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Genfer Konventionen Editorial Kriege erfahren, Kriegsgewalt eindämmen Ein grausames Recht? Das humanitäre Völkerrecht zwischen Anspruch und Wirklichkeit Die Genfer Konventionen in der Praxis Vom Roten Kreuz bis zum Roten Kristall Wer kennt das humanitäre Völkerrecht?

Die Genfer Konventionen in der Praxis Zur Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts

Heike Krieger

/ 15 Minuten zu lesen

Das Dilemma, den Krieg als Wirklichkeit akzeptieren zu müssen, um seine Führung rechtlich beschränken zu können, hat für die Rechtsetzung komplexe Folgen. Die Weiterentwicklung des Völkerrechts bleibt immer auch ein Tauziehen um staatliche Spielräume.

"Das humanitäre Völkerrecht hinkt immer einen Krieg hinterher" – so lautet eine verbreitete Charakterisierung. Der Satz spiegelt wesentliche Herausforderungen, denen sich die Kodifizierung dieses Rechtsgebiets ausgesetzt sieht: Noch immer sind im Völkerrecht die Staaten die entscheidenden Akteure der Rechtsetzung. Da das Recht im Krieg Staaten Grenzen bei der Kriegführung setzt und einen Bereich regelt, in dem die staatlichen Selbsterhaltungsinteressen berührt sind, müssen Befürworter neuer Kodifizierungsansätze hohe Schwellen überwinden, um in der Staatengemeinschaft einen Konsens zur rechtlichen Fortentwicklung herbeizuführen. In der Vergangenheit haben vor allem die Erfahrungen vorausgegangener Kriege Kodifizierungen ermöglicht. Sowohl die Genfer Konventionen von 1949 als auch die Zusatzprotokolle von 1977 entstanden in Reaktion auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und die darauffolgenden Dekolonisierungskriege. Da sich aber die Rahmenbedingungen der Kriegführung über die Zeit verändern, droht das Recht an Bedeutung zu verlieren, wenn es neue Entwicklungen nicht adäquat erfasst. Neue Waffen wie autonome Waffensysteme, neue Einsatzformen wie die Kriegführung im Cyberraum oder das Auftreten neuer Akteure wie in asymmetrischen Konflikten fordern die Regeln heraus. So stellen sich bei der Entwicklung von Waffen im Zusammenspiel mit künstlicher Intelligenz rechtliche Fragen der Zurechenbarkeit zu menschlichen Akteuren. Militärische Operationen im Cyberraum oder in asymmetrischen Konflikten verwischen die Abgrenzung zwischen Kombattanten und Zivilisten sowie zwischen militärischen und zivilen Objekten. Wie kann das humanitäre Völkerrecht auf diese Entwicklungen reagieren? Sind neue Rechtsetzungsinitiativen erfolgversprechend – oder bieten sich andere Wege, das Recht anzupassen?

Die Wahrnehmungen über das humanitäre Völkerrecht sind durch ein zweites Stereotyp bestimmt: "Die Rechtsdurchsetzung ist seine Achillesferse." Dieses zweite Verdikt reicht weiter und spricht den Rechtsregeln ihre Wirksamkeit ab. Denn was auch immer das humanitäre Völkerrecht vorschreibt, am Ende werde es nicht befolgt und die Nichtbefolgung nicht geahndet. Die Genfer Konventionen überantworten ihre Durchsetzung dabei in erster Linie den Vertragsstaaten, die verpflichtet sind, in ihrem nationalen Recht, etwa im Wehrstraf- und Disziplinarrecht, sicherzustellen, dass schwere Verstöße strafbewährt sind und strafrechtlich geahndet werden. Zugleich kommt dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) eine herausgehobene Stellung zu, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu fördern. Dieser Tage sind vor allem die Nachrichten über die bewaffneten Konflikte in der Ukraine und in Gaza durch Meldungen über gravierende Kriegsverbrechen bestimmt. Vermag es das Recht also nicht, unter den Bedingungen bewaffneter Konflikte Wirksamkeit zu entfalten?

Rechtsetzung und -durchsetzung bedingen und beeinflussen sich gegenseitig. Um diesen Zusammenhang darzulegen, folgt zunächst ein Überblick über Befolgungs- und Durchsetzungsmechanismen. Sodann werden erfolgreiche und fehlgeschlagene oder verzögerte Kodifizierungsprozesse gegenübergestellt. Abschließend wird beleuchtet, wie das humanitäre Völkerrecht jenseits der Kodifizierung durch Auslegung und Anwendung weiterentwickelt wird und welche Herausforderungen sich daraus ergeben.

Befolgung und Durchsetzung

Um Wirkung entfalten zu können, muss Recht befolgt werden. Dabei lassen sich zwei Arten von Motiven für die Befolgung von Normen ausmachen: die Logik der Angemessenheit und die Logik der Konsequenzen. Akteure befolgen die Logik der Angemessenheit, wenn sie durch die Legitimität von Normen und eine moralische Übereinstimmung mit ihrem Gehalt motiviert sind. Angst vor Sanktionen oder Reputationsverlust, Eigeninteresse, aber auch Reziprozitätserwartungen bestimmen die Logik der Konsequenzen.

Diese Motive berücksichtigt auch das humanitäre Völkerrecht. Einerseits ist diesem Rechtsgebiet ein besonderer, moralisch unterfütterter Legitimitätsanspruch zu eigen. Laut Internationalem Gerichtshof bilden "übergeordnete Erwägungen der Menschlichkeit (…) das Herzstück" des humanitären Völkerrechts. Staaten, die das humanitäre Völkerrecht verletzen, riskieren Ansehensverluste. Diese international, aber auch innerstaatlich zu vermeiden, gilt gerade bei demokratischen Staaten angesichts der Bedeutung der öffentlichen Meinung als ein wesentlicher Grund, sich ans humanitäre Völkerrecht zu halten. Schwere Verletzungen vermögen zudem nicht nur die Kampfmoral, sondern auch die öffentliche Unterstützung für einen militärischen Konflikt zu untergraben. Andererseits trägt das humanitäre Völkerrecht in seinen Regelungen weiteren Eigeninteressen der Staaten Rechnung. Dem Bestreben, das Leid im Krieg durch Recht zu lindern, liegt das Dilemma zugrunde, dass bewaffnete Konflikte trotz der völkerrechtlichen Ächtung des Krieges eine soziale Realität geblieben sind. Um Akzeptanz bei Kriegführenden zu erlangen, sind die rechtlichen Regelungen daher so ausgestaltet, dass Erwägungen der Menschlichkeit in eine Balance mit solchen der militärischen Notwendigkeit gebracht werden müssen. Das humanitäre Völkerrecht verbietet also nicht die Kriegführung an sich, sondern beschränkt die Art und Weise der Kriegführung.

Vor dem Hintergrund der Ausnahmesituation, die ein bewaffneter Konflikt für den Einzelnen bedeutet, treten weitere Befolgungsgründe hinzu, die das Recht absichern muss. So ist der einzelne Kombattant Prozessen der Sozialisierung in Gewalt und der Ausübung von Gruppendruck ausgesetzt, in denen "der Feind" entindividualisiert wird. Zugleich befördert der Gruppendruck Verhaltensweisen, die individuelle Verantwortung verschleiern und auf Vorgesetzte in Befehlsketten verlagern. Um derartigen Mechanismen entgegenzuwirken, muss das Recht in der Ausbildung verankert und damit Ausdruck des professionellen Selbstverständnisses von Soldaten sein. Dabei kommt der Angst vor Sanktionen eine entscheidende Rolle zu, was ihre kohärente und wirksame Durchsetzung verlangt. Zudem gründet das humanitäre Völkerrecht auf sozialen (nicht auf rechtlichen) Reziprozitätserwartungen. So heißt es in der Zentralen Dienstvorschrift des Bundesverteidigungsministeriums: "Soldatinnen und Soldaten müssen ihre Gegner so behandeln, wie sie bei vernünftiger Würdigung der Umstände selbst behandelt werden wollen."

Kann das Recht diese Befolgungsvoraussetzungen nicht mehr gewährleisten, entstehen Gründe für seine Fortentwicklung. So reagierten Kodifizierungsprozesse einerseits auf unzureichende Regelungen, die seine Steuerungsfähigkeit infrage stellten. Andererseits rückten Mängel in den Durchsetzungsmechanismen in den Vordergrund.

Entwicklung durch Kodifizierung

Die Regeln des humanitären Völkerrechts sind im 20. Jahrhundert in mehreren Kodifizierungsschüben niedergelegt worden. Im Zentrum stehen heute die vier Genfer Konventionen von 1949, die von 196 Staaten ratifiziert worden sind. Zielten die Regeln bis dahin vor allem auf einen Schutz von Kriegsgefangenen und Verwundeten, war es nun das Ziel, auch die Zivilbevölkerung gerade in militärisch besetzten Gebieten in den Schutz einzubeziehen. Die Dekolonisierungskriege und der Vietnamkrieg zeigten in den 1960er und 70er Jahren, dass die niedergelegten Regeln nicht ausreichend waren, einen hinreichenden Schutz der Zivilbevölkerung vor Kampfhandlungen zu gewährleisten und alle Konfliktformen zu erfassen.

Zum einen enthalten die Genfer Konventionen mit dem gemeinsamen Artikel 3 nur rudimentäre Regelungen des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts. Zum anderen verdeutlichte gerade der Vietnamkrieg, dass die bestehenden Regeln über die Kampfführung, über Kampfmittel und -methoden für den Schutz von Zivilisten und zivilen Objekten noch nicht hinreichend kodifiziert waren. Ein Beispiel ist das Verbot der unterschiedslosen Kampfführung, das Flächenbombardements verbietet, die nicht gegen ein spezifisches Ziel gerichtet sind. Als Reaktion wurden 1977 die zwei Zusatzprotokolle (ZP) zu den Genfer Konventionen verabschiedet: das ZP I, das ausdifferenzierte Regeln zur Kampfführung enthält, und das ZP II, das in Bürgerkriegssituationen zur Anwendung kommt. Das ZP I ist von 174 Staaten, das ZP II von 169 Staaten ratifiziert worden. Allerdings sind wichtige Militärmächte wie die USA und Israel den Protokollen nicht beigetreten, was noch immer zu Kontroversen in der Rechtsanwendung führt. Im Kern hat es seither keine erfolgreichen Kodifizierungsvorhaben mehr gegeben. Nachfolgende Initiativen haben sich auf andere Foren und Themen erstreckt.

Ein wesentlicher Bereich betrifft Verträge, die bestimmte Waffentypen verbieten oder ihre Auswirkungen beschränken. Seit den 1980er Jahren kam es nur noch in diesem Bereich zu Kodifizierungen. Beschränkungen sind unter anderem für bestimmte konventionelle Waffen wie Sprengfallen und Brandwaffen (1980) und explosive Kriegsmunitionsrückstände (2003) niedergelegt. Verbote gelten etwa für Geschosse, die im menschlichen Körper abflachen (1899), die Verwendung von Giftgasen und bakteriologischen Waffen (1925) sowie für den Einsatz von Laserblendwaffen (1995). Schließlich finden sich Verträge, die die Herstellung, den Besitz, die Weitergabe und den Einsatz bestimmter Waffentypen verbieten. Hierzu zählen biologische (1972) und chemische Waffen (1993) sowie Antipersonenminen (1997), Streumunition (2008) und Nuklearwaffen (2017). Kritische Stimmen charakterisieren diese Verträge allerdings als zynisch. Denn letztlich würden nur die Waffen verboten, die für die Kampfführung nicht mehr erheblich seien. Anderen Verträgen träten gerade die Staaten nicht bei, die über die reglementierten Waffen verfügen können. Zwar wird dieser Kritikpunkt vom Atomwaffenverbotsvertrag bestätigt – keiner der Atomwaffenstaaten ist Mitglied des Vertrages –, das Beispiel der Antipersonenminen deutet aber durchaus auf eine gewisse Wirksamkeit solcher Regelungen hin.

Eine zweite zentrale Stoßrichtung der Kodifizierungsbemühungen seit 1990 galt dem Völkerstrafrecht. Vor allem die Kriege im ehemaligen Jugoslawien haben der internationalen Öffentlichkeit erneut die Notwendigkeit vor Augen geführt, Kriegsverbrechen nicht nur national, sondern auch international zu verfolgen. Nach der Errichtung der Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda hat die Idee einer dauerhaften internationalen Strafgerichtsbarkeit Aufwind erfahren und zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag geführt. Der IStGH ist auf der Grundlage seines Statuts zuständig, über die vier Kernverbrechen zu urteilen. Zu diesen zählen: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Aggressionsverbrechen, für das die Zuständigkeit gesondert begründet werden musste. Der IStGH ist damit nicht nur für die Ahndung von Verbrechen im bewaffneten Konflikt zuständig, sondern im Hinblick auf Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch in Friedenszeiten. Er ist kein unmittelbares Durchsetzungsinstrument der Genfer Konventionen, sondern die Gehalte der Konventionen sind in das Statut eingeflossen, sodass seine Rechtsprechung zumindest mittelbar zur Auslegung des humanitären Völkerrechts beiträgt. Das Statut hat 124 Mitgliedstaaten, zu denen jedoch weder China, Indien, Israel, die Russische Föderation oder die USA gehören.

In Deutschland wurde die Errichtung des IStGH von der Einführung des Völkerstrafgesetzbuchs begleitet (2002). Seither sind über 200 Verfahren anhängig beziehungsweise geführt worden, die unter anderem auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips Kriegsverbrechen ahnden (sollen), also auch Verbrechen betreffen, die von ausländischen Staatsbürgern im Ausland begangen wurden. Besondere Aufmerksamkeit haben dabei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, namentlich die Verfahren zur Staatsfolter in Syrien, erfahren. Kriegsverbrechen sind bisher vor allem in Hinblick auf nichtstaatliche Gewaltakteure verfolgt worden. Hierzu gehören Verfahren gegen einen Anführer einer ruandischen Rebellengruppe sowie Mitglieder des sogenannten Islamischen Staats. Allerdings hat der Generalbundesanwalt im März 2022 ein Verfahren wegen der Begehung von Kriegsverbrechen durch russische Soldaten in der Ukraine eingeleitet. Diese Verfahren bilden ein wichtiges Element in dem Bemühen, Straflosigkeit für Kriegsverbrechen zu vermeiden und damit auch zur Befolgung des humanitären Völkerrechts beizutragen.

Dieses dreigliedrige Normengefüge – humanitäres Völkerrecht, Waffenverbote und Völkerstrafrecht – setzt den Rechtsrahmen für die Kriegführung. Andere Kodifizierungsvorhaben, die auf die sich weiter wandelnden Bedingungen der Kriegführung reagieren sollen, waren bislang nicht erfolgreich. Wie lassen sich diese fehlenden Kodifizierungserfolge erklären?

Gescheiterte und verschleppte Kodifizierung

Die Prozesse gescheiterter oder verschleppter Kodifizierung spielen sich in zunehmendem Maße vor dem Hintergrund geopolitischer Umbrüche ab. Einerseits spiegelt fehlende Kodifizierung Befürchtungen wider, einmal Erreichtes für den Schutz des Einzelnen in neuen Kodifizierungsprozessen nicht mehr bewahren zu können. Andererseits sind die Staaten bestrebt, sich durch Verzicht auf spezifische rechtliche Verbote und Beschränkungen Handlungsspielräume zu erhalten. Je nach Interessenlage berufen sie sich dabei auf die Anwendbarkeit oder Nicht-Anwendbarkeit des bestehenden Rechts auf neue Phänomene, wechseln die Verhandlungsforen und versuchen mittels (rechts-)politischer Erklärungen, die Rechtsentwicklung im eigenen Interesse zu beeinflussen. Letztlich zeigen diese Prozesse, dass eine grundsätzliche Uneinigkeit über die zukünftige Richtung der Rechtsentwicklung besteht.

Im Zusammenhang mit dem war on terror nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden insbesondere in den USA Rufe nach einer Reform der Genfer Konventionen laut, um diese an die Bedingungen asymmetrischer Kriegführung anzupassen. Dieses Ansinnen wurde unter anderem auch in Europa zurückgewiesen. Experten befürchteten, dass unter dem Eindruck der Anschläge der Schutzstandard der Genfer Konventionen herabgesenkt werden könnte, ohne dass eine wirkliche Notwendigkeit zu ihrer Anpassung bestanden hätte.

Versuche, die Nutzung des Cyberraums auch im Hinblick auf mögliche militärische Angriffe vertraglich zu regeln, sind demgegenüber vor allem von China und Russland initiiert worden. Seit einiger Zeit bringen diese Staaten Entwürfe für einschlägige Konventionen in die UN ein. Die USA und ihre westlichen Verbündeten weisen diese Initiativen aber aus Sorge zurück, dass sie eher als Einfallstor für die Beschränkung von Menschenrechten im Cyberraum dienen sollen denn als Instrument, um Sicherheit zu gewährleisten. Während Russland und China vorbringen, dass die militärische Nutzung angesichts der Neuheit dieser Technologie rechtlich erst geregelt werden müsse, vertreten westliche Staaten die Ansicht, dass keine Regelungslücken bestünden, da die vorhandenen Rechtsregeln im Wege der Auslegung auch unter den besonderen Bedingungen des Cyberraums Anwendung finden könnten. An die Stelle von Kodifizierungen sind in den vergangenen Jahren Erklärungen westlicher Staaten zur Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts im Cyberraum getreten. Ein globaler Konsens ist dazu also noch nicht erreicht.

Ähnliche Argumentationsmuster bestimmen die Debatte um ein Verbot oder eine Beschränkung von tödlichen autonomen Waffensystemen. Ausgangspunkt ist die Forderung eines vollständigen Verbots der Herstellung, des Besitzes, der Weitergabe und des Einsatzes solcher Waffen, die vor allem aus der Zivilgesellschaft und von Staaten aus dem globalen Süden vorgebracht wird. Ein wesentliches Forum ist dabei die Konvention über bestimmte konventionelle Waffen, in deren Rahmen eine Expertengruppe eingesetzt worden ist, die sogenannte UN Group of Governmental Experts (GGE) on Emerging Technologies in the Area of Lethal Autonomous Weapons Systems. Bis heute fehlt es jedoch an einem klaren Konsens in der Staatengemeinschaft, diese Waffensysteme einer vertraglichen Regelung zu unterwerfen.

Die Stagnation im Genfer Prozess hat das Augenmerk auf andere Foren gerichtet, insbesondere auf den Menschenrechtsrat und die UN-Generalversammlung. 2023 rief das IKRK gemeinsam mit dem UN-Generalsekretär die Staatengemeinschaft auf, bis 2026 einen rechtsverbindlichen Vertrag zu schaffen. Im Dezember 2023 verabschiedete auch die UN-Generalversammlung eine entsprechende Resolution. Trotz dieser Initiativen bleiben Widerstände: Vor allem Russland und die USA halten weiterhin die GGE für das geeignete Forum und wenden sich gegen ein umfassendes Verbot. Gleichwohl haben die USA 2023 eine politische Erklärung zum Umgang mit dieser Technologie formuliert, die aber rechtlich unverbindlich ist. 53 Staaten unterstützen die Erklärung, darunter Deutschland. Zusammen mit Australien, Kanada, Japan, Polen, Südkorea und dem Vereinigten Königreich haben die USA zudem einen Vertragsentwurf in die GGE eingebracht, der den Einsatz dieser Waffen im Einklang mit dem bestehenden Völkerrecht reglementieren, aber eben nicht grundsätzlich verbieten soll.

Ein umfassendes Verbot dürfte letztlich vor den gleichen Herausforderungen stehen wie der Atomwaffenverbotsvertrag. Die Staaten, die über die einschlägigen technologischen Fähigkeiten verfügen, werden dem Vertrag nicht beitreten. Denn Auslegung und Anwendung bestehender völkerrechtlicher Regelungen erlauben ihnen die Weiterentwicklung dieser Waffen und verschaffen im Lichte von Auslegungsunsicherheiten Handlungsspielräume. Selbst Initiativen, die keine verbindlichen rechtlichen Regelungen zum Gegenstand haben, erhalten nicht immer die erforderliche Unterstützung in der Staatengemeinschaft. So gelang es dem IKRK zum Beispiel nicht, einen informellen freiwilligen Informationsprozess einzurichten, mittels dessen die Befolgung des humanitären Völkerrechts gestärkt werden sollte. Die Gründe hierfür sah das IKRK in den gegenwärtigen geopolitischen Konkurrenzen.

Von der Kodifikation zur Interpretation

Angesichts der Hürden, die neue Kodifikationsprojekte überwinden müssen, drängt sich die Frage auf, ob das humanitäre Völkerrecht zum Stillstand verurteilt ist. Einen solchen anzunehmen, greift aber zu kurz. Recht entwickelt sich eben nicht nur im Rahmen der Rechtsetzung. Vielmehr vermögen andere Akteure als Staaten das vorherrschende Rechtsverständnis nachhaltig zu beeinflussen. Seit geraumer Zeit sind diese informellen "Rechtsetzungsprozesse" eine wesentliche Triebkraft der rechtlichen Fortentwicklung. Zu den Akteuren zählen das IKRK, Expertenkommissionen, Nichtregierungsorganisationen und Gerichte. So hat das IKRK eine Reihe von Studien und Kommentaren herausgebracht, mit denen Auslegungsunsicherheiten über die Rechtsanwendung etwa gegenüber nichtstaatlichen Gewaltakteuren überwunden werden sollen. Eine ähnliche Stoßrichtung verfolgen Expertenprozesse, die zur Veröffentlichung sogenannter Handbücher (manuals) führen. Daneben formulieren auch NGOs Rechtsansichten zur Auslegung des humanitären Völkerrechts. Schließlich tragen nationale und internationale Gerichte zur Rechtsentwicklung bei, indem sie das Recht in der Anwendung auf den Einzelfall auslegen.

Allerdings sind derartige Prozesse der Rechtsfortentwicklung nicht frei von Kritik. Hintergrund ist der Umstand, dass es keine Streitbeilegungsinstanzen gibt, die im eigentlichen Sinne mit der Durchsetzung des humanitären Völkerrechts beauftragt wären. Vielmehr haben zum einen nationale und internationale Strafgerichte, zum anderen Menschenrechtsgerichtshöfe diese Aufgabe übernommen. Diese Gerichte sind an ihre Mandate gebunden und verfolgen die Zwecke und Zielsetzungen der ihnen überantworteten Rechtsregime. Auch wenn beispielsweise der IStGH in gewissem Maße humanitäres Völkerrecht auslegt, bleiben Unterschiede zum Völkerstrafrecht relevant. Gegenüber den Strafgerichten, aber auch gegenüber der Rechtsprechung von Menschenrechtsgerichten wird daher der Vorwurf der einseitigen Auslegung erhoben, da etwa menschenrechtliche Abwägungsprozesse nicht mit den humanitär-völkerrechtlichen identisch seien. So befürchten manche, dass durch andere als staatliche (Regierungs-)Akteure die Balance zwischen Erwägungen der Menschlichkeit und solchen der militärischen Notwendigkeit in einem Maße verschoben werden könnte, dass diese nicht mehr den Genfer Konventionen entspricht. Damit drohten sich auch Rechtsunsicherheiten zu verschärfen.

Diese Kritik sollte nicht leichtfertig als interessengeleitet oder machtorientiert abgetan werden. Denn sowohl das Verschieben der Balance als auch die Erhöhung von interpretatorischen Unsicherheiten vermag Auswirkungen auf die Befolgungsbereitschaft und -fähigkeit zu zeitigen und die Steuerungswirkung des Rechts zu schwächen. Einerseits müssen die rechtlichen Regelungen vom Einzelnen in der Ausnahmesituation des bewaffneten Konfliktes angewandt werden und daher strengen Erfordernissen der Bestimmtheit genügen. Andererseits bedarf das humanitäre Völkerrecht, um befolgt zu werden, der besonderen Akzeptanz der militärischen Entscheidungsträger. Trotz dieser Risiken bleibt die Rolle nicht nur des IKRK, sondern auch von Gerichten, Expertenkommissionen und NGOs wesentlich für eine angemessene Rechtsfortentwicklung. Anderenfalls bestünde umgekehrt die Gefahr, das Recht auf ein Instrument militärischer Selbstregulierung zu reduzieren, was den Erwägungen der Menschlichkeit im Interesse militärischer Notwendigkeit nicht hinreichend Raum gäbe.

Schluss

Letztlich ist es wenig hilfreich, das humanitäre Völkerrecht durch Stereotype als zynisch zu charakterisieren. Das intrinsische Dilemma, den Krieg als soziale Wirklichkeit akzeptieren zu müssen, um seine Führung rechtlich beschränken zu können, hat für die Rechtsetzung und -durchsetzung komplexe Folgen, die es immer aufs Neue einzuhegen gilt. Ein wichtiges Instrument dafür ist ein breites Engagement aller Akteure. Doch lassen sich die Augen nicht davor verschließen, dass dieses Rechtsgebiet in besonderem Maße vom dezentralen Charakter der Völkerrechtsordnung betroffen ist, also dem Fehlen eines zentralen Rechtsetzungs- und Rechtsdurchsetzungsorgans, das für alle Akteure verbindliche Auslegungen vorgibt. So bleibt die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts immer auch ein offenes Tauziehen zwischen den verschiedenen Akteuren um Erweiterung und Verengung staatlicher Handlungsspielräume im Lichte ihrer Sicherheitsinteressen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Art. 49, 50 Genfer Konvention (GK) I, Art. 50, 51 GK II, Art. 129, 130 GK III, Art. 146, 147 GK IV, Art. 85 Zusatzprotokoll (ZP) I.

  2. Vgl. James March/Johan Olsen, The Institutional Dynamics of International Political Orders, in: International Organizations Law Review 4/1998, S. 943–969, hier S. 949f.

  3. Vgl. Heike Krieger, Where States Fail, Non-State Actors Rise?, in: dies. (Hrsg.), Inducing Compliance with International Humanitarian Law, Cambridge 2015, S. 504–551, hier S. 511f.

  4. Vgl. dies./Jonas Püschmann, A Legitimacy Crisis of International Humanitarian Law, in: dies. (Hrsg.), Law-Making and Legitimacy in International Humanitarian Law, Cheltenham 2021, S. 429–450, hier S. 429f.

  5. International Court of Justice, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons (Advisory Opinion), 1996, ICJ Rep 253, para 95 (eig. Übersetzung).

  6. Vgl. Silja Vöneky, Implementation and Enforcement of International Humanitarian Law, in: Dieter Fleck (Hrsg.), The Handbook of International Humanitarian Law, Oxford 20214, Rn. 21.05.

  7. Vgl. Daniel Muñoz-Rojas/Jean-Jacques Frésard, The Roots of Behaviour in War, Genf 2004, S. 6ff.

  8. Siehe Art. 83 Abs. 1 ZP I; UN Security Council Resolution 1894, 11.11.2009.

  9. Muñoz-Rojas/Frésard (Anm. 7), S. 15f.

  10. Das folgt aus dem gemeinsamen Art. 1 der vier Genfer Konventionen.

  11. Zentrale Dienstvorschrift des Bundesverteidigungsministeriums A-2141/1 "Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten", Rn. 1527.

  12. Zum Ratifikationsstand siehe Externer Link: https://ihl-databases.icrc.org/en/ihl-treaties/gciv-1949/state-parties.

  13. Vgl. Keiichiro Okimoto, The Vietnam War and the Development of International Humanitarian Law, in: Suzannah Linton/Tim McCormack/Sandesh Sivakumaran (Hrsg.), Asia-Pacific Perspectives on International Humanitarian Law, Cambridge 2019, S. 156–179.

  14. Zum Ratifikationsstand siehe Externer Link: https://ihl-databases.icrc.org/en/ihl-treaties/api-1977/state-parties und Externer Link: https://ihl-databases.icrc.org/en/ihl-treaties/apii-1977/state-parties.

  15. Für eine Übersicht siehe Marco Sassòli, International Humanitarian Law, Cheltenham 2019, Rn. 4.17.

  16. Vgl. Jochen von Bernstorff, Is IHL a Sham?, in: European Journal of International Law 2/2020, S. 709–719, hier S. 715.

  17. Zum Ratifikationsstand siehe Externer Link: https://asp.icc-cpi.int/states-parties/states-parties-chronological-list.

  18. Vgl. Venedig Kommission, Gutachten zum möglichen Bedürfnis, die Genfer Konventionen fortzuentwickeln, Dok. CDL-AD(2003)018, Gutachten Nr. 245/2003, 12./13.12.2003.

  19. Vgl. UN General Assembly (GA), International Code of Conduct for Information Security, UN Dok. A/66/359, 14.9.2011; UN GA, Updated Concept for a Convention of the United Nations on Ensuring International Information Security, UN Dok. A/77/894, 16.5.2023.

  20. Vgl. etwa das Positionspapier der Bundesregierung, On the Application of International Law in Cyberspace, März 2021.

  21. Vgl. Joint Call by the UN Secretary General and the President of the ICRC, 5.10.2023, Externer Link: http://www.icrc.org/en/document/joint-call-un-and-icrc-establish-prohibitions-and-restrictions-autonomous-weapons-systems.

  22. Vgl. UN GA Resolution 78/241, 22.12.2023.

  23. Vgl. Political Declaration on Responsible Military Use of Artificial Intelligence and Autonomy, 9.11.2023.

  24. Vgl. Draft Articles on Autonomous Weapons Systems, CCW/GGE.1/2023/WP.4/Rev.2, 15.5.2023.

  25. Vgl. 32nd ICRC International Conference, Resolution 2: Strengthening Compliance with International Humanitarian Law (32IC/15/R2), 8.–10.12.2015.

  26. Vgl. ICRC, Factual Report on the Proceedings of the Intergovernmental Process on Strengthening Respect for IHL – Progress Report, Oktober 2019, S. 11.

  27. Vgl. etwa Nils Melzer, Interpretative Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities under International Humanitarian Law, Genf 2009.

  28. Vgl. etwa Michael Schmitt (Hrsg.), Tallinn Manual on the International Law Applicable to Cyber Warfare, Cambridge 2013.

  29. Vgl. Krieger/Püschmann (Anm. 4), S. 441.

  30. Vgl. Thilo Marauhn, The International Rule of Law in Light of Legitimacy Claims, in: Heike Krieger/Georg Nolte/Andreas Zimmermann (Hrsg.), The International Rule of Law – Rise or Decline?, Oxford 2019, S. 293–300, hier S. 294ff.; Michael Schmitt, Military Necessity and Humanity in International Humanitarian Law: Preserving the Delicate Balance, in: Virginia Journal of International Law 4/2010, S. 795–839, hier S. 816–838.

  31. Vgl. Robert Cryer, The Impact of Human Rights Advocacy, in: Krieger (Anm. 4), S. 385–403, hier S. 402.

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ist Professorin für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Freien Universität Berlin und Sprecherin der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Kollegforschungsgruppe "The International Rule of Law – Rise or Decline?"