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Ende des Schicksals? | Gentechnik | bpb.de

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Ende des Schicksals? Genomeditierung in der Medizin

Sigrid Graumann

/ 15 Minuten zu lesen

Genomeditierung ermöglicht viel zielgenauere, präzisere und effektivere gentechnische Veränderungen als bislang – auch an menschlichen Zellen. Aber welche Anwendungen der Gentechnik am Menschen sind aus naturwissenschaftlicher und ethischer Sicht überhaupt zu verantworten?

Anwendungen der Gentechnik in der Medizin – also Verfahren, mit denen Veränderungen des Erbguts, der DNA, vorgenommen werden können, sodass genetisch veränderte Zellen oder Lebewesen entstehen – sind vielfältig. So kommen mithilfe von gentechnisch veränderten Hefen, Bakterien oder Säugetierzellen hergestellte Medikamente und Impfstoffe ebenso zum Einsatz wie gentechnisch veränderte menschliche Körperzellen in der somatischen Gentherapie. Zumindest theoretisch ist es auch möglich, die Erbsubstanz von ganzen menschlichen Organismen zu verändern. Die damit eröffneten Möglichkeiten haben die Fantasie von Forscher*innen seit den Anfängen der Gentechnik beflügelt. Es wurde nicht nur der Sieg über Erbkrankheiten, sondern auch die genetische Verbesserung des Menschen für die Zukunft in Aussicht gestellt. Kritische Naturwissenschaftler*innen und interessierte Teile der Öffentlichkeit begegneten diesen Visionen überwiegend mit Skepsis und Ablehnung.

Für die Entwicklung eines klinischen Modells der somatischen Gentherapie war daher eine doppelte Abgrenzung entscheidend: Zum einen musste eine therapeutische Zielsetzung von Visionen der Menschenverbesserung abgegrenzt, zum anderen der Unterschied zwischen somatischer Gentherapie und Eingriffen in die menschliche Keimbahn hervorgehoben werden. Die somatische Gentherapie zielt lediglich auf Eingriffe in die DNA von spezifischen Körperzellen, die eine therapeutisch relevante Wirkung in den Zielgeweben im Körper der Patient*innen entfalten sollen. Bei einer Intervention in die Keimbahn, also einer Veränderung der DNA von Keimzellen – von Spermien, Eizellen und deren Vorläufern – oder von frühen menschlichen Embryonen, würden hingegen alle Zellen des entstehenden Organismus die genetische Veränderung tragen, auch die Keimzellen. Erwünschte und unerwünschte genetische Veränderungen könnten so an folgende Generationen vererbt werden. Mit dieser doppelten Abgrenzung konnte die somatische Gentherapie ethisch legitimiert werden, und ab den 1990er Jahren begannen die ersten klinischen Versuche.

In den ethischen Debatten rund um den Einsatz von Gentechnik in der Medizin setzte sich ein weitgehender internationaler Konsens durch, nachdem vererbbare Interventionen in das Genom von Menschen unzulässig sind. Das deutsche Embryonenschutzgesetz verbietet in Paragraf 5 die künstliche Veränderung menschlicher Keimbahnzellen, aus denen ein Kind entstehen soll. Dies ist keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Gesetzgebung: Alle Länder, in denen Regelungen für gentechnische Interventionen am Menschen erlassen wurden, sowie die von 30 Staaten ratifizierte Biomedizinkonvention des Europarats untersagen gentechnische Eingriffe, die auf die Veränderung des Erbmaterials von Nachkommen zielen. Dieser Konsens steht seit der Entdeckung der "Genschere" infrage.

Eingriffe in die Keimbahn

Die Wissenschaftlerinnen Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier haben 2014 in der Zeitschrift "Science" eine neue Methode zum Schneiden von DNA beschrieben. Mit dem neuen gentechnischen "Werkzeug" CRISPR/Cas9 können gezielt Gene verändert, Genabschnitte entfernt oder neue Genabschnitte eingefügt werden. Das Verfahren wird auch als "Genomeditierung" bezeichnet und wird heute schon in vielen Feldern wie der Pflanzen- und Tierzüchtung sowie in der somatischen Gentherapie eingesetzt. Aufgrund ihrer größeren Effektivität und Präzision im Vergleich zu klassischen Methoden der Gentechnik rückte die Genomeditierung auch die Möglichkeit von Eingriffen in die menschliche Keimbahn in den Bereich des Möglichen.

Rasch wurden die ersten Studien zunächst an nicht entwicklungsfähigen (China) und nicht für die Fortpflanzung bestimmten (Großbritannien) menschlichen Embryonen durchgeführt. Im März 2015 veröffentlichte eine Gruppe von Wissenschaftler*innen den Vorschlag für ein freiwilliges Moratorium für Keimbahneingriffe. Im April 2015 folgte der Vorschlag einer anderen Gruppe, Keimbahneingriffe nur für Forschungszwecke zu erlauben und auf den klinischen Einsatz vorerst zu verzichten. Dieser Position, die auch auf mehreren internationalen Spitzentreffen von Wissenschaftsakademien bestätigt wurde, schlossen sich in Deutschland unter anderem die Leopoldina und die Deutsche Forschungsgemeinschaft an.

2019 forderte der Deutsche Ethikrat in einer Stellungnahme ein internationales Moratorium für die klinische Anwendung von Eingriffen in die menschliche Keimbahn, um Raum für die ethische Diskussion und die Entwicklung internationaler Regulierung zu schaffen, und legte einen "Entscheidungsbaum" als Orientierung vor: Zunächst gehe es um die Frage, ob die menschliche Keimbahn "unantastbar" sei; dann darum, ob eine sinnvolle Zielsetzung für Keimbahneingriffe denkbar und die Forschung mit menschlichen Embryonen für die Genomeditierung zulässig sei; und schließlich – unter der Voraussetzung, dass ein hohes Niveau an Sicherheit und Wirksamkeit von Keimbahninterventionen erreicht wäre – um eine Diskussion der klinischen Anwendung, um Erbkrankheiten vorzubeugen, Krankheitsrisiken zu reduzieren und letztlich auch, um menschliche Eigenschaften zu verbessern.

Es folgten weitere Stellungnahmen, etwa von einer Gruppe kritischer Natur- und Sozialwissenschaftler*innen und Mitgliedern von Nichtregierungsorganisationen, die insbesondere eine Klarstellung der Ziele und Gefahren von Keimbahneingriffen anmahnte und ein Moratorium forderte, um einer globalen und inklusiven öffentlichen Diskussion Raum zu geben. Schließlich meldete sich 2021 der Europäische Ethikrat zu Genomeditierung in Pflanzen, Tieren und Menschen zu Wort und forderte ebenfalls eine öffentliche Diskussion mit Blick auf wirkungsvolle und institutionell abgesicherte internationale Regulierungen.

Die Stellungnahmen zeigen, dass vor allem die ethischen Fragen von Keimbahneingriffen am Menschen die internationale öffentliche Debatte dominieren. Die Dynamik der Forschung treibt den ethischen Diskurs an. Der weitgehende Konsens, dass vererbbare Keimbahneingriffe am Menschen generell nicht zu verantworten seien, der die internationale Gesetzgebung bislang prägte, scheint aufgekündigt zu sein.

Zum ethischen Rahmen medizinischer Forschung

Einige grundlegende ethische Bezugspunkte in den Debatten über Keimbahneingriffe am Menschen sind höchst strittig. So gehören etwa die Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen und die Rechte zukünftiger Personen und Generationen zu den umstrittensten Fragen der Bioethik. Viele grundlegende Fragen von Keimbahneingriffen können in Tierversuchen untersucht werden. Letztlich setzt die Entwicklung von klinischen Anwendungen aber "verbrauchende" Forschung mit menschlichen Embryonen voraus. Vor diesem Hintergrund steigt der Druck auf den Gesetzgeber, die Forschung mit menschlichen Embryonen für hochrangige Forschungsziele auch in Deutschland zuzulassen.

Für die ethische Beurteilung medizinischer Forschung mit Patient*innen und Proband*innen kann auf allgemein akzeptierte, international vereinbarte ethische Standards Bezug genommen werden. Diese sind in der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes von 1964 formuliert und werden beständig fortgeschrieben und weiterentwickelt. Als "oberstes Gebot" des Handelns von Ärzt*innen gilt in der Deklaration von Helsinki die Gesundheit von Patient*innen. Die in der klinischen Forschung Tätigen sind verpflichtet, die Gesundheit, das Wohlergehen und die Rechte von Patient*innen und Proband*innen zu schützen. Außerdem wird auf die sinnhafte und hochrangige Zielsetzung von Forschung abgestellt: "Medizinische Forschung am Menschen darf nur durchgeführt werden, wenn die Bedeutung des Ziels die Risiken und Belastungen für die Versuchsperson überwiegt." Dies gilt generell und auch, wenn die Versuchsperson ihre freie und informierte Einwilligung gegeben hat, die zum Schutz ihrer Rechte eingeholt werden muss.

Nun besteht bei Keimbahninterventionen das Problem, dass das Verfahren im Interesse zukünftiger Eltern erfolgt, die zwar ihre freiwillige und informierte Einwilligung erteilen, während von den Konsequenzen aber zukünftige Personen betroffen sind, nämlich das Kind und dessen Kinder, die selbst nicht einwilligen können. Mit Blick auf die grundsätzlichen ethischen Kontroversen rund um die Forschung mit menschlichen Embryonen und den Schutz der Rechte zukünftiger Personen stellt sich also die Frage: Können Keimbahneingriffe am Menschen überhaupt ein medizinisch sinnvolles und hochrangiges Ziel von Forschung darstellen?

Eine Frage der Alternativen

Verfahren der Genomeditierung der menschlichen Keimbahn setzen als ersten Schritt eine In-vitro-Fertilisation voraus, also eine Zeugung im Labor. Das bedeutet, dass Eizellen der Frau nach einer Hormonbehandlung entnommen und im Labor mit Samenzellen des Mannes befruchtet werden. An den befruchteten Eizellen oder frühen Embryonen würde dann die genetische Veränderung vorgenommen. Anschließend müsste über eine Präimplantationsdiagnostik eine Auswahl der erfolgreich veränderten Embryonen vorgenommen werden, die dann für die Herbeiführung der Schwangerschaft verwendet werden. Die zukünftigen Eltern sind also die Patient*innen der Kinderwunschbehandlung, die genetische Veränderung aber wird an einem Embryo vorgenommen, der zu ihrem Kind werden soll. Für die Einschätzung der Bedeutung der Zielsetzung ist unter anderem relevant, ob es dazu Alternativen gibt.

Für die klinische Anwendung werden drei Konstellationen diskutiert, die für eine erbliche Genomeditierung infrage kommen könnten: (1) monogene Erbkrankheiten, die auf die Mutation in einem einzigen Gen zurückgeführt werden, (2) multifaktorielle Erkrankungen, die durch das Zusammenspiel mehrerer Gene und Umweltfaktoren entstehen, aber auch (3) die Steigerung von nicht mit einer Krankheit assoziierten Eigenschaften von Menschen.

(1) Wenn bei einem autosomal-rezessiven Erbgang wie der Mukoviszidose beide Elternteile die Anlage für die Krankheit tragen, erben 25 Prozent der Embryonen zwei krankmachende Erbanlagen von ihren Eltern und sind von der Erkrankung betroffen. 75 Prozent der Kinder eines solchen Paares erben nur eine oder keine krankmachende Anlage und bekommen die Krankheit nicht. Wenn bei einer autosomal-dominant vererbten Krankheit wie der Chorea Huntington ein Elternteil Anlageträger*in ist, vererbt dieses Elternteil statistisch an die Hälfte der gemeinsamen Kinder das krankmachende Gen und damit die Krankheit. Die andere Hälfte der gemeinsamen Kinder wäre gesund. In all diesen Fällen ist die Präimplantationsdiagnostik, sofern sie ethisch akzeptiert wird, eine für das entstehende Kind risikofreie Alternative zur Genomeditierung, weil nach der In-vitro-Fertilisation nicht von der Krankheit betroffene Embryonen vorhanden sind, die für die Herbeiführung der Schwangerschaft ausgewählt werden. Fast alle Paare mit dem erhöhten Risiko, eine monogen bedingte Krankheit zu vererben, können also mithilfe einer Präimplantationsdiagnostik biologisch eigene, nicht von der Krankheit betroffene Kinder bekommen.

(2) Geht es um die "Korrektur" von Kandidatengenen etwa für den familiären Brustkrebs oder eine Alzheimer-Demenz, scheint eine Genomeditierung aufgrund der komplexen Krankheitsgenese, bei der mehrere Gene und Umweltfaktoren eine Rolle spielen, wenig realistisch zu sein. (3) Dies gilt umso mehr für nicht mit einer Krankheit assoziierte Eigenschaften des Menschen wie Sportlichkeit oder Musikalität, deren genetische Grundlagen noch gar nicht verstanden sind.

Rein wissenschaftlich gesehen, könnten Anwendungsszenarien Sinn ergeben, bei denen dem Embryo ein genetisches Merkmal mitgegeben werden soll, etwa Resistenz gegenüber einer multifaktoriellen Erkrankung, das beide Eltern nicht tragen und daher auch nicht vererben können. Dies war etwa der Fall der Experimente, die der Arzt He Jiankui 2018 in China durchgeführt hat. Er übertrug eine Gensequenz auf menschliche Embryonen, die zu einer HIV-Resistenz führen soll. Zwei Kinder sind aus diesen Experimenten hervorgegangen, von denen eines die genetische Veränderung für die HIV-Resistenz trägt – bei dem anderen hat der Eingriff offenbar nicht funktioniert. Aufgrund der Unkalkulierbarkeit der Risiken wurde dieser Menschenversuch weltweit als unverantwortlich verurteilt. Aber auch unabhängig davon, dass das Verfahren unausgereift ist, ist die Zielsetzung fragwürdig: Für die Prävention einer HIV-Erkrankung gibt es deutlich einfachere Wege. Und auch für darüber hinaus gehende Szenarien, die auf eine "Verbesserung" oder "Steigerung" von Eigenschaften ohne Krankheitsbezug im Interesse der Eltern und ohne Einwilligung des Kindes zielen, ist eine ethische Rechtfertigung generell kaum denkbar.

Keimbahneingriffe am Menschen mithilfe von CRISPR/Cas9 sind Verfahren der Reproduktionsmedizin zur Erfüllung des Kinderwunsches von Paaren, die eine erbliche Krankheit, deren Anlage sie selbst tragen, nicht an ihr Kind weitergeben oder ein Kind mit bestimmten Eigenschaften bekommen wollen, die sie selbst nicht haben. Bei der Beurteilung der "Bedeutung" solcher Zielsetzungen im Sinne der Deklaration von Helsinki muss berücksichtigt werden, dass es sich um die Erfüllung von "besonderen" Kinderwünschen handelt und nicht um die Heilung bereits existierender Patient*innen.

Bisweilen werden auch weitergehende Zielsetzungen diskutiert, wie die Bekämpfung von Erbkrankheiten auf Bevölkerungsebene, die allerdings mit der Deklaration von Helsinki überhaupt nur auf der Basis einer freiwilligen "vorausplanenden, verantwortlichen Elternschaft" denkbar wären. Das könnte aber leicht als Rollenerwartung an werdende Eltern verstanden werden, ihre Familienplanung nach einer "freiwilligen Eugenik" zu richten. Eltern dürfen aber nicht für etwaige Krankheiten und Krankheitsdispositionen ihrer Kinder verantwortlich gemacht werden. Außerdem wäre auch aus populationsgenetischer Sicht eine solche Zielsetzung wenig sinnvoll: Die genetischen Anlagen für rezessiv vererbte Erbkrankheiten werden meist unbemerkt weitergegeben, weil die Anlageträger*innen selbst gesund sind. Autosomal-dominante Erbkrankheiten sind zum größten Teil auf überraschend auftretende Neumutationen zurückzuführen. Außerdem ist die lange Generationenfolge des Menschen zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass einzelne Keimbahnveränderungen auf Bevölkerungsebene wenig Wirkung entfalten würden. Das gilt sowohl für erwünschte als auch für unerwünschte Konsequenzen und sollte berücksichtigt werden, wenn von der Verantwortung für künftige Generationen gesprochen wird.

Eine Frage der Risiken

Die ethische Beurteilung der klinischen Anwendungsszenarien von Keimbahneingriffen am Menschen ist nicht vollständig ohne die Berücksichtigung des Schädigungsrisikos für die betroffenen zukünftigen Personen. Unerwünschte Konsequenzen der Genomeditierung hängen vor allem mit Off-target-Effekten, On-target-Effekten und Mosaikbildungen zusammen. Von Off-target-Effekten wird gesprochen, wenn eine genetische Veränderung an einer anderen Stelle als der erwünschten bewirkt wird, bei On-target-Effekten wird eine unerwünschte Veränderung am Zielort bewirkt. Eine Mosaikbildung liegt vor, wenn nur ein Teil der Zellen eines Organismus die genetische Veränderung trägt, ein anderer Teil nicht. All diese unerwünschten Konsequenzen von Keimbahneingriffen können zu Schädigungen des Organismus führen. Bislang kommen diese unerwünschten Konsequenzen noch relativ häufig vor. An ihrer Minimierung wird zwar intensiv gearbeitet, aber es kann heute nur darüber spekuliert werden, wieweit das gelingen kann.

Generell gilt allerdings, dass die Anforderungen an die Risikominimierung bei Keimbahneingriffen am Menschen im Vergleich etwa mit Tierversuchen sehr viel höher sind. Eine Schädigung der zukünftigen Person und ihrer Nachkommen müsste weitestgehend ausgeschlossen werden können. Dabei ist auch zu bedenken, dass sich mögliche unerwünschte Konsequenzen in vollem Ausmaß erst im Laufe des Lebens der betroffenen Person zeigen würden.

Außerdem wissen wir heute, dass die Entwicklung eines Organismus mit all seinen Eigenschaften und Veranlagungen auf das äußerst komplexe Zusammenwirken von genetischen, umweltlichen, zellulären und extrazellulären Faktoren zurückzuführen ist. Die ursprüngliche Vorstellung, die Keimbahn enthalte eine Art Masterplan für die Entwicklung des Organismus, ist schon lange überholt. So gibt es vorgelagerte Prozesse, die Gene aktivieren oder deaktivieren, sowie nachgelagerte Prozesse, die abgelesene Gensequenzen sekundär modifizieren. Diese Prozesse dienen der Steuerung der Aktivität von Genen bei der Ausbildung von spezialisierten Zellen, Geweben und Organen im Laufe der Entwicklung des Organismus. Die Einschätzung der erwünschten und unerwünschten Konsequenzen von Keimbahneingriffen in dem sich entwickelnden Organismus kann sich angesichts dieser komplexen systemischen Wechselwirkungen kaum auf die Vorstellung einfacher Ursache-Wirkungszusammenhänge stützen. Das bedeutet letztlich, dass eine vollständige und sichere Prognose der Konsequenzen von Eingriffen in die menschliche Keimbahn für künftige Personen und deren Nachkommen mit großer Wahrscheinlichkeit auch zukünftig nicht möglich sein wird. Daher ist es aus ethischer Sicht fragwürdig, ob die Zielsetzung, die Kinderwünsche von Paaren zu erfüllen, die eine erbliche Krankheit, deren Anlage sie selbst tragen, nicht an ihr Kind weitergeben oder ein Kind mit bestimmten Eigenschaften bekommen wollen, die sie selbst nicht haben und für die es zudem meist weniger risikoreiche Alternativen gibt, rechtfertigen kann, zukünftige Kinder und deren Kinder ohne deren Zustimmung kaum kalkulierbaren Schädigungsrisiken auszusetzen.

Potenzial für die somatische Gentherapie

Die Weiterentwicklung der somatischen Gentherapie mithilfe der Genomeditierung stellt dagegen ein durchaus vielversprechendes Forschungsgebiet dar.

Die klassische somatische Gentherapie der 1990er Jahre folgt dem Konzept der "Genersatztherapie". Damit sollen monogene Erbkrankheiten, die auf ein fehlerhaftes Gen zurückzuführen sind, durch das Einfügen eines korrekten Gens geheilt werden. So wurde in den ersten klinischen Versuchen bei Kindern, denen ein für die Funktion des Immunsystems notwendiges Enzym fehlt, im Labor (ex vivo) ein intaktes Genkonstrukt in Blutstammzellen übertragen. Die Zellen werden vermehrt und per Infusion in den Körper zurückgebracht. Zunächst wurde von mehreren erfolgreichen Behandlungen berichtet, dann erkrankten einige der Kinder in der Folge an Leukämie. Retrovirale Vektoren ermöglichen zwar, das therapeutische Gen stabil ins Genom der Zielzelle "einzubauen", dies erfolgt allerdings ungezielt und kann die Funktion anderer Gene stören. Beim zweiten klinischen Ansatz der somatischen Gentherapie für monogene Stoffwechselerkrankungen wurde mit adenoviralen Vektoren gearbeitet. Diese sind von Erkältungsviren abgeleitet und dringen in die Zielzellen ein, ohne sich in deren Genom einzufügen. Ein dauerhafter therapeutischer Effekt kann damit nicht erzielt werden, und es muss eine große Menge veränderter Viren direkt in den Körper übertragen werden (in vivo), was extrem starke Immunantworten auslösen kann. Das war der Grund für den Tod des 18-jährigen Jesse Gelsinger infolge eines klinischen Versuchs 1999. Andere klassische somatische Gentherapieversuche zielen auf Krebserkrankungen, indem beispielsweise sogenannte Selbstmordgene in Tumorzellen eingeschleust werden oder das Immunsystem zur Bekämpfung von Krebszellen stimuliert wird. Das gemeinsame Ziel der unterschiedlichen Gentherapiestrategien ist, die Menge an Tumorzellen im Körper zu reduzieren.

Die Genomeditierung ermöglicht es, somatische Gentherapieansätze zu entwickeln, mit deren Hilfe Veränderungen der DNA gezielt an der gewünschten Stelle vorgenommen werden können. Sie hat damit das Potenzial, Defekte von Genen zu "korrigieren". Das veränderte Gen könnte in seiner natürlichen Umgebung sogar korrekt reguliert werden. Dieses Konzept geht weit über die Möglichkeiten einer "Genersatztherapie" hinaus. Es eröffnet ganz neue Möglichkeiten der Entwicklung von Gentherapien für monogene Erbkrankheiten, mit denen sich viele Probleme der klassischen somatischen Gentherapie lösen lassen könnten. Auch für Krebserkrankungen und Infektionskrankheiten können neue, innovative Therapieansätze entwickelt werden. Auch wenn in vielen Fällen noch zahlreiche Hürden vor einer klinischen Anwendung zu überwinden sind, haben wir es hier mit sinnvollen und realistischen Zielsetzungen zur Entwicklung innovativer Therapien für schwer kranke Patient*innen zu tun. Die für die ethische Rechtfertigung medizinischer Forschung mit Patient*innen und Proband*innen erforderliche hochrangige Zielsetzung ist damit gegeben. Off- und On-target-Effekte können auch bei diesen neuen Ansätzen ein Schädigungspotenzial für Patient*innen und Proband*innen bergen. Bei Ex-vivo-Strategien, bei denen die gentechnischen Eingriffe an Zellen im Labor vorgenommen werden, müssen Methoden entwickelt werden, solche Nebeneffekte zuverlässig erkennen und die Zellen aussortieren zu können, bevor sie in den Körper zurückgebracht werden. Schwieriger zu lösen sind die Probleme von In-vivo-Strategien, die in den relativ ineffizienten und nur teilweise gewebespezifischen gentechnischen Eingriffen im lebenden Organismus sowie in Immunreaktionen gegen die Editierungswerkzeuge bestehen.

Klinische Versuche sind dann ethisch gerechtfertigt, wenn sie der Gesundheit von Patient*innen dienen, die Gesundheitsrisiken für die Patient*innen und Proband*innen zuverlässig eingeschätzt werden können, deren freie und informierte Einwilligung vorliegt und die Bedeutung des Ziels die Risiken und Belastungen überwiegt. Aus den Rückschlägen der klassischen somatischen Gentherapie ist die Lehre zu ziehen, dass mit klinischen Versuchen erst dann begonnen werden sollte, wenn die Konzepte so weit ausgereift sind, dass diese Bedingungen erfüllt werden können. Grundsätzliche ethische Kontroversen über die Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen oder die Rechte zukünftiger Generationen betreffen die innovativen Ansätze der somatischen Gentherapie im Unterschied zu gentechnischen Eingriffen in die Keimbahn jedenfalls nicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Joshua Lederberg, Die biologische Zukunft des Menschen, in: Robert Jungk/Hans-Josef Mundt (Hrsg.), Der Mensch. Dokumentation des Ciba-Symposiums 1962 "Man and His Future", Frankfurt/M. 1988, S. 277–291.

  2. Vgl. Sigrid Graumann, Die somatische Gentherapie. Entwicklung und Anwendung aus ethischer Sicht, Tübingen 2000, S. 21–44.

  3. Vgl. Jennifer A. Doudna/Emmanuelle Charpentier, Genome Editing. The New Frontier of Genome Engineering with CRISPR-Cas9, in: Science 6213/2014, Externer Link: https://doi.org/10.1126/science.1258096.

  4. Vgl. Edward Lanphier et al., Don’t Edit the Human Germ Line, in: Nature 519/2015, S. 410f.

  5. Vgl. David Baltimore et al., A Prudent Path Forward for Genomic Engineering and Germline Gene Modification, in: Science 348/2015, S. 36ff.

  6. Vgl. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina et al., Chancen und Grenzen des genome editing, Berlin 2015.

  7. Vgl. Deutscher Ethikrat, Eingriffe in die menschliche Keimbahn, Berlin 2019.

  8. Vgl. Roberto Andorno et al., Geneva Statement on Heritable Human Genome Editing: The Need for Course Correction, in: Trends in Biotechnology 38/2020, S. 351–354.

  9. Vgl. European Group in Ethics in Science and New Technologies, Ethics of Genome Editing, Brüssel 2021.

  10. Vgl. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, Neubewertung des Schutzes von In-vitro-Embryonen in Deutschland, Halle/S. 2021.

  11. Die Ausnahmen betreffen zwei äußerst seltene Konstellationen. Im einen Fall wären beide Eltern von einer autosomal-rezessiv vererbbaren Krankheit betroffen, aber nicht so schwer erkrankt, sodass eine Elternschaft für sie infrage kommt. Dann wären beide Elternteile homozygot für die Erkrankung und hätten in allen Keimzellen jeweils zwei Kopien des krankmachenden Gens. Sie könnten keine gemeinsamen Kinder bekommen, die nicht an der Erbkrankheit erkrankt sind. Im zweiten Fall wäre ein Elternteil von einer autosomal-dominant vererbten Erkrankung betroffen, selbst homozygot für das die Krankheit verursachende Gen und könnte kein genetisch eigenes, nicht betroffenes Kind bekommen. Dies dürfte allerdings schon deshalb äußerst selten vorkommen, weil homozygote Betroffenheit bei den meisten autosomal-dominant vererbten Erkrankungen nicht mit dem Leben vereinbar ist oder sehr schwere Krankheitsverläufe mit sich bringt. Eine Ausnahme ist Chorea Huntington, wo homozygote Anlageträger*innen offenbar nicht zwingend stärker betroffen sind als heterozygote Anlageträger*innen. Beide Fallkonstellationen dürften so extrem selten vorkommen, dass schon allein deshalb infrage steht, ob die geforderte hohe Bedeutung des Forschungsziels angenommen werden kann.

  12. Vgl. Hille Haker, Eine Ethik der Elternschaft, in: Giovanni Maio/Tobias Eichinger/Claudia Bozzaro (Hrsg.), Kinderwunsch und Reproduktionsmedizin. Ethische Herausforderungen der technisierten Fortpflanzung, München 2013, S. 269–292.

  13. Dies gilt zumindest so lange kein Heterozygoten-Screening auf alle relevanten rezessiv vererbten Krankheiten durchgeführt wird. Dies ist für die Zukunft denkbar, aber mit großer Wahrscheinlichkeit zu aufwendig. Außerdem gilt auch dann, wenn auf diese Weise "Risikopaare" identifiziert werden, dass ihnen Präimplantationsdiagnostik angeboten werden könnte.

  14. Vgl. Steffen Albrecht/Harald König/Arnold Sauter, Genome Editing am Menschen, Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, TAB-Arbeitsbericht 191/2021, S. 68–71.

  15. Vgl. Richard Strohman, Epigenesis: The Missing Beat in Biotechnology?, in: Nature Biotechnology 12/1994, S. 156–164.

  16. Vgl. Jörn Walter/Nina Gasparoni, Themenbereich Epigenetik: von Zellidentitäten bis hin zu Krankheiten und Therapien, in: Boris Fehse et al. (Hrsg), Fünfter Gentechnologiebericht. Sachstand und Perspektiven für Forschung und Anwendung, Baden-Baden 2021, S. 93–113.

  17. Vgl. Boris Fehse/Ulrike Abramowski-Wock, Anwendung des Genome Editing in der somatischen Gentherapie, Wiesbaden 2021, S. 30–34.

  18. Vgl. Albrecht/König/Sauter (Anm. 14), S. 77f.

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ist Professorin für Ethik und Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe sowie Mitglied des Deutschen Ethikrats.
E-Mail Link: graumann@evh-bochum.de