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Vom Roten Kreuz bis zum Roten Kristall | Genfer Konventionen | bpb.de

Genfer Konventionen Editorial Kriege erfahren, Kriegsgewalt eindämmen Ein grausames Recht? Das humanitäre Völkerrecht zwischen Anspruch und Wirklichkeit Die Genfer Konventionen in der Praxis Vom Roten Kreuz bis zum Roten Kristall Wer kennt das humanitäre Völkerrecht?

Vom Roten Kreuz bis zum Roten Kristall Zur Rolle der Hilfsorganisationen in der Geschichte der Genfer Konventionen

Stefan Schomann

/ 17 Minuten zu lesen

Genfer Konvention und Rotes Kreuz sind untrennbar miteinander verbunden. Die Kluft zwischen dem Idealismus der Gründer und der militärischen Realität wurde jedoch schon früh offenbar. Diese Widersprüche zeigten sich auch in Kontroversen über das Schutzzeichen.

Im altehrwürdigen Rathaus zu Genf, der damals größten Stadt der Schweiz, wurde im August 1864 eine Konvention unterzeichnet, die zum Grundstein des modernen Völkerrechts und zur Initialzündung der weltweiten Rotkreuzbewegung werden sollte. Zwölf Staaten einigten sich damals auf diesen Kodex "zur Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen", weitere traten kurz darauf bei. Heute sind es fast zweihundert.

Nicht von ungefähr fiel dieses diplomatische Gipfeltreffen in eine Zeit, in der die Staaten Europas buchstäblich Schlag auf Schlag Kriege führten. In den beiden Jahrzehnten zwischen dem Krimkrieg (1853–1856) und dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) tobte eine ganze Serie mörderischer Waffengänge mit einigen der blutigsten Schlachten des 19. Jahrhunderts. Dazu gehörte auch die Schlacht von Solferino, bei der am 24. Juni 1859 im Zuge des zweiten italienischen Unabhängigkeitskrieges zwei große Heere südlich des Gardasees aufeinandertrafen: auf der einen Seite die Österreicher, auf der anderen das Königreich Sardinien-Piemont und die mit ihm verbündeten Franzosen. An die 40000 Soldaten fielen oder wurden schwer verwundet. Die medizinische Versorgung war desolat, weshalb auch nach der Schlacht noch viele ihren Verletzungen erlagen oder in der sommerlichen Hitze verdursteten.

Am Morgen danach traf der Genfer Kaufmann Henry Dunant im benachbarten Castiglione ein und erlebte die völlig unzureichende Versorgung der zu Tausenden herbeigeschafften Verwundeten. Er bemühte sich, die Hilfe besser zu organisieren und "gemeinsam mit einigen hiesigen Frauen die Ärzte notdürftig zu ersetzen". Drei Jahre später brachte er ein Buch über dieses "europäische Unglück" heraus: "Eine Erinnerung an Solferino". Darin rekapituliert er die Schlacht, schildert eindringlich seine Erfahrungen als Ersthelfer und plädiert als Konsequenz für "die Gründung von Hilfsgesellschaften für Verwundete" in Kriegszeiten. Auch müsse "eine internationale, rechtsverbindliche und allgemein hochgehaltene Übereinkunft" zum Schutz des medizinischen Personals getroffen werden. Die beiden Grundideen der Rotkreuzbewegung und der Genfer Konvention sind damit bereits festgehalten.

Das Buch wurde ein spektakulärer Erfolg, auch Herrscherhäuser und Regierungsvertreter in halb Europa bekundeten Interesse daran. In seiner Heimatstadt hatte Dunant mit vier weiteren angesehenen Bürgern – dem General Guillaume-Henri Dufour, dem Juristen und Philanthropen Gustave Moynier sowie den beiden Ärzten Louis Appia und Théodore Maunoir – ein Gremium gegründet, das bald als Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in die Geschichte eingehen sollte. Auf dessen Initiative hin kamen im Oktober 1863 Abgesandte von sechzehn Staaten sowie vier gemeinnützigen Organisationen in Genf zusammen und riefen das Rote Kreuz als ein "Hilfswerk für Verwundete" ins Leben, das von Europas Regierungen ermöglicht und von freiwilligen Helfern getragen werden sollte. Dies erforderte eine Kennzeichnung für Personen, Gegenstände und Gebäude, die in Kriegszeiten als neutral und unverletzlich angesehen werden sollten. Appia schlug für Sanitätskräfte eine weiße Binde am linken Arm vor, in Analogie zur weißen Parlamentärsflagge. Die Idee der Markierung mit einem Kreuz wird meist Dufour zugeschrieben, hatte der General doch schon bei der Entscheidung für das Schweizerkreuz als Landesflagge Pate gestanden.

In rascher Folge riefen die beteiligten Staaten nationale Rotkreuzgesellschaften ins Leben; die weltweit erste war im November 1863 der Württembergische Sanitätsverein. Bald gründeten sich innerhalb dieser föderalen Struktur auch Provinzial- und Kreisvereine, deren Formierung von oben gewünscht und von unten betrieben wurde, als eine Art staatstragende Bürgerinitiativen. Das Genfer Komitee sollte als Steuerungsgruppe für die Aktivitäten der assoziierten Staaten fungieren und das gemeinsame Werk weiterentwickeln. Schon wenige Monate später entsandte es zwei Delegierte in den Deutsch-Dänischen Krieg. Für August 1864 beraumte es schließlich eine Konferenz "aller zivilisierten Nationen" an, um einen "feierlichen Vertrag" zu schließen – die Genfer Konvention. Diesmal hatte die eidgenössische Regierung eingeladen, erneut entsandten sechzehn Staaten hochrangige Vertreter. Die Sitzungen verliefen vertrackt. Es wurde gefeilscht, gekungelt und geblufft. Verfahrensfragen nahmen mehr Raum ein als Inhalte. Wichtige Entscheidungen fielen eher auf den Fluren und in den Hotelsuiten als im Sitzungssaal. Kurzum, hier fand eine echte internationale Konferenz statt, die größte seit dem Wiener Kongress 1815.

Am 22. August besiegelten die Delegierten die Konvention. Sie bestand, auf schier alttestamentarische Art, aus zehn Punkten, wie sie denn auch in sieben Sitzungen erschaffen worden war. Ihre Sprache ist klar und gepflegt wie alle Verlautbarungen des Komitees jener Zeit, weit entfernt vom Funktionärskauderwelsch unserer Tage. Der Chirurg Ernst Julius Gurlt fasste ihren Kern wenig später so zusammen: "Der verwundete Feind ist kein Feind mehr, er steht unter dem Schutze des Völkerrechts, ebenso wie jeder, der ihm beizustehen berufen ist; die Feldlazarette sind unverletzliche, heilige Asyle."

Das Rote Kreuz und die Genfer Konvention bedingten einander, sie brachten sich gegenseitig zur Welt. Spätestens mit der Heranziehung freiwilliger und ziviler Hilfsgesellschaften war eine internationale Übereinkunft unabdingbar geworden. Zwar hatte es auch zuvor schon entsprechende Vereinbarungen gegeben, Gurlt listete im Rückblick auf die Kriege der vorausgegangenen 300 Jahre fast ebenso viele solcher Verträge auf. Die "Neutralität" der Lazarette war de facto häufig praktiziert worden, auch wenn das Wort nicht verwendet worden war. Doch diese Abkommen waren fast alle bilateral, bezogen sich auf das militärische Sanitätspersonal und galten nur für die Zeit des jeweiligen Konfliktes. 1864 aber wussten Europas Regierungen, dass im Ernstfall jeder gegen jeden kämpfen würde, also konnten sie derlei Fragen ebenso gut gemeinsam regeln – zumal sich gerade eine Atempause bot, ein kurzes Intermezzo des Friedens. Die jüngeren Kriege hatten Opfer in einem bis dahin nicht gekannten Maß gefordert, zum einen infolge immer zerstörerischer Technologien, zum anderen infolge von Seuchen und Krankheiten. Als Konsequenz schien eine Ausweitung der medizinischen Versorgung über die militärische Sphäre hinaus unumgänglich.

Spione oder Samariter?

Als Träger der Konvention erhielt das Rote Kreuz völkerrechtlich den Status eines "Rechtssubjektes", der es den Staaten wenn auch nicht gleichstellte, so doch in seinem besonderen Betätigungsfeld ebenbürtig machte. Fortan sollte und wollte das Internationale Komitee zum Garanten des Genfer Abkommens werden. Manche Regierungen standen ihm skeptisch bis ablehnend gegenüber, weil etwa die Militärs eine Beschneidung ihrer Befugnisse befürchteten oder gar Spionage durch Zivilpersonen. Ihre Befürworter priesen es hingegen als zivilisatorische Errungenschaft. Preußen tat sich dabei besonders hervor. Im Frühjahr 1866 ersuchte das Central-Comité des dortigen Hilfsvereins Gustave Moynier, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um "zum Beispiel Österreich" zum Beitritt zur Konvention zu bewegen: "Wir könnten leicht in die Lage kommen, die großartigen Ideen des internationalen Vereins in Ausführung zu bringen." Das war nichts Geringeres als die Ankündigung eines Krieges, verpackt in die Rhetorik diplomatischer Korrespondenz. Mit Ausbruch des Deutschen Krieges 1866 verkündete Preußen dann, dass es die Genfer Beschlüsse ungeachtet des gegnerischen Desinteresses einzuhalten beabsichtige. Egal, wie der Krieg ausgehen würde, die Schlacht um Europas öffentliche Meinung hatte Preußen mit diesem Bekenntnis zum fair play bereits halb gewonnen.

Bayern trat der Konvention noch während des Krieges bei, Österreich nach der Niederlage von Königgrätz. Zur Siegesfeier in Berlin war auch Henry Dunant geladen. "Es herrschte ein wahrer Dunant-Kult", befand Martin Gumpert, einer seiner frühen Biografen. "Es schien, als wäre der Krieg gegen Österreich eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu Ehren der Konvention gewesen."

In Italien, das sich mit Preußen verbündet hatte, wurden in der Folge nach deutschem Vorbild Sanitätsgeschwader und regionale Komitees gegründet. Appia sorgte für politische Verwicklungen, als er Guiseppe Garibaldis Freischärler begleitete. Durfte das Rote Kreuz auch dann aktiv werden, wenn die Kämpfer keiner regulären Streitmacht angehörten, etwa einer Befreiungsbewegung oder einer Fraktion in einem Bürgerkrieg? Diese Frage würde das IKRK über hundert Jahre hinweg beschäftigen; erst 1977 sollte ein Zusatzprotokoll zur Konvention auch irregulären Streitkräften unter bestimmten Voraussetzungen einen Schutzstatus zusprechen.

Bis 1868 hatten fast alle europäischen Staaten das Abkommen unterzeichnet. Im selben Jahr rief in Konstantinopel der aus Wien stammende Arzt Karl Eduard Hammerschmidt, dort bekannt als Abdullah Bey, die nationale Hilfsgesellschaft des Osmanischen Reiches ins Leben. Sie nahm zunächst noch unter dem Zeichen des Roten Kreuzes ihre Arbeit auf. Das Osmanische Reich hatte die Genfer Konvention bereits drei Jahre zuvor ratifiziert, und trotz mannigfacher Widrigkeiten zählte auch die türkische Hilfsgesellschaft noch zu den frühesten weltweit. Für die Rotkreuzbewegung hatte Hammerschmidt damit gleich zwei neue Kontinente geöffnet, Asien und Afrika. Wie Moynier stolz hochrechnete, stünden nun im Ernstfall 200 Millionen Seelen unter dem Schutz der Konvention.

Einmal im Monat trafen sich die Mitglieder des Vereins in der Hofapotheke in Beşiktaş. Unter den anfangs 54 Vereinsangehörigen waren zehn Frauen – ein für diese Zeit und Region erstaunlicher Anteil. Der frühe Elan erlosch indes bald, für die folgenden Jahre finden sich weder ein Schriftwechsel mit Genf noch andere Spuren von Aktivitäten. Bis im Juni 1876 der Krieg um die serbische Unabhängigkeit entbrannte. Einer der ersten Schritte auf dem Weg zur Souveränität war die Gründung des Serbischen Roten Kreuzes, das wenig später berichtete, sein Personal werde häufig gezielt unter Beschuss genommen. Die türkischen Soldaten fassten das Kreuz als ein religiöses Symbol, ja nachgerade als Provokation auf. Im historischen Gedächtnis der Osmanen war noch präsent, dass die abendländischen Kreuzritter einst ein rotes Kreuz auf der rechten Schulter trugen, dem sie auch ihren Namen verdankten.

Im August erhielt Moynier ein Schreiben zur Neukonstitution einer Osmanischen Hilfsgesellschaft für verwundete Soldaten. Vorsichtig, aber bestimmt fragte diese an, ob es ihr freistünde, "das Symbol abzuwandeln und das Kreuz beispielsweise durch den Halbmond zu ersetzen?" Drei Monate später erhielt die schweizerische Regierung als Depositarin der Konvention ein Schreiben der Hohen Pforte, in dem diese mitteilte, dass man das Schutzzeichen ändern müsse. Die Tätigkeit der Hilfsgesellschaft werde blockiert "durch den Charakter des Kennzeichens der Genfer Konvention, das die Empfindungen der muslimischen Soldaten verletzt". Man werde die Arbeit weiterführen, "dabei jedoch das Kreuz durch den Halbmond ersetzen".

Dieses eigenmächtige Ausscheren aus einem völkerrechtlichen Vertrag sorgte für erhebliche diplomatische Verstimmung. Das Internationale Komitee wie auch die europäischen Regierungen stießen an die Grenzen ihres Einflusses. Ohne eine Entscheidung abzuwarten, änderten die Türken noch während des Krieges das Erkennungszeichen, was vereinzelt dazu führte, dass nun serbische Truppen türkische Sanitätskräfte angriffen, da sie den Halbmond als Hoheitszeichen der Regierung ansahen. Bei der Gründung des Roten Kreuzes 1863 war eine religiöse Konnotation nicht beabsichtigt gewesen, sie hätte auch den Grundsätzen der Bewegung widersprochen. Das Zeichen wurde vielmehr als Hommage an die Schweiz als Gastgeberland und Wiege des Rotkreuzgedankens verstanden. Über die mittelalterliche Heraldik mögen jedoch unterschwellige Bezüge zur christlichen Symbolik bestehen, eidgenössische Truppen hatten das Kreuz schon früh als militärisches Feldzeichen genutzt.

Schließlich vereinbarten die Kriegsparteien eine vorübergehende Gültigkeit für die Dauer der Kampfhandlungen. Russland erkannte die Unantastbarkeit aller mit dem roten Halbmond versehenen Personen und Einrichtungen an, im Gegenzug erklärte die türkische Regierung die volle Respektierung des roten Kreuzes als Schutzzeichen der Gegenseite. Bis der Rote Halbmond sich jedoch dauerhaft als nationale Hilfsgesellschaft zu etablieren vermochte, bedurfte es mehrerer weiterer Anläufe.

Hilflose Helfer?

Noch einmal zurück in die Gründerjahre. Es erwies sich bald als Segen, dass das Komitee als höchste Instanz des Roten Kreuzes seinen Sitz in Genf hatte und nicht etwa in Paris oder Berlin, es hätte sonst den Krieg von 1870/71 nicht überstanden. So aber geriet dieser Krieg zum ersten, in dem beide Parteien die Konvention anerkannten, und auch zum ersten, in dem Rotkreuzgesellschaften neutraler Staaten Hilfe sandten. Das deutsche Zentralkomitee ließ 80000 Broschüren mit Erläuterungen zur Konvention verteilen, für alle Fälle zweisprachig, ein Katechismus für die Kämpfer. Dennoch kam es im Zuge der Gefechte zu mancherlei Konfusion, und durch nachfolgende Reibereien nahm der Ruf der Konvention zusätzlich Schaden, sodass mehrere Regierungen ihren Austritt erwogen. Den einen ging das "Genfer Recht" zu weit, den anderen nicht weit genug. Zugleich setzten sich die Bezeichnung "Rotes Kreuz" und der damit verbundene Geist immer mehr durch. Auch außerhalb Europas entstanden neue Hilfsgesellschaften. Appia erreichte den Beitritt Ägyptens, der Schah von Persien ließ sich von Dunant überzeugen, und 1877 schloss sich auch Japan der Bewegung an. Nach Beginn des Salpeterkrieges 1879 traten die Kriegsparteien Bolivien, Chile und Peru bei, zwei Jahre später die Vereinigten Staaten.

Das IKRK wurde zunehmend als moralische Autorität gesehen, wozu vor allem Gustave Moyniers Integrität und rhetorische Überzeugungskraft beitrugen. Er selbst zeigte sich hingegen zunehmend enttäuscht über rücksichtslose nationale Politik und die beschränkten Möglichkeiten der Konvention. Sie bot keine Handhabe, Verstöße zu ahnden; sein Vorschlag eines Schiedsgerichtes wurde abgeschmettert. Dennoch wurde er, noch über die Genfer Abkommen hinaus, zu einem der Väter des modernen Völkerrechts, indem er mit seinen Ideen den Weg zur Haager Landkriegsordnung ebnete, woraus ein Jahrhundert später auch der Internationale Strafgerichtshof hervorging. Moyniers "Handbuch zu den Gesetzen des Landkrieges" bildete die wichtigste Grundlage für die beiden Konferenzen 1899 und 1907 in Den Haag, auf denen das nach der Stadt benannte Abkommen beschlossen wurde. Die Behandlung von Kriegsgefangenen nahm dabei breiten Raum ein. Der Postverkehr mit den Angehörigen und mit Hilfsorganisationen wurde ebenso festgelegt wie die Einrichtung einer nationalen Auskunftsstelle über Gefangene. So sollten die einheitliche Erfassung und Weiterleitung der für eine Identifizierung wichtigsten Informationen gewährleistet und ein respektvoller Umgang mit den Gefangenen ermöglicht werden.

Zur gleichen Zeit und durch diese Entwicklungen mit bedingt stand die Revision der Konvention an. Wieder wurde in Genf eine große Konferenz anberaumt. Es galt, vier Jahrzehnte Erfahrungen und teilweise auch Desillusionierungen in die Konvention einzuschreiben, die sich in Form neuer Klauseln, Definitionen und Protokolle niederschlugen. Parallel wirkte das Kriegsgeschehen jener Zeit auf die Überarbeitung ein. So war Großbritannien im Zweiten Burenkrieg (1899–1902) schwerer Verletzungen der Genfer Konvention wie auch der Haager Landkriegsordnung bezichtigt worden. Dagegen war der Russisch-Japanische Krieg (1904/05), so mörderisch er infolge gesteigerter Vernichtungstechnik auch verlief, nach Maßgabe der Konvention zu einem der bisher "regulärsten" Kriege geraten.

Nachdem er über Jahrzehnte hinweg in Vergessenheit geraten war, erinnerte man sich um die Jahrhundertwende an Henry Dunant, der geschäftlich wie gesellschaftlich Schiffbruch erlitten hatte und nervlich schwer zerrüttet war. Dennoch sah er sich stets als "Gründer des Roten Kreuzes und Urheber der Genfer Konvention" an. Mit dem Friedensnobelpreis 1901 fand er schließlich die ihm gebührende Anerkennung für seine Lebensleistung.

Ausgerechnet 1914 beging die Genfer Konvention ihr 50-jähriges Bestehen. Der Erste Weltkrieg erschütterte Europa in seinen Grundfesten. Neutrale Staaten wie die Schweiz und die skandinavischen Länder initiierten Hilfsprogramme in bisher ungekannten Größenordnungen, weil die Kämpfe bisher ungekannte Größenordnungen erreichten. Das Los der Kriegsgefangenen entwickelte sich aus Sicht des IKRK zum beherrschenden Thema. Die Wirklichkeit vieler Lager sprach sowohl dem Geist wie dem Buchstaben der Konvention Hohn. Es wurde offenkundig, dass die bisherigen Regelungen und die bisherige Praxis mit den realen Bedingungen dieser Epoche nicht mehr Schritt hielten. Und so wurde abermals eine Überarbeitung der Konvention ins Auge gefasst, die schließlich 1929 umgesetzt wurde. Neben der Behandlung der Gefangenen nahm ein Thema dabei erstaunlich breiten Raum ein: die Einheitlichkeit des Schutzzeichens, sprich des Roten Kreuzes, oder eben die Heranziehung etwaiger alternativer Symbole.

In Kriegszeiten darf das rote Kreuz auf weißem Grund in engen Grenzen auch von anderen Organisationen und Einrichtungen benutzt werden, sofern sie medizinische Hilfe leisten. Ansonsten bleibt es den Heeressanitätsdiensten sowie Militärseelsorgern vorbehalten und eben dem Roten Kreuz beziehungsweise dem Roten Halbmond. Die Modifikationen zogen jedoch eine Dauerkrise nach sich, in der die Geburtsfehler der Bewegung zutage traten. Die Gefahr der Verwässerung, der Beliebigkeit wuchs. Umgekehrt galt: Je einheitlicher der Auftritt, desto stärker war er. Körperschaften wie der Völkerbund oder die Olympische Bewegung machten es vor. Max Huber, der langjährige Präsident des IKRK, schrieb dazu 1930: "Nur die Einheit des Schutzzeichens kann seine Achtung auf internationaler Ebene gewährleisten."

Einheit in Uneinheitlichkeit?

Die meisten Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches und andere mehrheitlich islamische Länder hatten den Roten Halbmond übernommen. Dessen internationale Anerkennung als gleichberechtigtes Schutzsymbol erfolgte schließlich auf der Konferenz von 1929, mit der Begründung, dass dies als fait accompli bereits seit Jahrzehnten so gehandhabt worden sei. Parallel wurde auch der Rote Löwe mit der Roten Sonne für das damalige Persien kanonisiert. Der Libanon hingegen behielt das Rote Kreuz bis heute bei (wobei seine nationale Hilfsgesellschaft sich während des Bürgerkrieges prompt in verschiedene Lager mit verschiedenen Symbolen aufspaltete); einige wenige andere mehrheitlich muslimische Länder wie Mali und Indonesien entschieden sich später ebenfalls dafür.

Auch wenn die drohende Spaltung damit abgewendet werden konnte, so war die Zersplitterung der Bewegung in verschiedene politisch-religiöse Sphären doch augenfällig geworden. Viele hofften noch auf eine Rückkehr zu einem einheitlichen Zeichen, und sei es in Form eines dritten, übergeordneten Symbols, andere hofften auf weitere Ausnahmen. Durch die beiden Präzedenzfälle ermutigt, versuchten in der Folge einige Staaten, eigene Wahrzeichen zu etablieren. Das wohl kurioseste war das Rote Nashorn, mit dem der Sudan in die Unabhängigkeit eintrat, auch eine Rote Flamme, ein Rotes Lamm und eine Rote Swastika wurden zwischendurch beantragt, vom IKRK jedoch nicht anerkannt. Gleichwohl sahen die Hüter der Konvention die Notwendigkeit, zumindest ein weiteres Symbol zu etablieren, das gänzlich frei von religiösen und politischen Konnotationen sein sollte.

Neuen Konfliktstoff, aber vielleicht auch neue Lösungsmöglichkeiten, lieferte der Fall der Hilfsgesellschaft im Mandatsgebiet Palästina, die seit Anfang der 1930er Jahre einen Roten Davidstern führte, der nach Gründung des Staates Israel 1948 von dessen nationaler Hilfsgesellschaft übernommen wurde. Seine Anerkennung blieb lange prekär, ebenso die zwischenzeitlichen Anläufe anderer Staaten, eine Kombination aus Kreuz und Halbmond zu führen, die für sie zwar realpolitische Vorteile geboten hätte, aus Sicht des IKRK jedoch erst recht eine vermeintliche religiöse Bedeutung manifestiert hätte. Auch würden sie zweien der wichtigsten Grundsätze der Organisation, dem der Neutralität und der Universalität, offenkundig widersprechen. Erst 2005 einigten sich die Unterzeichnerstaaten der Konvention mehrheitlich auf den Roten Kristall als dritte offizielle Variante, ein abstraktes, rautenförmiges Symbol, in das jedoch, als typischer Ausdruck eines mühsam erreichten Kompromisses, weitere Symbole eingefügt werden können.

Im Laufe der nunmehr 160 Jahre seiner Geschichte hat sich immer wieder gezeigt, dass zwar das Internationale Komitee selbst die Konvention hoch und heilig hält, sie von den beteiligten Staaten jedoch je nach Bedarf interpretiert und als strategisches Instrument benutzt wird. Und während der universelle Geist in den Hintergrund tritt, gerät jede Hilfsgesellschaft zu einem getreuen Abbild der Verhältnisse ihres Landes. Die Politik und die jeweiligen Machtapparate ließen sich auch von noch so edler Humanität das Heft nicht aus der Hand nehmen. Der Zweite Weltkrieg machte dies in bestürzendem Maße offenbar.

Der Gedanke, dass in Kriegszeiten auch die Fürsorge für die Zivilbevölkerung zu den Aufgaben des Roten Kreuzes zählen könnte, fasste erst spät Fuß. Als 1934 die Internationale Rotkreuzkonferenz in Tokio entsprechende Entwürfe erarbeitete, wurden diese von etlichen Staaten blockiert und daher nie umgesetzt. Wobei die Bremser interessanterweise weniger unter den totalitären Regimen wie etwa in Deutschland, Italien oder dem Gastgeberland Japan zu finden waren, sondern vornehmlich unter den späteren Alliierten. Als besonders fatal erwies sich wenige Jahre darauf im Deutsch-Sowjetischen Krieg, dass sich beide Staaten nicht völkerrechtlich binden wollten – ein Grund, warum mehr als die Hälfte der über fünf Millionen sowjetischen Soldaten in deutschem Gewahrsam ums Leben kamen. Ihre Dezimierung war von Anfang an Programm. Aus dem gleichen Grund standen die über drei Millionen deutschen Gefangenen in der Sowjetunion nicht unter dem Schutz der Konvention, was rund ein Drittel von ihnen mit dem Leben bezahlen musste. Gegenüber den Westalliierten besaßen die Genfer und Haager Abkommen dagegen prinzipiell Geltung. Wenn sie auch längst nicht immer eingehalten wurden, gewährten sie den Gefangenen doch ein Mindestmaß an Sicherheit. Verglichen mit dem Vernichtungskrieg an der Ostfront verlief etwa der Feldzug in Nordafrika deutlich weniger grausam. Im Osten aber standen weder die Soldaten noch das Sanitätspersonal unter dem Schutz der Konvention, und die Einsätze erfolgen unter gänzlich unzureichenden, unbarmherzigen Bedingungen.

Die vierte Überarbeitung der Konvention 1949 geriet denn auch zur bisher umfassendsten; nun wurde auch der Schutz der Zivilbevölkerung eingearbeitet. Mit diesen breiten Nachbesserungen glaubte man, das klassische Kriegsrecht überwunden zu haben, das in der Folge immer mehr zum humanitären Völkerrecht wurde – auch, weil das einfach besser klang. Doch einmal mehr hat sich der Traum vom Fortschritt der Menschheit nicht erfüllt. Der Koreakrieg, der Vietnamkrieg und die Indisch-Pakistanischen Kriege, die Bürgerkriege in Nigeria, im Jemen, im Libanon, in Ost-Timor – sie alle wurden für die internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung zu schweren Bewährungsproben. Allein in den 1990er Jahren tobten weltweit rund 80 bewaffnete Konflikte, die Millionen von Menschen das Leben kosteten und Abermillionen ins Unglück stürzten. Meist handelte es sich dabei um innerstaatliche Auseinandersetzungen: Bürgerkriege, ethnische und religiöse Feindseligkeiten, Autonomiekämpfe. Waffengänge zwischen einzelnen Staaten sind dagegen selten geworden. Sowohl die Art der Kriege als auch die Art der Kriegführung hat sich geändert. Das Rote Kreuz und mit ihm die Konventionen sind in die Defensive geraten, immer mehr Akteure sehen sich immer weniger daran gebunden.

Ein Beispiel für die verworrene Lage bot der Umsturz in Libyen 2011. Ausländische Rotkreuzhelfer wurden von den Rebellen zunächst ausdrücklich aufgefordert, ihr Emblem beizubehalten, vertrauten sie ihnen doch eher als den Vertretern des einheimischen Roten Halbmonds, von denen sie glaubten, dass sie mit dem Machthaber Muammar al-Gaddafi unter einer Decke steckten. Bald aber gerieten die internationalen Helfer unter Beschuss. Nachdem innerhalb von drei Monaten fünf seiner Einrichtungen angegriffen worden waren, zuletzt mit Raketen, zog das Internationale Komitee sich weitgehend aus Libyen zurück. Doch auch Ambulanzen des Libyschen Roten Halbmonds wurden beschossen, und sieben Helfer des Iranischen Roten Halbmonds entführt. Reihum warfen alle Beteiligten einander Missbrauch des Zeichens vor. Die Rebellen beschuldigten die Regierung, Hubschrauber mit Rotkreuzemblem als Minenleger einzusetzen. Militante Islamisten bezichtigten die Hilfsorganisation, Bibeln zu verteilen.

Etwa zur gleichen Zeit eskalierten in Afghanistan die Probleme, und das IKRK musste sein Engagement im Land drastisch reduzieren. Sowohl die US-Streitkräfte als auch die Bundeswehr übermalten damals die Schutzzeichen ihrer Sanitätseinheiten, waren diese doch zu einem bevorzugten Angriffsziel geworden – zum einen wegen des verhassten, christlich konnotierten Symbols, zum anderen zur Schwächung des Gegners, dessen Soldaten ohne Ärztinnen und Sanitäter einen schweren Stand haben. Nachdem Selbstmordattentäter ein Regionalbüro des Internationalen Komitees gestürmt hatten, stellte dieses seine humanitäre Arbeit in Afghanistan weitgehend ein. Leider handelt es sich dabei um exemplarische, zeittypische Vorfälle. Fremdenhass, religiöse Verblendung und demonstrative Menschenverachtung drohen den minimalen zivilisatorischen Konsens zu zerstören, auf dem jede Möglichkeit zur Hilfe beruht. Die Helfer werden immer häufiger selbst zur Zielscheibe für Terroristen. Damit steht der Kern der Genfer Konvention, die Unverletzlichkeit der Sanitätskräfte, infrage. Die Kraft des Schutzzeichens und mit ihr die Autorität des Völkerrechts scheinen im Schwinden begriffen. Und ein neuer Henry Dunant ist nicht in Sicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Henry Dunant, Eine Erinnerung an Solferino (1862), zit. nach einer Ausgabe des Österreichischen Roten Kreuzes, Wien 1997, S. 42.

  2. Ebd., S. 82, S. 88.

  3. Ernst Julius Gurlt, Zur Geschichte der internationalen und freiwilligen Krankenpflege im Kriege, Leipzig 1873.

  4. Zit. nach Stefan Schomann, Im Zeichen der Menschlichkeit, München 2013, S. 85.

  5. Martin Gumpert, Dunant: Der Roman des Roten Kreuzes, Konstanz 1938, S. 196, S. 193.

  6. Vgl. Stefan Schomann, Abdullah Bey – Begründer der "Zentralen Hilfsgesellschaft des Osmanischen Reiches für verwundete Soldaten", in: Petra Liebner et al. (Hrsg.), Deutsches Rotes Kreuz und Türkischer Roter Halbmond. Geschichten einer Beziehung, München 2023, S. 1–16.

  7. Archiv des IKRK in Genf, A AF 19-2/28 und AF 19-2/247, Türkei.

  8. Für eine Würdigung vgl. François Bugnion, Gustave Moynier. 1826–1910, Genf 2011.

  9. Dieter Riesenberger/Gisela Riesenberger, Rotes Kreuz und weiße Fahne. Henry Dunant 1828–1910 – Der Mensch hinter seinem Werk, Bremen 2011, S. 281.

  10. Zit. nach dem Protokoll der XIV. Internationalen Rotkreuzkonferenz, Brüssel 1930, S. 127.

  11. Einen guten Überblick über die Komplikationen rund um die diversen Schutzzeichen bietet eine Broschüre des IKRK: François Bugnion, Croix Rouge, Croissant Rouge, Cristal Rouge, Genf 2007.

  12. Dieser und die folgenden Absätze stützen sich auf Schomann (Anm. 4), S. 373ff.

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ist freier Autor und Journalist in Berlin und Beijing. Er ist Autor des Buches "Im Zeichen der Menschlichkeit" über die Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes (2013) und Mitherausgeber mehrerer Bände der "Beiträge zur Rotkreuzgeschichte".