Während meiner Studienzeit in England fragte mich ein Professor: "Stimmt es, dass ihr im Deutschen Angela Merkel immer ‚BundeskanzlerIN‘ nennt?" "Ja", antwortete ich. "Angela Merkel ist ‚BundeskanzlerIN‘. Helmut Kohl war Bundeskanzler." "Aber machen denn die Feministen gar nichts gegen diesen Sexismus in der Sprache?", fragte er erstaunt. Ich schaute verwirrt zurück. "Es ist doch sexistisch, wenn das Wort für Frauen, die einen Beruf ausüben, ein anderes ist!", sagte er. Ich atmete tief durch und erläuterte ihm die Geschichte der geschlechtergerechten Sprache in Deutschland, erklärte die Sache mit dem Plural, den Gender-Gaps und Gendersternchen und dass es vor allem um die Sichtbarmachung weiblicher Identität geht. Dass viele Menschen, wenn sie Berufsbezeichnungen hören, sofort das Bild eines Mannes im Kopf haben und dass wir weibliche Wortformen verwenden – gerade auch in Stellenausschreibungen –, um zu verdeutlichen, dass der Beruf auch von Frauen ausgeübt wird. "Und habt ihr dann auch ein Morphem für schwarze, schwule oder jüdische Menschen?" "Nein, natürlich nicht", antwortete ich. "Aber die Standardvorstellung ist doch die eines weißen, christlichen, heterosexuellen Mannes, wäre es dann nicht genauso wichtig, in einer Stellenausschreibung auch deutlich zu machen, dass es auch Juden, Schwarze und Schwule machen können? Wenn Frauen durch Morpheme sichtbar gemacht werden, warum dann nicht auch Juden?" "Weil das antisemitisch wäre", sagte ich, und noch bevor der Professor die nächste Frage stellen konnte, wusste ich, dass ich auf sie keine Antwort haben würde. "Wie kann es richtig sein, Weiblichkeit in jeder Berufsbezeichnung als Morphem anzuzeigen, wenn es falsch wäre, Religion, Hautfarbe, Orientierung, Gewicht oder eine Behinderung mit einem Morphem sichtbar zu machen?" In diesem Moment wurde mir schlagartig klar: Aus der englischen Perspektive ist das "Gendern", wie wir es in Deutschland betreiben, sexistisch, antiquiert und kein bisschen inklusiv.
Zwar hat das Englische, wie das Deutsche, die Möglichkeit, das weibliche Geschlecht sprachlich in Berufsbezeichnungen anzuzeigen. Diese ist aber nicht annähernd so weit verbreitet oder grammatikalisch verwurzelt, wie es im Deutschen der Fall ist. Der englische Gedanke ist schlicht und ergreifend dieser: Der Weg zur Gleichheit ist Gleichheit. Wenn wir wollen, dass Männer und Frauen gleich sind, dann müssen wir sie gleich behandeln, auch in der Sprache. Jede sprachliche Sichtbarmachung von Geschlecht hebt das Geschlecht hervor, weist auf Unterschiede hin, betont, dass eben dieses Geschlecht so wichtig ist, dass es in jeder Lebenslage erwähnt werden muss, und zementiert damit die Ungleichheit. Als deutsche Zeitschriften anfingen, statt von Schauspielern von Schauspielern und Schauspielerinnen, Schauspielenden, SchauspielerInnen, Schauspieler_innen und Schauspieler*innen zu schreiben, beschloss der "Guardian" – die englische Zeitung der progressiven feministischen Linken – nur noch das Wort actor zuzulassen und actress zu streichen. In ihren Stilrichtlinien erklären sie bis heute, dass actress, genau wie authoress, comedienne, manageress, lady doctor, male nurse und ähnliche Termini, aus einer Zeit kommt, in der Berufe größtenteils einem einzigen Geschlecht offenstanden (meistens dem männlichen). Und dass diese gegenderten Berufsbezeichnungen heute, wo die Berufe allen Geschlechtern offenstehen, nicht mehr verwendet werden sollten.
Die Maskulinität von generischen Berufsbezeichnungen wirft ein Henne-Ei-Problem auf: Sind die Berufsbezeichnungen inhärent männlich und brauchen daher eine parallele weibliche Form, oder sind sie inhärent generisch und wirken nur deswegen männlich, weil sie historisch nur von Männern ausgeführt werden durften? Aus englischer Perspektive ist Letzteres der Fall. Das Wort Prime Minister bezeichnet de facto für den Großteil der englischen Geschichte einen Mann, einfach schon deshalb, weil Frauen weder wählen noch gewählt werden durften. Die englische Lösung für dieses Problem ist es nicht, eine weibliche Form einzuführen, obwohl Prime Ministress durchaus ginge, sondern eine Frau zu wählen. Spätestens ab 1979, als Margaret Thatcher Premier wurde, wurde das Wort Prime Minister de facto generisch und wird mit jedem weiblichen PM immer generischer, wobei zur vollen Gleichheit noch einige Dutzend weibliche Prime Ministers fehlen.
Hätte Deutschland den angelsächsischen Weg der Geschlechtergerechtigkeit eingeschlagen, dann gäbe es heute Jugendliche, für die das Wort "Bundeskanzler" in erster Assoziation ein weibliches ist, weil dieses Amt zu ihren Lebzeiten vor allem von Angela Merkel ausgeführt wurde. Durch die Verwendung der beiden unterschiedlichen Wörter "Bundeskanzler" und "Bundeskanzlerin" haben wir uns um diesen Sprachwandel gebracht. Und das, obwohl wir durchaus an die Möglichkeit solchen Wandels glauben, weil wir sie an anderer Stelle bereits erfolgreich eingesetzt haben: Anstatt unverheiratete weibliche Menschen als "Fräulein" und nur verheiratete weibliche Menschen als "Frau" zu bezeichnen, haben wir das Wort "Frau" von der Bedeutungsebene "verheiratet" getrennt. Wer sich erst mal daran gewöhnt hat, eine Frau zu sein, möchte kein Fräulein mehr sein, und wer sich daran gewöhnt hat, dass das eigene Geschlecht in der Berufsbezeichnung nichts verloren hat, der möchte oft nicht gegendert werden, egal, wie gerecht es gemeint ist. Für mich war es jedes Mal befremdlich, wenn ich in Deutschland aus englischer Gewohnheit auf die Frage, was ich beruflich mache, antwortete, dass ich Student sei, und dann von meinem Gegenüber mit einem entschiedenen "StudentIN" verbessert wurde. Stimmt ja, dachte ich in solchen Momenten, in Deutschland bin ich ja nicht Student; in Deutschland bin ich Frau.
Das größte Problem für einen Englisch-Geschädigten wie mich ist aber, dass man diesem intuitiven Unbehagen auf keinen Fall Ausdruck verleihen sollte. Denn wenn man das tut, dann bekommt man sofort Applaus aus der ganz falschen Richtung. Nämlich meistens von Konservativen, die sich freuen, wenn eine junge Frau Schwierigkeiten mit dem Gendern hat, und dabei nicht begreifen, dass die Perspektive – die ja nur die englische ist – gar nicht weiter weg sein könnte von der des durchschnittlichen deutschen Gender-Gegners.
Was die Unsichtbarmachung von Geschlechtlichkeit betrifft, ist im englischsprachigen Raum zunehmend das Wort they in der Einzahl gebräuchlich. Bei einem Satz wie "the professor said they like the student" wird an keiner Stelle mehr angezeigt, welches Geschlecht die beteiligten Personen haben. Natürlich gibt es auch in Großbritannien die konservativen Sprachpfleger, die darauf bestehen, dass man doch ein Pluralwort nicht im Singular verwenden kann. Diese stehen allerdings auf sehr dünnem Eis, zum einen, weil diese generische Verwendung von they bis ins 18. Jahrhundert weit verbreitet war. Zum anderen, weil es schon seit Shakespeares Zeiten üblich ist, you sowohl für die zweite Person Plural (ihr) als auch für die zweite Person Singular (du) zu verwenden. Keiner käme heute mehr auf die Idee, "du" mit thou zu übersetzen, obwohl dies historisch die korrekte Form ist und you eigentlich "ihr" bedeutet.
Geschlechtergerechte Sprache wird im Deutschen zusätzlich dadurch erschwert, dass es Menschen gibt, die intersex sind, die also keine medizinisch eindeutig als männlich oder weiblich bestimmbaren Genitalien, Hormonhaushalte oder Chromosomensätze haben. Diese biologische Realität wird rechtlich mittlerweile anerkannt, und Formulierungen wie "Journalist (m/w/d)" sind in Stellenausschreibungen zum Standard geworden. Dennoch stellt sich früher oder später die Frage: Wie nennt man jemanden, der schauspielt und "divers" ist? Schauspielende scheitert spätestens am Artikel (der oder die?). Und wer glaubt, man könne in jeder Singularverwendung mehrere Artikel und einen Gender-Gap mitsprechen, der sollte das mal ausprobieren (Ein_e gute_r Schauspieler_in weiß, wie er/sie ihre/seine Zuschauer_innen unterhalten kann). Noch akrobatischer sind nur die geschlechtsneutralen Zusammenziehungen und x-Formen (Einx gutx Schauspiel-erx weiß, wie xier xiese Zuschauerx unterhalten kann). Auf Englisch ist ein Mensch, der schauspielt und divers ist, einfach actor und they. Actor lässt sich durch beliebig viele Geschlechteridentitäten erweitern, eben weil es diese nicht anzeigt. Die Sätze, die so entstehen, sind leicht zu verstehen: "A good actor knows how they can entertain their viewers."
Eine vergleichbare Lösung, die niemanden ausgrenzt, konnte ich für das Deutsche bis jetzt nicht finden. Stattdessen wurschtel ich mich durch, versuche niemanden zu verletzen, gendere an den Stellen, wo ich weiß, dass es Menschen wichtig ist, wechsele im Zweifelsfall ins Englische und hoffe, dass es niemand merkt. Ich glaube aber, dass wir in Sachen geschlechtergerechte Sprache früher oder später nach Großbritannien blicken werden. Denn für echte Gleichheit und die Inklusion geschlechtlicher Minderheiten meine ich im Vergleich zu erkennen, wer den besseren Lösungsansatz hat: They do.