2018 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Urteil "Confédération paysanne", dass Organismen, die mit Genomeditierungsverfahren erzeugt worden sind, dem Europäischen Gentechnikrecht unterliegen. Das Urteil hat eine Reformdebatte rund um die rechtliche Regulierung grüner Gentechnik zur Erzeugung neuer Pflanzensorten angestoßen. Die unterschiedlichen Reformvorschläge zeigen, wie umstritten das Thema weiterhin ist. Auch die Europäische Kommission hat sich im April 2021 zu der Frage geäußert, wodurch die Reformdiskussion politisch Fahrt aufgenommen hat.
Herkömmliche und zielgerichtete Mutagenese
Der Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft ist an sich keine neue Entwicklung. Bereits seit den 1920er Jahren werden gentechnische Verfahren eingesetzt, um neue Pflanzensorten mit bestimmten Eigenschaften zu erzeugen, wie zum Beispiel Toleranzen gegen klimatische Extrembedingungen (Trockenheit, Hitze, Kälte), höhere ernährungsphysiologische Qualität und neue Verarbeitungsmöglichkeiten. Hier werden die sogenannten herkömmlichen Mutageneseverfahren eingesetzt, mit denen die Rate genetischer Veränderungen durch chemische Substanzen oder Bestrahlung signifikant erhöht wird.
Demgegenüber bedeuten Genomeditierungsverfahren einen großen Entwicklungsschritt. Grundsätzlich umfassen solche Verfahren ein breites Feld an Anwendungsmöglichkeiten. In der aktuellen Reformdebatte geht es vor allem um den spezifischen Anwendungsfall der sogenannten zielgerichteten Mutagenese: Hier können einzelne Basenpaare im Genom einer Pflanze ausgetauscht, entfernt oder hinzugefügt werden. Entscheidender Unterschied zu den herkömmlichen Mutageneseverfahren ist, dass gezielt, also an einem vorher bestimmten Ort im Erbgut, Mutationen in unterschiedlichen Formen hervorgerufen werden können.
Seit dem Aufkommen von Genomeditierungsverfahren, vor allem des CRISPR/Cas9-Systems im Jahr 2012, wird intensiv diskutiert, ob mithilfe solcher "Genscheren" erzeugte Pflanzen den Regelungen des Europäischen Gentechnikrechts unterfallen.
Die Freisetzungsrichtlinie im Europäischen Gentechnikrecht
Herzstück des Europäischen Gentechnikrechts ist die Freisetzungsrichtlinie, die ein verpflichtendes behördliches Zulassungsverfahren für genetisch veränderte Organismen (GVO) festlegt, bevor sie in die Umwelt freigesetzt und auf den Markt gebracht werden dürfen. Ziel ist der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt im Sinne des Vorsorgeprinzips, das ein wichtiges Leitprinzip des europäischen Umweltrechts ist.
Die Freisetzungsrichtlinie legt den Anwendungsbereich des gesamten Europäischen Gentechnikrechts fest. Erstens definiert sie einen GVO als "Organismus (…), dessen genetisches Material so verändert worden ist, wie es auf natürliche Weise durch Kreuzen und/oder natürliche Rekombination nicht möglich ist". Zweitens bestimmt sie mithilfe sogenannter Positiv- und Negativlisten, welche Verfahren der genetischen Veränderung einen GVO erzeugen oder nicht. Hier gibt es eine sogenannte Mutageneseausnahme, durch die Organismen, die mit Mutageneseverfahren erzeugt worden sind, aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausgenommen werden. Bei Erlass der Freisetzungsrichtlinie 1990 wurden die herkömmlichen Mutageneseverfahren aus dem Anwendungsbereich ausgeklammert, da sie bereits damals seit Jahrzehnten standardmäßig in der Pflanzenzüchtung angewandt wurden und seit Langem als sicher galten.
Im Rahmen des Zulassungsverfahrens für GVO findet eine Risikobeurteilung (risk assessment) statt, bei der von Fall zu Fall etwaige direkte, indirekte, sofortige oder spätere schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und/oder die Umwelt ermittelt und evaluiert werden. Nach der europaweit geltenden Zulassung bestehen strenge Kennzeichnungs- und Monitoringpflichten. 18 der 27 EU-Mitgliedstaaten machen aktuell von der 2015 erlassenen Opt-out-Regelung Gebrauch und verbieten den Anbau von GVO auf ihrem Territorium.
Das EuGH-Urteil
Der EuGH entschied, dass durch Genomeditierungsverfahren erzeugte Organismen unter die Freisetzungsrichtlinie fallen und somit dem Zulassungsverfahren sowie Kennzeichnungs- und Monitoringpflichten unterliegen.
Hier kam es entscheidend auf die Auslegung des Begriffs an: "Mutagenese" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der zwar der naturwissenschaftlichen Fachterminologie entlehnt ist, deswegen aber nicht seine Qualität als Rechtsbegriff verliert. Versteht man unter "Mutagenese" die Erzeugung von Mutationen in einem Organismus und demzufolge als einen Oberbegriff, sind auch zielgerichtete Mutageneseverfahren zur künstlichen Erzeugung von Mutationen in einem Organismus umfasst. Der EuGH argumentierte jedoch mit dem Willen des Unionsgesetzgebers, vom Anwendungsbereich der Richtlinie nur diejenigen Mutageneseverfahren auszunehmen, die standardmäßig in der Pflanzenzüchtung angewandt werden.
Politische Bestrebungen für eine Neujustierung
Unmittelbar nach dem Urteil kam Kritik mit Blick auf seine Umsetzbarkeit auf: Pflanzen, die durch zielgerichtete Mutageneseverfahren erzeugt wurden, sind nicht von Pflanzen zu unterscheiden, die auf herkömmliche Mutageneseverfahren zurückgehen. Das stellt Behörden vor praktische Schwierigkeiten, entsprechende Produkte als "mit Gentechnik hergestellt" zu klassifizieren und zu kennzeichnen.
Mit Blick auf die Identifizier- und Nachverfolgbarkeit genomeditierter Pflanzen und daraus entwickelter Produkte sieht sie die Gefahr welthandelsrechtlicher Auseinandersetzungen, da wichtige Handelspartner solche Produkte weder regulieren noch kennzeichnen würden.
Entscheidend für eine mögliche Reform ist, dass die Kommission die unterschiedliche Regulierung von genetisch identischen Produkten infrage stellt: Sie kommt zu dem Schluss, dass den Organismen die gleichen Risiken anhaften – unabhängig davon, ob sie durch herkömmliche oder zielgerichtete Mutageneseverfahren oder sogenannte Cisgenese-Verfahren erzeugt worden sind.
Reformvorschläge im Überblick
Dieser wird sich einordnen in ein weites Spektrum an Regulierungsoptionen, die seit dem EuGH-Urteil diskutiert werden. Dabei lassen sich drei unterschiedliche Strömungen mit wachsendem Abstand zur aktuellen Rechtslage herauslesen.
Beibehaltung des geltenden Rechtsrahmens
Am einen Ende des Spektrums wird für die fortdauernde Anwendung des Europäischen Gentechnikrechts auf Erzeugnisse von Genomeditierungsverfahren plädiert. Hier unterscheiden sich die Argumentationsweisen: Einerseits wird das Erfordernis strenger Kontrolle betont, andererseits wird für einen flexibleren Umgang mit dem geltenden Recht geworben.
Für eine strikte Anwendung des gegenwärtigen Zulassungsverfahrens auf alle durch Genomeditierungsverfahren erzeugten Pflanzen sprechen sich vor allem Debattenteilnehmer aus, die wie der Verein Testbiotech kritisch gegenüber der Freisetzung und Inverkehrbringung von GVO eingestellt sind. Ihr Hauptargument ist, dass sich diese Verfahren hinsichtlich ihrer Risiken und potenziellen Auswirkungen wesentlich von konventionellen Mutageneseverfahren unterscheiden, weil sie ermöglichen, umfassender in das Erbgut einzugreifen als bisher.
Demgegenüber weisen einige Debattenteilnehmer auf die bereits bestehenden Instrumente der Freisetzungsrichtlinie hin, die ohne Änderung der Rechtslage ein vereinfachtes Zulassungsverfahren für genomeditierte Organismen ermöglichen.
Änderung des geltenden Rechtsrahmens
Eine Vielzahl der Kommentatoren fordert, Pflanzen, die mithilfe zielgerichteter Mutageneseverfahren produziert wurden, aus dem Anwendungsbereich der Freisetzungsrichtlinie herauszunehmen, da ihre Anwendbarkeit wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen sei.
Für die Herausnahme aus dem Anwendungsbereich des Europäischen Gentechnikrechts gibt es zwei Anknüpfungspunkte in der Freisetzungsrichtlinie: zum einen die GVO-Definition, zum anderen die sogenannte Negativliste (Anhang IA Teil 2) beziehungsweise der Ausnahmetatbestand (Anhang IB). Mit Blick auf die GVO-Definition sprechen sich einige Debattenteilnehmer wie die Group of Chief Scientific Advisors der Europäischen Kommission für einen Wechsel von der prozessbezogenen Auslegung – wie der EuGH sie bislang anwendet – hin zu einer produktbezogenen Auslegung aus.
Eine andere Möglichkeit wäre aus Sicht der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, zielgerichtete Mutageneseverfahren auf die sogenannte Negativliste zu setzen und von vorneherein nicht als Verfahren genetischer Modifikation einzuordnen, die die GVO-Definition umfasst.
Ein weiterer Diskussionsstrang dreht sich um den angemessenen Harmonisierungsgrad der Freisetzungsrichtlinie.
Schaffung eines neuen Rechtsrahmens
Am anderen Ende des Spektrums werden komplett neue Regulierungsansätze diskutiert, die allgemeiner Natur sind. Ein Vorschlag des Europäischen Ethikrats lautet, im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse auch die möglichen Auswirkungen eines GVO auf die Biodiversität und die Bodennutzung sowie seinen potenziellen Beitrag zur Ernährungssicherheit zu beachten.
Ferner gibt es detailliertere Ausarbeitungen zur Schaffung eines neuen Regelwerkes. Losgelöst von der geltenden Rechtslage wird eine dreistufige Regulierung vorgeschlagen, die sich nach der Reichweite der erzeugten genetischen Veränderung richtet: von der schlichten Notifizierung bei genomeditierten Organismen, die auch natürlich oder mit konventioneller Züchtung entstehen können (erste Stufe), über ein beschleunigtes Verfahren für Organismen mit artspezifischer genetischer Veränderung (zweite Stufe) bis zum klassischen Zulassungsverfahren mit Risikobewertung für Organismen, bei denen Artenbarrieren überschritten werden oder fremde DNA eingefügt wird (dritte Stufe).
Ausblick
Während in der EU sowohl aufseiten der Kommission als auch aufseiten der Mitgliedstaaten in den vergangenen Jahren eine kritische Haltung gegenüber grüner Gentechnik überwog, deutet sich nun ein Umdenken an. Dies lässt sich insbesondere aus den politischen Reformbestrebungen der Kommission im Hinblick auf Pflanzen sowie Lebens- und Futtermittel ableiten, die durch zielgerichtete Mutageneseverfahren und Cisgenese-Verfahren erzeugt worden sind. Insofern scheint eine Gleichbehandlung von zielgerichteten und herkömmlichen Mutageneseverfahren, wie sie der EuGH 2018 noch mit Blick auf das fehlende Erfahrungswissen abgelehnt hatte, im Rahmen des Möglichen zu liegen. Dies wird wiederum von einigen Kommentatoren entschieden kritisiert, die auf die durch CRISPR/Cas9 in einem größeren Umfang als bisher möglichen Veränderungen des Erbgutes verweisen, die ungewollte Effekte und damit einhergehende spezifische und neuartige Risiken nach sich ziehen könnten.
Wichtig für das Verständnis der Debatte ist, dass das geltende Recht weiterhin für davon abzugrenzende Anwendungsfälle von Genomeditierungsverfahren anwendbar bleibt: Wird Fremd-DNA in einen Organismus eingefügt, unterliegt dieser dem Zulassungsverfahren sowie den Kennzeichnungspflichten. Offen ist weiterhin, welche Regulierungsoption die Kommission anstrebt. Die Freisetzungsrichtlinie verfügt als stringentes Regelwerk bereits über Instrumente, um das Zulassungsverfahren zu vereinfachen, ohne den vorsorgebasierten Regulierungsgedanken zu vernachlässigen oder aufzugeben. Dabei bleibt die Beibehaltung eines hohen Schutzniveaus für die Umwelt und die menschliche Gesundheit bei der Freisetzung und Inverkehrbringung von GVO unerlässlich. Auch eine mögliche Reform sollte weiterhin vom gesellschaftlichen Diskurs und Konsens getragen werden.