"Das humanitäre Völkerrecht hinkt immer einen Krieg hinterher" – so lautet eine verbreitete Charakterisierung. Der Satz spiegelt wesentliche Herausforderungen, denen sich die Kodifizierung dieses Rechtsgebiets ausgesetzt sieht: Noch immer sind im Völkerrecht die Staaten die entscheidenden Akteure der Rechtsetzung. Da das Recht im Krieg Staaten Grenzen bei der Kriegführung setzt und einen Bereich regelt, in dem die staatlichen Selbsterhaltungsinteressen berührt sind, müssen Befürworter neuer Kodifizierungsansätze hohe Schwellen überwinden, um in der Staatengemeinschaft einen Konsens zur rechtlichen Fortentwicklung herbeizuführen. In der Vergangenheit haben vor allem die Erfahrungen vorausgegangener Kriege Kodifizierungen ermöglicht. Sowohl die Genfer Konventionen von 1949 als auch die Zusatzprotokolle von 1977 entstanden in Reaktion auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und die darauffolgenden Dekolonisierungskriege. Da sich aber die Rahmenbedingungen der Kriegführung über die Zeit verändern, droht das Recht an Bedeutung zu verlieren, wenn es neue Entwicklungen nicht adäquat erfasst. Neue Waffen wie autonome Waffensysteme, neue Einsatzformen wie die Kriegführung im Cyberraum oder das Auftreten neuer Akteure wie in asymmetrischen Konflikten fordern die Regeln heraus. So stellen sich bei der Entwicklung von Waffen im Zusammenspiel mit künstlicher Intelligenz rechtliche Fragen der Zurechenbarkeit zu menschlichen Akteuren. Militärische Operationen im Cyberraum oder in asymmetrischen Konflikten verwischen die Abgrenzung zwischen Kombattanten und Zivilisten sowie zwischen militärischen und zivilen Objekten. Wie kann das humanitäre Völkerrecht auf diese Entwicklungen reagieren? Sind neue Rechtsetzungsinitiativen erfolgversprechend – oder bieten sich andere Wege, das Recht anzupassen?
Die Wahrnehmungen über das humanitäre Völkerrecht sind durch ein zweites Stereotyp bestimmt: "Die Rechtsdurchsetzung ist seine Achillesferse." Dieses zweite Verdikt reicht weiter und spricht den Rechtsregeln ihre Wirksamkeit ab. Denn was auch immer das humanitäre Völkerrecht vorschreibt, am Ende werde es nicht befolgt und die Nichtbefolgung nicht geahndet. Die Genfer Konventionen überantworten ihre Durchsetzung dabei in erster Linie den Vertragsstaaten, die verpflichtet sind, in ihrem nationalen Recht, etwa im Wehrstraf- und Disziplinarrecht, sicherzustellen, dass schwere Verstöße strafbewährt sind und strafrechtlich geahndet werden.
Rechtsetzung und -durchsetzung bedingen und beeinflussen sich gegenseitig. Um diesen Zusammenhang darzulegen, folgt zunächst ein Überblick über Befolgungs- und Durchsetzungsmechanismen. Sodann werden erfolgreiche und fehlgeschlagene oder verzögerte Kodifizierungsprozesse gegenübergestellt. Abschließend wird beleuchtet, wie das humanitäre Völkerrecht jenseits der Kodifizierung durch Auslegung und Anwendung weiterentwickelt wird und welche Herausforderungen sich daraus ergeben.
Befolgung und Durchsetzung
Um Wirkung entfalten zu können, muss Recht befolgt werden. Dabei lassen sich zwei Arten von Motiven für die Befolgung von Normen ausmachen: die Logik der Angemessenheit und die Logik der Konsequenzen.
Diese Motive berücksichtigt auch das humanitäre Völkerrecht. Einerseits ist diesem Rechtsgebiet ein besonderer, moralisch unterfütterter Legitimitätsanspruch zu eigen.
Vor dem Hintergrund der Ausnahmesituation, die ein bewaffneter Konflikt für den Einzelnen bedeutet, treten weitere Befolgungsgründe hinzu, die das Recht absichern muss. So ist der einzelne Kombattant Prozessen der Sozialisierung in Gewalt und der Ausübung von Gruppendruck ausgesetzt, in denen "der Feind" entindividualisiert wird. Zugleich befördert der Gruppendruck Verhaltensweisen, die individuelle Verantwortung verschleiern und auf Vorgesetzte in Befehlsketten verlagern.
Kann das Recht diese Befolgungsvoraussetzungen nicht mehr gewährleisten, entstehen Gründe für seine Fortentwicklung. So reagierten Kodifizierungsprozesse einerseits auf unzureichende Regelungen, die seine Steuerungsfähigkeit infrage stellten. Andererseits rückten Mängel in den Durchsetzungsmechanismen in den Vordergrund.
Entwicklung durch Kodifizierung
Die Regeln des humanitären Völkerrechts sind im 20. Jahrhundert in mehreren Kodifizierungsschüben niedergelegt worden. Im Zentrum stehen heute die vier Genfer Konventionen von 1949, die von 196 Staaten ratifiziert worden sind.
Zum einen enthalten die Genfer Konventionen mit dem gemeinsamen Artikel 3 nur rudimentäre Regelungen des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts. Zum anderen verdeutlichte gerade der Vietnamkrieg, dass die bestehenden Regeln über die Kampfführung, über Kampfmittel und -methoden für den Schutz von Zivilisten und zivilen Objekten noch nicht hinreichend kodifiziert waren. Ein Beispiel ist das Verbot der unterschiedslosen Kampfführung, das Flächenbombardements verbietet, die nicht gegen ein spezifisches Ziel gerichtet sind.
Ein wesentlicher Bereich betrifft Verträge, die bestimmte Waffentypen verbieten oder ihre Auswirkungen beschränken. Seit den 1980er Jahren kam es nur noch in diesem Bereich zu Kodifizierungen. Beschränkungen sind unter anderem für bestimmte konventionelle Waffen wie Sprengfallen und Brandwaffen (1980) und explosive Kriegsmunitionsrückstände (2003) niedergelegt. Verbote gelten etwa für Geschosse, die im menschlichen Körper abflachen (1899), die Verwendung von Giftgasen und bakteriologischen Waffen (1925) sowie für den Einsatz von Laserblendwaffen (1995). Schließlich finden sich Verträge, die die Herstellung, den Besitz, die Weitergabe und den Einsatz bestimmter Waffentypen verbieten. Hierzu zählen biologische (1972) und chemische Waffen (1993) sowie Antipersonenminen (1997), Streumunition (2008) und Nuklearwaffen (2017).
Eine zweite zentrale Stoßrichtung der Kodifizierungsbemühungen seit 1990 galt dem Völkerstrafrecht. Vor allem die Kriege im ehemaligen Jugoslawien haben der internationalen Öffentlichkeit erneut die Notwendigkeit vor Augen geführt, Kriegsverbrechen nicht nur national, sondern auch international zu verfolgen. Nach der Errichtung der Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda hat die Idee einer dauerhaften internationalen Strafgerichtsbarkeit Aufwind erfahren und zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag geführt. Der IStGH ist auf der Grundlage seines Statuts zuständig, über die vier Kernverbrechen zu urteilen. Zu diesen zählen: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Aggressionsverbrechen, für das die Zuständigkeit gesondert begründet werden musste. Der IStGH ist damit nicht nur für die Ahndung von Verbrechen im bewaffneten Konflikt zuständig, sondern im Hinblick auf Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch in Friedenszeiten. Er ist kein unmittelbares Durchsetzungsinstrument der Genfer Konventionen, sondern die Gehalte der Konventionen sind in das Statut eingeflossen, sodass seine Rechtsprechung zumindest mittelbar zur Auslegung des humanitären Völkerrechts beiträgt. Das Statut hat 124 Mitgliedstaaten, zu denen jedoch weder China, Indien, Israel, die Russische Föderation oder die USA gehören.
In Deutschland wurde die Errichtung des IStGH von der Einführung des Völkerstrafgesetzbuchs begleitet (2002). Seither sind über 200 Verfahren anhängig beziehungsweise geführt worden, die unter anderem auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips Kriegsverbrechen ahnden (sollen), also auch Verbrechen betreffen, die von ausländischen Staatsbürgern im Ausland begangen wurden. Besondere Aufmerksamkeit haben dabei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, namentlich die Verfahren zur Staatsfolter in Syrien, erfahren. Kriegsverbrechen sind bisher vor allem in Hinblick auf nichtstaatliche Gewaltakteure verfolgt worden. Hierzu gehören Verfahren gegen einen Anführer einer ruandischen Rebellengruppe sowie Mitglieder des sogenannten Islamischen Staats. Allerdings hat der Generalbundesanwalt im März 2022 ein Verfahren wegen der Begehung von Kriegsverbrechen durch russische Soldaten in der Ukraine eingeleitet. Diese Verfahren bilden ein wichtiges Element in dem Bemühen, Straflosigkeit für Kriegsverbrechen zu vermeiden und damit auch zur Befolgung des humanitären Völkerrechts beizutragen.
Dieses dreigliedrige Normengefüge – humanitäres Völkerrecht, Waffenverbote und Völkerstrafrecht – setzt den Rechtsrahmen für die Kriegführung. Andere Kodifizierungsvorhaben, die auf die sich weiter wandelnden Bedingungen der Kriegführung reagieren sollen, waren bislang nicht erfolgreich. Wie lassen sich diese fehlenden Kodifizierungserfolge erklären?
Gescheiterte und verschleppte Kodifizierung
Die Prozesse gescheiterter oder verschleppter Kodifizierung spielen sich in zunehmendem Maße vor dem Hintergrund geopolitischer Umbrüche ab. Einerseits spiegelt fehlende Kodifizierung Befürchtungen wider, einmal Erreichtes für den Schutz des Einzelnen in neuen Kodifizierungsprozessen nicht mehr bewahren zu können. Andererseits sind die Staaten bestrebt, sich durch Verzicht auf spezifische rechtliche Verbote und Beschränkungen Handlungsspielräume zu erhalten. Je nach Interessenlage berufen sie sich dabei auf die Anwendbarkeit oder Nicht-Anwendbarkeit des bestehenden Rechts auf neue Phänomene, wechseln die Verhandlungsforen und versuchen mittels (rechts-)politischer Erklärungen, die Rechtsentwicklung im eigenen Interesse zu beeinflussen. Letztlich zeigen diese Prozesse, dass eine grundsätzliche Uneinigkeit über die zukünftige Richtung der Rechtsentwicklung besteht.
Im Zusammenhang mit dem war on terror nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden insbesondere in den USA Rufe nach einer Reform der Genfer Konventionen laut, um diese an die Bedingungen asymmetrischer Kriegführung anzupassen. Dieses Ansinnen wurde unter anderem auch in Europa zurückgewiesen. Experten befürchteten, dass unter dem Eindruck der Anschläge der Schutzstandard der Genfer Konventionen herabgesenkt werden könnte, ohne dass eine wirkliche Notwendigkeit zu ihrer Anpassung bestanden hätte.
Versuche, die Nutzung des Cyberraums auch im Hinblick auf mögliche militärische Angriffe vertraglich zu regeln, sind demgegenüber vor allem von China und Russland initiiert worden. Seit einiger Zeit bringen diese Staaten Entwürfe für einschlägige Konventionen in die UN ein.
Ähnliche Argumentationsmuster bestimmen die Debatte um ein Verbot oder eine Beschränkung von tödlichen autonomen Waffensystemen. Ausgangspunkt ist die Forderung eines vollständigen Verbots der Herstellung, des Besitzes, der Weitergabe und des Einsatzes solcher Waffen, die vor allem aus der Zivilgesellschaft und von Staaten aus dem globalen Süden vorgebracht wird. Ein wesentliches Forum ist dabei die Konvention über bestimmte konventionelle Waffen, in deren Rahmen eine Expertengruppe eingesetzt worden ist, die sogenannte UN Group of Governmental Experts (GGE) on Emerging Technologies in the Area of Lethal Autonomous Weapons Systems. Bis heute fehlt es jedoch an einem klaren Konsens in der Staatengemeinschaft, diese Waffensysteme einer vertraglichen Regelung zu unterwerfen.
Die Stagnation im Genfer Prozess hat das Augenmerk auf andere Foren gerichtet, insbesondere auf den Menschenrechtsrat und die UN-Generalversammlung. 2023 rief das IKRK gemeinsam mit dem UN-Generalsekretär die Staatengemeinschaft auf, bis 2026 einen rechtsverbindlichen Vertrag zu schaffen.
Ein umfassendes Verbot dürfte letztlich vor den gleichen Herausforderungen stehen wie der Atomwaffenverbotsvertrag. Die Staaten, die über die einschlägigen technologischen Fähigkeiten verfügen, werden dem Vertrag nicht beitreten. Denn Auslegung und Anwendung bestehender völkerrechtlicher Regelungen erlauben ihnen die Weiterentwicklung dieser Waffen und verschaffen im Lichte von Auslegungsunsicherheiten Handlungsspielräume. Selbst Initiativen, die keine verbindlichen rechtlichen Regelungen zum Gegenstand haben, erhalten nicht immer die erforderliche Unterstützung in der Staatengemeinschaft. So gelang es dem IKRK zum Beispiel nicht, einen informellen freiwilligen Informationsprozess einzurichten, mittels dessen die Befolgung des humanitären Völkerrechts gestärkt werden sollte.
Von der Kodifikation zur Interpretation
Angesichts der Hürden, die neue Kodifikationsprojekte überwinden müssen, drängt sich die Frage auf, ob das humanitäre Völkerrecht zum Stillstand verurteilt ist. Einen solchen anzunehmen, greift aber zu kurz. Recht entwickelt sich eben nicht nur im Rahmen der Rechtsetzung. Vielmehr vermögen andere Akteure als Staaten das vorherrschende Rechtsverständnis nachhaltig zu beeinflussen. Seit geraumer Zeit sind diese informellen "Rechtsetzungsprozesse" eine wesentliche Triebkraft der rechtlichen Fortentwicklung. Zu den Akteuren zählen das IKRK, Expertenkommissionen, Nichtregierungsorganisationen und Gerichte. So hat das IKRK eine Reihe von Studien und Kommentaren herausgebracht, mit denen Auslegungsunsicherheiten über die Rechtsanwendung etwa gegenüber nichtstaatlichen Gewaltakteuren überwunden werden sollen.
Allerdings sind derartige Prozesse der Rechtsfortentwicklung nicht frei von Kritik. Hintergrund ist der Umstand, dass es keine Streitbeilegungsinstanzen gibt, die im eigentlichen Sinne mit der Durchsetzung des humanitären Völkerrechts beauftragt wären. Vielmehr haben zum einen nationale und internationale Strafgerichte, zum anderen Menschenrechtsgerichtshöfe diese Aufgabe übernommen. Diese Gerichte sind an ihre Mandate gebunden und verfolgen die Zwecke und Zielsetzungen der ihnen überantworteten Rechtsregime. Auch wenn beispielsweise der IStGH in gewissem Maße humanitäres Völkerrecht auslegt, bleiben Unterschiede zum Völkerstrafrecht relevant.
Diese Kritik sollte nicht leichtfertig als interessengeleitet oder machtorientiert abgetan werden. Denn sowohl das Verschieben der Balance als auch die Erhöhung von interpretatorischen Unsicherheiten vermag Auswirkungen auf die Befolgungsbereitschaft und -fähigkeit zu zeitigen und die Steuerungswirkung des Rechts zu schwächen. Einerseits müssen die rechtlichen Regelungen vom Einzelnen in der Ausnahmesituation des bewaffneten Konfliktes angewandt werden und daher strengen Erfordernissen der Bestimmtheit genügen. Andererseits bedarf das humanitäre Völkerrecht, um befolgt zu werden, der besonderen Akzeptanz der militärischen Entscheidungsträger. Trotz dieser Risiken bleibt die Rolle nicht nur des IKRK, sondern auch von Gerichten, Expertenkommissionen und NGOs wesentlich für eine angemessene Rechtsfortentwicklung. Anderenfalls bestünde umgekehrt die Gefahr, das Recht auf ein Instrument militärischer Selbstregulierung zu reduzieren,
Schluss
Letztlich ist es wenig hilfreich, das humanitäre Völkerrecht durch Stereotype als zynisch zu charakterisieren. Das intrinsische Dilemma, den Krieg als soziale Wirklichkeit akzeptieren zu müssen, um seine Führung rechtlich beschränken zu können, hat für die Rechtsetzung und -durchsetzung komplexe Folgen, die es immer aufs Neue einzuhegen gilt. Ein wichtiges Instrument dafür ist ein breites Engagement aller Akteure. Doch lassen sich die Augen nicht davor verschließen, dass dieses Rechtsgebiet in besonderem Maße vom dezentralen Charakter der Völkerrechtsordnung betroffen ist, also dem Fehlen eines zentralen Rechtsetzungs- und Rechtsdurchsetzungsorgans, das für alle Akteure verbindliche Auslegungen vorgibt. So bleibt die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts immer auch ein offenes Tauziehen zwischen den verschiedenen Akteuren um Erweiterung und Verengung staatlicher Handlungsspielräume im Lichte ihrer Sicherheitsinteressen.