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Diagnose: "Männersprache"

Anatol Stefanowitsch

/ 6 Minuten zu lesen

Wenn wir über das Für und Wider des "Genderns" diskutieren, darf dabei nicht die zugrundeliegende Diagnose aus dem Blick geraten, die die Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch vor über 40 Jahren gestellt hat: Das Deutsche ist eine Männersprache. Der Mann ist der sprachliche Normalfall, auf den immer zurückgegriffen wird, wenn es nicht explizit und ausschließlich um Frauen geht – und oft sogar dort, wo das doch der Fall ist.

Deutlich zeigt sich das in der Gebrauchstradition des "generischen" Maskulinums, mit dem geschlechtlich gemischte Gruppen oder abstrakte Kategorien von Menschen sprachlich so dargestellt werden, als bestünden sie nur aus Männern: "Viele Studenten haben finanzielle Probleme." Manchmal betrifft das sogar unmissverständlich weiblich markierte Einzelpersonen: "Meine Tochter ist Student." Es zeigt sich aber auch an tief in der Grammatik versteckten Strukturen. Das Fragepronomen "wer", zum Beispiel, ist nicht nur sprachgeschichtlich in Analogie zum männlichen "er" entstanden, es verhält sich auch heute noch so, als beziehe es sich auf Männer. So beginnt ein Artikel in der "B.Z." vom 9. Februar 2003 mit der Frage: "Was spielt sich in den ersten Wochen im Bauch der Frau ab?", um dann zu erklären: "Wer schwanger ist, der ist nicht krank, er muss nur sorgfältiger mit seinem Körper umgehen."

Nun hat das Deutsche immerhin Mittel, um Frauen als solche zu benennen: "Viele Studentinnen", "Meine Tochter ist Studentin", "Eine Frau, die schwanger ist" und so weiter. Wollen wir dagegen auf die Nennung des Geschlechts verzichten oder über nonbinäre Personen sprechen, die sich mit den Kategorien Mann und Frau nicht identifizieren, geht das nur noch im Plural, wo wir aus einem Partizip oder Adjektiv abgeleitete Substantive verwenden können, zum Beispiel Studierende oder Schwangere. Im Singular funktioniert das nicht: Der Studierende ist männlich und die Studierende weiblich markiert. Für den Satz "Mein (nonbinäres) Kind ist …" fehlt eine entsprechende Form.

Es sind diese Diagnose und die fehlenden Hausmittel zu ihrer Behandlung, die betroffene, sprachaktivistisch engagierte und linguistisch forschende Menschen dazu inspiriert haben, innovative Therapien zu entwickeln. Die Vorschläge reichen dabei von orthografischen Neologismen mit Binnen-I (StudentIn), Unterstrich (Student_in) oder Gendersternchen (Student*in), bis hin zu tieferen Eingriffen in das Genussystem und die Wortbildung des Deutschen, etwa mit geschlechtsneutralen Nachsilben -x (dix Studierx) oder -y (das Studenty). Diese Lösungen müssen uns nicht auf Anhieb gefallen – sie widersprechen zwar nicht, wie oft behauptet, grundsätzlichen Regeln der deutschen Grammatik, aber sie kratzen an Sprachgewohnheiten von Menschen, in deren sprachlicher Sozialisation das Maskulinum der Normalfall war.

Aber das darf nicht dazu führen, dass die Diagnose wegdiskutiert wird, wie es etwa der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg versucht. Er zieht dabei die sogenannte Markiertheitstheorie heran, die unter anderem auf der Beobachtung beruht, dass bei Wortpaaren mit gegensätzlicher Bedeutung manchmal eines der Wörter als Oberbegriff für beide verwendet werden kann. So kann das Wort "Tag" den Zeitraum zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang bezeichnen und steht damit in Opposition zu "Nacht" als Zeitraum zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. "Tag" kann aber auch in der Bedeutung "0 bis 24 Uhr" verwendet werden und damit einen Zeitraum bezeichnen, der Tag und Nacht umfasst. In der Markiertheitstheorie wird das damit erklärt, dass das Wort "Tag" das Bedeutungsmerkmal ablegen könne, das es von "Nacht" unterscheide (hell vs. dunkel). So kann es dann den gesamten Zeitraum bezeichnen, der unter Einbeziehung dieses Merkmals in Tag (hell) und Nacht (dunkel) unterschieden würde. Genau so seien Maskulina wie "Student" in der Lage, das Merkmal "männlich" abzulegen und als geschlechtsneutrale Oberbegriffe für Maskulina und Feminina zu dienen.

Ob die Analogie zwischen "Tag" als Oberbegriff für "Tag und Nacht" und "Student" als Oberbegriff für "Student und Studentin" tatsächlich funktioniert, sei dahingestellt. Selbst, wenn wir sie akzeptieren, stellt sich ja die Frage, warum das Wort "Tag" als Oberbegriff dient und nicht das Wort "Nacht". Eine offensichtliche Erklärung wäre, dass der (helle) Tag für uns der Normalfall ist – die Zeit, in der die meisten gesellschaftlich und kulturell relevanten Aktivitäten stattfinden. Analog dazu ist es die männliche Form, die als Oberbegriff dient, weil der Mann der gesellschaftliche und kulturelle Normalfall ist. Damit aber sind wir wieder bei der Ausgangsdiagnose angelangt: Das Deutsche ist eine Männersprache. Das zeigt – jenseits aller sprachstrukturellen Überlegungen – im Übrigen auch die psychologische Forschung, die in einem Experiment nach dem anderen nachgewiesen hat, dass maskuline Personenbezeichnungen vorrangig (und oft ausschließlich) männlich interpretiert werden.

Auf die Selbstheilungskräfte des Deutschen zu bauen und zu hoffen, dass sich das Problem im Zuge eines natürlichen Sprachwandels von alleine löst, ist ebenfalls keine Option. Im Englischen, das man als heute weitgehend geschlechtsneutrales Vorbild heranziehen könnte, hat der Abbau der grammatischen Markierung von Geschlecht im Zuge eines allgemeineren Lautwandels 500 Jahre gebraucht – solange können Frauen und non-binäre Personen nicht warten. Davon abgesehen sind Sprachwandelprozesse keine Naturgesetze, es wäre also weitgehend Zufall, wenn das Deutsche denselben Weg gehen würde wie das Englische.

Zuweilen findet sich die Behauptung, die Diagnose selbst habe das Problem überhaupt erst verursacht – das Maskulinum habe ursprünglich eine generische Bedeutung gehabt und sei erst durch die verstärkte Verwendung weiblicher Formen zu seiner auf Männer beschränkten Bedeutung gekommen. Diesen Prozess, so das Argument, könnten wir umkehren, indem wir das Maskulinum als einzige Form verwenden. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass die konsequente Verwendung von Doppelformeln (Studentinnen und Studenten) die gesellschaftliche Akzeptanz des "generischen" Maskulinums leicht verringert, Die Interpretation von Maskulina als männlich findet sich aber auch in Sprachen wie dem Französischen, in denen das Maskulinum (noch) weitgehend unangefochtener Normalfall ist. Die männliche Bedeutung maskuliner Personenbezeichnungen ist nämlich nicht nur dort angelegt, wo sie generisch gebraucht werden, sondern auch dort, wo das nicht der Fall ist: der Mann vs. die Frau, der Sohn vs. die Tochter, der Mönch vs. die Nonne und so weiter.

Es hilft alles nichts: Die Diagnose vom Deutschen als Männersprache hat allen Versuchen widerstanden, sie zu bestreiten, und Hausmittel wie Partizipien und geschicktes Paraphrasieren können zwar Linderung verschaffen, bekämpfen aber nicht die Ursachen. Wenn wir ein geschlechtergerechteres Deutsch wollen, müssen sich unsere Hoffnungen auf die derzeit vorhandenen innovativen Therapievorschläge richten. Auch die sind keine Wundermittel – erste Forschungsergebnisse zeigen zum Beispiel, dass das Gendersternchen zwar (wie auch andere Formen des "Genderns") die mentale Repräsentation von Frauen erhöht, aber (noch?) nicht die von nonbinären Personen. Auf der Suche nach einer Lösung stehen wir also erst am Anfang. Die Aufgabe der Sprachwissenschaft ist dabei nicht, eigene Vorschläge zu machen. Wir können aber bestätigen, dass das Problem ein reales ist. Wir können die Wirkungsweise und Wirksamkeit bestehender Vorschläge untersuchen und auf der Grundlage linguistischer Modelle Ideen dazu beisteuern, wie neben neuen Formen auch die beabsichtigten Bedeutungen etabliert werden könnten. Wir können der romantisierenden Vorstellung begegnen, die Sprache der Vergangenheit sei natürlich gewachsen und deshalb unantastbar. Und wir können Ängsten begegnen, dass bewusste Eingriffe ins Sprachsystem zu dessen Kollaps führen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Luise Pusch, Das Deutsche als Männersprache – Diagnose und Therapievorschläge, in: Linguistische Berichte 69/1980, S. 59–74.

  2. Vgl. Lann Hornscheidt, feministische w_orte, Frankfurt/M. 2012, S. 293–302.

  3. Vgl. Thomas Kronschläger, Entgendern nach Phettberg, Braunschweig 2020.

  4. Vgl. Eugenio Coseriu, Einführung in die strukturelle Betrachtung des Wortschatzes, Darmstadt 1978, S. 237f.

  5. Ein Überblick dieser Studien findet sich in Helga Kotthoff/Damaris Nübling, Genderlinguistik, Tübingen 2018.

  6. Vgl. Juliane Schröter/Angelika Linke/Noah Bubenhofer, "Ich als Linguist" – Eine empirische Studie zur Einschätzung und Verwendung des generischen Maskulinums, in: Susanne Günthner/Dagmar Hüpper/Constanze Spieß, Genderlinguistik, Berlin 2012, S. 359–379.

  7. Vgl. Pascal Gygax et al., Generically Intended, but Specifically Interpreted: When Beauticians, Musicians, and Mechanics Are All Men, in: Language and Cognitive Processes 23/2008, S. 464–485.

  8. Vgl. Melissa Koch, Kognitive Effekte des generischen Maskulinums und genderneutraler Alternativen im Deutschen – eine empirische Untersuchung, Braunschweig 2021.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Anatol Stefanowitsch für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin.