftliche Einstellungen eine Rolle, die Zugang und Nutzung von digitalen Angeboten beeinflussen, etwa die hohe Priorität von Datenschutz und politische Aushandlungsprozesse um die digitale Patient:innenakte.

Auf der Ebene des Lebens- und Arbeitsumfeldes finden vermutlich die meisten gesundheitsrelevanten Interaktionen mit digitaler Technologie statt. Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen sind eher weniger gesundheitsförderlichen, digital gesteuerten Arbeitsabläufen ausgesetzt. Zusätzlich sind beispielsweise Glasfaserzugänge zum Internet ungleich verteilt und nur im Rahmen von (relativ) teuren langfristigen Verträgen möglich, was den Zugang zu digitalen Gesundheitsleistungen und -angeboten vor allem für sozial benachteiligte Menschen erschwert. Durch Maßnahmen zur Kostensenkung im Gesundheitswesen werden vermehrt digitale Assistenten gefördert, was die Zugangshürden erhöhen kann. Auch werden digitale soziale Netzwerke von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ungleich genutzt und setzen in Bezug auf Gesundheitsthemen digitale Gesundheitskompetenz voraus, die in Deutschland je nach Bildung, Alter und Einkommen stärker oder schwächer ausgeprägt ist.

Soziale Medien: Chancen und Risiken

Das sozialökologische Modell kann auch zeigen, wie kommerzielle Interessen auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit einwirken. Algorithmen in sozialen Medien maximieren die Verweildauer der Nutzer:innen durch eine Priorisierung emotional aufgeladener Inhalte, die sich allerdings oft in Falschinformationen finden. Nutzer:innen mit gering ausgeprägten digitalen Kompetenzen können dafür besonders anfällig sein.

Gleichzeitig sind vor allem jüngere Menschen in den sozialen Medien teilweise problematischen gesundheitsrelevanten Inhalten ausgesetzt, beispielsweise werden durch nicht deklarierte Produktplatzierungen in Beiträgen gesundheitsgefährdende Produkte wie Nikotinverdampfer auch gegenüber jüngeren Menschen beworben. Zusätzlich können bildbasierte soziale Medien unrealistische, unerreichbare und fragwürdige Schönheitsideale verbreiten, die mit einer Zunahme von Problemen bei der Körperwahrnehmung oder mit problematischer Ernährung assoziiert werden. Regulierungen auf nationaler und internationaler Ebene können diese Einflüsse durch Kennzeichnungspflichten und Löschungsvorgaben für bestimmte Inhalte mindern.

Ein großer Teil der Bevölkerung nimmt Nachrichten in digitaler Form wahr, viele jüngere Menschen informieren sich sogar fast ausschließlich über soziale Medien. Während die breite Nutzung von digitalen Geräten durchaus das Potenzial hat, Zugangsbarrieren zu evidenzbasierter Gesundheitsinformation zu verringern, können sich erhebliche Herausforderungen dadurch ergeben, dass (gesundheitliche) Falschinformationen kursieren und weiterverbreitet werden. Zwar geben nach wie vor viele Menschen an, gesundheitliche Informationen bevorzugt von Ärzt:innen zu beziehen, was sich auch im vergleichsweise hohen Vertrauen in diese Berufsgruppe niederschlägt. Vor allem für aktuelle Themen und Ereignisse verbreiten sich digital mediierte Inhalte jedoch schneller in der Bevölkerung und können zu Verunsicherung führen. Damit werden bevölkerungsbezogene Maßnahmen zum Gesundheitsschutz oder zu generellen Gesundheitsinformationen unterminiert, wie es etwa im Kontext der Covid-19-Pandemie zu beobachten war.

Nachrichten, die Angst machen oder vermeintliche Skandale aufdecken, halten Nutzer:innen länger auf den Plattformen und verlängern so auch die Zeit für Werbeeinspielungen – diese Informationen sind oft ungenau oder sogar falsch. In einer Überblicksarbeit haben wir untersucht, welche individuellen, sozialen und situationsbezogenen Faktoren sich darauf auswirken, ob Menschen Falschinformationen vertrauen. Fehlende (digitale) Gesundheits- und Medienkompetenz sind zentrale Einflussgrößen, aber auch motivationale Einflüsse sind relevant: Menschen glauben eher Informationen, die mit ihren Werten und Überzeugungen übereinstimmen, insbesondere wenn es sich dabei um die Überzeugung handelt, dass große Verschwörungen den Lauf der Dinge bestimmen. Wichtige soziale Faktoren in diesem Kontext sind einerseits das Vertrauen in die Quelle der Information oder die vermittelnde Person, andererseits das soziale Feedback: Nachrichten, die häufig geteilt werden, werden eher geglaubt. Sofern dies losgelöst von der Richtigkeit des Inhalts passiert, ist dies potenziell problematisch.

Allerdings sind selbst Personen, die viele Falschinformationen lesen, nicht zwingend von deren Richtigkeit überzeugt. Sie können sie aber weiterleiten, wenn sie im Ansatz den eigenen Überzeugungen entsprechen. Aufklärung über Falschinformationen hilft also nur bedingt, wenn es darum geht, das Teilen solcher Inhalte zu unterbinden. Hier sind eher soziale Prozesse wichtig. Neben erwarteten "Likes" oder "Shares", die ähnlich belohnend wirken wie "wirkliche" soziale Interaktionen, drücken das Weiterleiten oder "Liken" von Posts auch soziale Identität aus und können dazu dienen, dass die Nutzer:innen auf diese Weise entweder Gruppenzugehörigkeiten signalisieren oder sich von bestimmten anderen Gruppen abgrenzen.

Maßnahmen, die gezielt in solche sozialen Prozesse eingreifen und zum Beispiel neben der Information, dass ein Post vermutlich Falschinformationen enthält, auch soziale Hinweise ansprechen, können dazu beitragen, dass Falschinformationen weniger häufig weitergeleitet werden. Um gesundheitsschädlichen Auswirkungen von Falschinformationen entgegenzuwirken, sind also Maßnahmen erforderlich, die zum einen Kompetenzen vermitteln, Falschinformationen zuverlässig zu erkennen und zuverlässige Informationen finden zu können, zum anderen aber auch verhindern, dass bestehende Falschinformationen weitergeleitet werden. Hier geht es eher um die Verhinderung von Kollateralschäden. Menschen, die von Falschinformationen bereits überzeugt sind, werden durch korrekte Informationen kaum von ihren Überzeugungen abkommen. Aber wenn die Übertragungswege von Falschinformationen reduziert werden, lässt sich verhindern, dass weitere Menschen diesen Inhalten ausgesetzt werden.

Öffentlicher Gesundheitsdienst im Fokus

Der öffentliche Gesundheitsdienst hat in der Covid-19-Pandemie zumindest für den Bereich Infektionen große Aufmerksamkeit erlangt, wobei auch der Digitalisierung eine wichtige Rolle zukam. Neue digitale Angebote wie die über 48 Millionen Mal heruntergeladene Corona-Warn-App des Robert Koch-Instituts wurden Teil des Alltags, täglich aktuelle Gesundheitsinformationen und das umfassende Infektionsmanagement der Gesundheitsämter trugen zur zunehmenden Sichtbarkeit bei. Eine unzureichende Digitalisierung der Prozesse, wie die Übermittlung von Infektionsfällen über Faxgeräte, wurde vielfach kritisiert. Dies spiegelt sich auch in der Selbsteinschätzung der Gesundheitsämter wider, bei der Ende 2021 überwiegend untere Entwicklungsstufen eines eigens entwickelten Reifegradschemas erreicht wurden. Eine verstärkte Digitalisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes wurde während der Pandemie von Bund und Ländern im "Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst" angestoßen und bleibt weiterhin eine dringliche Aufgabe.

Effektive digitale Prävention und Gesundheitsförderung

Die erwähnten sozialen Unterschiede in (digitaler) Gesundheitskompetenz zeigen sich auch in Zugängen, der Nutzung und Effektivität sowie dem Schutz der Privatsphäre in Bezug auf digitale Maßnahmen zu Prävention und Gesundheitsförderung (digital divide). An Ungleichheitsfaktoren spielen vor allem Bildung und Einkommen, aber auch Alter und Herkunft beziehungsweise Sprachfähigkeiten eine große Rolle.

Effektivere digitale Angebote für Prävention und Gesundheitsförderung müssen daher soziale Ungleichheit berücksichtigen, was allerdings nur selten systematisch geschieht. Im Leibniz-WissenschaftsCampus Digital Public Health Bremen wurde ein Rahmenkonzept entwickelt, aus dem Kriterien für die Entwicklung und Evaluation digitaler Maßnahmen zur Erfüllung der essenziellen Public-Health-Funktionen hervorgehen. Das Konzept umfasst in 182 Fragen insgesamt zwölf relevante Domänen (Abbildung). Um der raschen Weiterentwicklung des Feldes Rechnung zu tragen, wurde es als "lebendiges" Rahmenkonzept konzipiert, das unter Berücksichtigung von Open-Science-Prinzipien kontinuierlich überarbeitet wird.

Gleichzeitig gibt es für diese einzelnen Domänen weiter ausdifferenzierte Konzepte zur Erfassung und Bewertung, beispielsweise für die Beurteilung der ökologischen Bilanz von digitalen Interventionen oder für die systematische Beschreibung von unbeabsichtigten Wirkungen.

Entwicklungen und Verbesserungspotenziale

Während der Covid-19-Pandemie zeigte sich eindrücklich, dass bei Weitem nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, um durch eine Bündelung von Informationen evidenzbasierte Entscheidungen zum Wohle der Bevölkerung zu treffen. Ein großes Problem, das durch das jüngst verabschiedete Gesundheitsdatennutzungsgesetz nur partiell gelöst wird, besteht darin, dass es aufgrund der vorliegenden Gesetzeslage in Deutschland nicht möglich ist, verschiedene Datenquellen auf Einzelpersonenbasis für Forschungszwecke zu verknüpfen. Damit war es während der Pandemie nicht möglich, ein umfassendes Bild des Krankheitsgeschehens zu erstellen und entsprechende Maßnahmen abzuleiten.

Will man das gesamte Potenzial der digital zur Verfügung stehenden Daten effizient nutzen, ist die Vergabe eines sogenannten Unique Identifiers, also einer eindeutigen Identifikationsnummer für Bürger:innen, nötig. Dadurch können Daten nach erfolgter Prüfung des Forschungsanliegens rasch und datenschutzkonform auf Individualebene miteinander verknüpft werden. Wären also zum Beispiel die erforderlichen Daten zur erfolgten Impfung während der Pandemie erfasst worden, so ließen sich diese mithilfe des Unique Identifiers mit Abrechnungsdaten der Krankenkassen verknüpfen und auf diese Weise impfbedingte Post-Covid-Symptome untersuchen. Diese Möglichkeit wurde in Deutschland verpasst und damit der "datenbefreiten" Spekulation Tür und Tor geöffnet.

Um die in absehbarer Zeit zur Verfügung stehenden und wachsenden digitalen Datensätze zu beschreiben, zu analysieren und zu interpretieren, sind neue Methoden des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz (KI) erforderlich – nicht nur wegen der Menge, sondern auch wegen der Komplexität der Daten. Die Kombination aus verknüpften Datenquellen (Record Linkage) und der Anwendung von KI-Algorithmen bietet die Möglichkeit, genauere Prädikationsmodelle zu entwickeln und so etwa den Einfluss von Verhaltensänderungen auf das Erkrankungsrisiko anhand von hypothetischen Szenarien (sogenannten hypothetischen Interventionen) zu untersuchen.

Eine weitere attraktive Datenquelle, die unter Einsatz von KI zukünftig vermehrt zur Ableitung individualisierter Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung genutzt werden könnte, bieten sogenannte Sensordaten. So werden zurzeit neue Forschungsansätze der Zeitreihenanalyse von Langzeitdaten zu psychischer Gesundheit untersucht. Diese werden es ermöglichen, Zusammenhänge zwischen Verhaltensempfehlungen und dem tagesaktuellen psychischen Gesundheitszustand zu untersuchen.

Ein großes Potenzial für die Forschung zu Gesundheit und Public Health wird auch durch die Etablierung des Europäischen Raums für Gesundheitsdaten (European Health Data Space, EHDS) erwartet. Der EHDS befindet sich seit 2024 in der Umsetzung und hat das Ziel, grenzüberschreitend eine sichere Infrastruktur für Gesundheitsdaten, deren Auffindbarkeit und gemeinsame Nutzung zu schaffen. Dazu werden in den EU-Mitgliedsstaaten zentrale und teils dezentrale Datenzugangsstellen eingerichtet, die jeweils mit einer geschützten Datenverarbeitungsumgebung ausgestattet sind. Datenhaltende Einrichtungen wie Krebsregister oder Krankenkassen sollen in den jeweiligen Ländern verpflichtet werden, ihre Datensätze dort einzupflegen. Das bedeutet aber auch, dass die Daten auf streng abgestimmte Weise, also mit einem gemeinsamen sogenannten Metadatenschema, erfasst werden müssen, um eine möglichst große Interoperabilität zu erreichen, denn nur so können verschiedene Datenquellen problemlos zusammengespielt werden. Die Vorarbeiten hierzu umfassen zudem auch eine Harmonisierung der individuellen Gesundheitsdaten. Darüber hinaus muss bei der Nutzung grundsätzlich sichergestellt werden, dass die EU-Datenschutzgrundverordnung eingehalten wird. Eine weitere Herausforderung wird sein, dass die Menschen die maximale Kontrolle über ihre Daten behalten. Entsprechende Konzepte des "Opt-outs" und des Datenzugangs werden zurzeit diskutiert und erste Lösungen in Pilotprojekten entwickelt.

Der EHDS bietet die einmalige Chance, länderübergreifende Public-Health-Konzepte und gemeinsame Datenkörper zu entwickeln, was ohne eine Digitalisierung vorhandener und zukünftiger Gesundheitsdaten nicht möglich wäre. Allerdings ist sicher davon auszugehen, dass eine umfassende Lösung der oben beschriebenen Herausforderungen nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann.

Fazit

Die digitale Transformation verändert Public Health auf vielfältige Weise, steht aber trotz der Beschleunigung im Zuge der Covid-19-Pandemie noch am Anfang. Insbesondere die gesundheitliche Chancengerechtigkeit erstreckt sich auch auf die Digitalisierungswelle, und die bestehenden Ungleichheiten verschärfen sich möglicherweise weiter, da Bürger:innen Digitalisierung unterschiedlich akzeptieren und nutzen. Dies legt auch nahe, viel stärker auf partizipative Ansätze in der Weiterentwicklung digitaler Angebote in Prävention, Gesundheitsförderung und anderen Kernbereichen von Public Health zu setzen. Die hohe Dynamik insbesondere bei digitalen gesundheitlichen (Falsch-)Informationen ist eine neue Herausforderung. Erhöhte Gesundheitskompetenz bei allen Akteur:innen sowie gezielte Regulierungen von sozialen Plattformen sind Ansätze, um sich dieser Entwicklung zu stellen.

Für die Public-Health-Forschung bietet die Digitalisierung grundsätzlich verbesserte Möglichkeiten: Neue Daten können schneller und mit besserer Qualität für das Gesundheitsmonitoring, die Planung und die Bewertung von Public-Health-Maßnahmen eingesetzt werden. Allerdings sind hierfür in Deutschland und Europa noch etliche Barrieren zu überwinden, insbesondere in Bezug auf das zielgenaue Zusammenspiel unterschiedlicher Gesundheitsdaten. Das Ziel von Public Health bleibt, die Gesundheit und die gesundheitsbezogene Lebensqualität aller Bürger:innen zu sichern und zu verbessern. Die digitale Transformation wird hierbei ein wichtiger, aber auch schwieriger Prozess sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. World Health Organization, Strengthening Public Health Services and Capacity: An Action Plan for Europe, Kopenhagen 2012.

  2. Vgl. Dirk Brockmann, Digitale Epidemiologie, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2/2020, S. 166–175.

  3. Vgl. die Warnapp NINA des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe oder die japanische Warnapp NERV Disaster Prevention.

  4. Vgl. etwa die DiGA Smoke Free – Rauchen aufhören, Externer Link: https://diga.bfarm.de/de/verzeichnis/01909.

  5. Vgl. Lena Griebel et al., eHealth Literacy Research – Quo vadis?, in: Informatics for Health and Social Care 4/2018, S. 427–442.

  6. Vgl. Doris Schaeffer et al., Digitale Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. Ergebnisse des HLS-GER 2, in: Das Gesundheitswesen 4/2023, S. 323–331.

  7. Vgl. Neville Calleja et al., A Public Health Research Agenda for Managing Infodemics: Methods and Results of the First WHO Infodemiology Conference, in: Journal of Medical Internet Research (JMIR) Infodemiology 1/2021, e30979.

  8. Vgl. Tina Jahnel et al., The Digital Rainbow: Digital Determinants of Health Inequities, in: Digital Health 8/2022, Externer Link: https://doi.org/10.1177/20552076221129093.

  9. Vgl. Karina K. De Santis et al., Digitization and Health in Germany: Cross-sectional Nationwide Survey, in: JMIR Public Health Surveillance 11/2021, e32951.

  10. Vgl. Jahnel et al. (Anm. 8).

  11. Vgl. Antje Hebestreit/Elida Sina, Wirkungen digitaler Medien auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit Schwerpunkt auf dem Verzehr ungesunder Lebensmittel, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 3/2024, S. 292–299.

  12. Vgl. Benjamin Schüz/Christopher Jones, Falsch- und Desinformation in sozialen Medien: Ansätze zur Minimierung von Risiken in digitaler Kommunikation über Gesundheit, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 3/2024, S. 300–307.

  13. Vgl. Paul J. Eslinger et al., The Neuroscience of Social Feelings: Mechanisms of Adaptive Social Functioning, in: Neuroscience and Biobehavioral Reviews 9/2021, S. 592–620.

  14. Zum Beispiel: "Dieser Post enthält vermutlich Falschinformationen. Nur 0,5 Prozent der Nutzer, die ihn sahen, haben ihn gelikt oder weitergeleitet." Vgl. Christopher M. Jones et al., Impact of Social Reference Cues on Misinformation Sharing in Social Media: Series of Experimental Studies, in: Journal of Medical Internet Research 1/2023, e45583.

  15. Vgl. Torsten Eymann et al., Bericht zu den Ergebnissen der ersten Erhebungswelle zur Erfassung der digitalen Reife der deutschen Gesundheitsämter und anderer Institutionen des öffentlichen Gesundheitsdienstes, o.O. 2023.

  16. Vgl. Tilman Brand et al., Soziale Ungleichheit im Zusammenhang mit digitalen Gesundheitsanwendungen: Digitale Spaltungen in den Bereichen Zugang, Nutzung, Wirksamkeit und Privatsphäre, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 3/2024, S. 268–276.

  17. Vgl. Chen-Chia Pan et al., Developing and Assessing Digital Public Health Interventions: A Digital Public Health Framework (DigiPHrame), Bremen 2023; Tina Jahnel et al., Developing and Evaluating Digital Public Health Interventions: The Digital Public Health Framework (DigiPHrame), in: JMIR 1/2024, 54269 (i.E.).

  18. Vgl. Oliver Lange et al., Transparency Checklist for Carbon Footprint Calculations Applied Within a Systematic Review of Virtual Care Interventions, in: International Journal of Environmental Research and Public Health 12/2022, 7474; Chen-Chia Pan/Monika Urban/Benjamin Schüz, Unintended Consequences of Digital Behavior Change Interventions: A Social-Ecological Perspective, in: European Journal of Health Psychology, 2.7.2024, Externer Link: https://doi.org/10.1027/2512-8442/a000149.

  19. Vgl. Bundesgesetzblatt, Gesetz zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten, 25.3.2024, Externer Link: http://www.recht.bund.de/bgbl/1/2024/102/VO.html.

  20. Vgl. Tim Intemann et al., White Paper – Verbesserung des Record Linkage für die Gesundheitsforschung in Deutschland, Bremen u.a. 2023.

  21. Zum Einsatz von KI im Gesundheitssektor siehe den Beitrag von Jeanette Lorenz und Elisabeth Pachl in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  22. Vgl. Anita Schick et al., Novel Digital Methods for Gathering Intensive Time Series Data in Mental Health Research: Scoping Review of a Rapidly Evolving Field, in: Psychological Medicine 1/2023, S. 55–65.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autoren/-innen: Hajo Zeeb, Iris Pigeot, Benjamin Schüz für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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leitet die Abteilung Prävention und Evaluation am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS in Bremen und den Leibniz-WissenschaftsCampus Digital Public Health Bremen.

ist Direktorin des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS in Bremen. 2024 wurde sie in den ExpertInnenrat "Gesundheit & Resilienz" der Bundesregierung berufen.

ist Professor für Public Health am Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen und Abteilungsleiter des Bereichs Prävention und Gesundheitsförderung. Er ist Mitglied im Direktorium des Leibniz-WissenschaftsCampus Digital Public Health Bremen.