Unter dem Eindruck der "Akte der Barbarei" des Nationalsozialismus, so heißt es in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, schuf die Mehrheit der seinerzeit souveränen Staaten die Grundlagen für das heutige, ausdifferenzierte Menschenrechtssystem – so auch die Völkermordkonvention von 1948 und die vier Genfer Konventionen (auch: Genfer Abkommen) von 1949. Bei den diplomatischen Konferenzen, etwa 1948 auf Einladung des Schweizer Bundesrates, fehlten allerdings weite Teile der Weltgesellschaft. Nicht nur die Besiegten des Zweiten Weltkrieges – die Bundesrepublik Deutschland wurde erst 1954 Vertragspartei, die DDR zwei Jahre darauf – waren abwesend. Dutzende von afrikanischen und asiatischen Staaten erstritten sich ihre Unabhängigkeit erst in den kommenden Jahrzehnten, teilweise in brutalen Kriegen, im Zeitalter der umkämpften Dekolonisation. Wenn nun heute, nach nunmehr 75 Jahren, Bilanz gezogen wird, fällt diese angesichts der vielen Kriege und Bürgerkriege der vergangenen Jahrzehnte und vor allem der Art und Weise, wie sie geführt wurden, zumeist negativ aus.
Immerhin 196 Staaten haben die Konventionen unterzeichnet, etwas weniger die Zusatzprotokolle von 1977. Wie sieht es aber mit der Durchsetzung des Genfer Rechts aus? Wirkt doch im Lichte der ungezählten zivilen Toten der aktuellen kriegerischen Konflikte die geläufige Bezeichnung des Rechtsgebiets als "humanitäres Völkerrecht" unangemessen. Kann man den rechtlichen Standard, der unter anderem hohe "Kollateralschäden" erlaubt – mitunter sind damit Hunderte von Menschenleben gemeint –, guten Gewissens "humanitär" nennen?
(Universeller) Anspruch der Genfer Konventionen
Die Etablierung der Genfer Konventionen von 1949 ist nicht nur dem unfassbar grausamen Zweiten Weltkrieg geschuldet. Zwar bestanden viele Regeln schon, der Krieg kostete dennoch Millionen Zivilist*innen und Soldat*innen das Leben. Aber auch davor gab es andere Vertragswerke unter dem Titel "Genfer Konventionen", und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hatte in den 1930er Jahren weitere Reformvorschläge vorgelegt – eine Entwicklung, die durch den Zweiten Weltkrieg kurzzeitig zum Erliegen kam.
Da zwischenstaatliche Kriege 1949 noch die häufigste Form bewaffneter Auseinandersetzungen waren, spielten nicht-internationale oder interne Konflikte nur eine untergeordnete Rolle in den Regelungen, vor allem im gemeinsamen Artikel 3. Dieser wurde 1949 als Reaktion unter anderem auf den Spanischen Bürgerkrieg eingefügt. In den Folgejahrzehnten zeigte sich jedoch, dass die nicht-internationalen bewaffneten Konflikte zur häufigsten Form kriegerischer Auseinandersetzungen wurden. Zudem blieb umstritten, ob dekoloniale Unabhängigkeitskriege überhaupt von den Genfer Konventionen erfasst sein sollten – und falls doch, ob als nicht-internationale oder internationale bewaffnete Konflikte.
Die Genfer Konventionen regeln vor allem zwei Bereiche: Den Schutz von Zivilist*innen sowie den Schutz von Kriegsgefangenen und von kampfunfähigen Soldat*innen zu Land und zu Wasser. Die erklärten Ziele sind damit eindeutig umrissen und betreffen "typische" Geschehnisse im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten. Damit verbunden enthalten die Genfer Konventionen Vorschriften etwa über die Art und Weise der Kriegführung und über die Besatzung fremder Gebiete.
Die Vorschriften über Kriegsgefangene in der dritten Konvention bilden bis heute eine gute Grundlage für Verhandlungen über Gefangenenaustausche, so etwa auch aktuell zwischen der Ukraine und Russland. Damit "befreien" sich die Staaten von anderweitigen Verpflichtungen, Kriegsgefangene gegebenenfalls zwecks Statusbestimmung vor Gericht zu stellen und ihre angemessene Versorgung und Behandlung bis zum Ende des Konflikts zu gewährleisten.
Dahingegen lässt die Beachtung der Grundprinzipien des Schutzes der Zivilbevölkerung nach wie vor sehr zu wünschen übrig. Zwar sind die Regeln zur Art und Weise der Kriegführung oder der Ausübung der Besatzung fremder Gebiete leitend für die Erstellung von Einsatzregeln und die Ausbildung von Streitkräften weltweit. In der praktischen Anwendung, in den bewaffneten Konflikten, fehlt es jedoch häufig an der Befolgung dieser Regeln, was zum Teil auch daran liegt, dass es stark divergierende Auslegungen der Normen zwischen den Staaten gibt und ein einheitlicher verbindlicher Durchsetzungsmechanismus fehlt.
Da so viele Staaten die Genfer Konventionen ratifiziert haben, sind sie praktisch universell gültig und gelten darüber hinaus als Völkergewohnheitsrecht. 1977 wurden sie durch zwei Zusatzprotokolle ergänzt, die vor allem den Schutz von Zivilist*innen in internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten erweiterten und konkretisierten. Letztere sind bislang "nur" von 174 beziehungsweise 169 Staaten ratifiziert worden, enthalten aber wiederum eine Reihe von Regelungen, die völkergewohnheitsrechtlich anerkannt sind und somit ebenfalls universelle Gültigkeit beanspruchen können.
Alle Vertragsstaaten haben sich verpflichtet, schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen zu verfolgen.
(Universelle) Wirklichkeit der Genfer Konventionen
Seit 1949 wurden und werden zahlreiche bewaffnete Konflikte geführt, in denen das humanitäre Völkerrecht offensichtlich nicht eingehalten wurde.
Zwar wurde mit den Nürnberger und Tokioter Militärtribunalen sowie den Nürnberger Folgeprozessen nach 1945 ein neues Zeitalter eingeleitet, in dem unter anderem auch Kriegsverbrechen von Individuen strafrechtlich verfolgt wurden. Mit Inkrafttreten der Genfer Konventionen zeigte sich aber rasch, dass deren Durchsetzbarkeit zwischen den Konfliktparteien sowie die Ahndung von schweren Verstößen schwierig werden würde. Weltweit wurde es vor allem den Staaten selbst überlassen, Kriegsverbrechen zu verfolgen. Im Zuge der Blockbildung im Kalten Krieg und aufgrund der Asymmetrie in dekolonialen Befreiungskämpfen standen politische Interessen der Verfolgung von schweren Verstößen gegen die Genfer Konventionen häufig im Wege.
Eindringliche Beispiele hierfür sind die Kriegsverbrechen französischer Streitkräfte in Algerien zwischen 1954 und 1962 oder der USA in Vietnam zwischen 1955 und 1975. In keinem dieser Konflikte wurden schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen geahndet, geschweige denn strafrechtlich aufgearbeitet. Frankreich behandelte die algerischen Kämpfer*innen nicht als Kombattant*innen gemäß den Genfer Konventionen, sondern als Terrorist*innen, was weit verbreitete Misshandlungen und Kriegsverbrechen nach sich zog. Auch die USA brandmarkten ihre Gegner in Vietnam häufig als "unzivilisiert", während sie selbst massive Verletzungen des humanitären Völkerrechts begingen, etwa durch den großflächigen Einsatz des chemischen Entlaubungsmittels Agent Orange oder die Bombardierung von Städten und Dörfern unter Einsatz von Napalm. Ähnliches gilt für den "Krieg gegen den Terror" nach 9/11. Zum einen sahen sich die USA in einem weltweiten bewaffneten Konflikt – einer nicht haltbaren Ausweitung eines globalen Ausnahmezustands, in dem die Menschenrechte, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt gelten sollten –, zum anderen legten sie das im Konflikt anwendbare humanitäre Völkerrecht so aus, dass bestimmte Personengruppen nicht unter dessen Schutz fielen. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist der – letztlich nicht erfolgreiche – Versuch, Häftlinge im Gefangenenlager Guantánamo als "unrechtmäßige Kämpfer" außerhalb des Rechts zu stellen. Aber auch die mehreren Tausend Toten durch bewaffnete Drohnenangriffe unter anderem in Pakistan, Jemen und Somalia resultieren aus dieser Entrechtlichung.
Der Anspruch der Genfer Konventionen, die Zivilbevölkerung zu schützen, blieb also vielfach ein leeres Versprechen. Die fehlende Durchsetzung lässt sie somit de facto weitestgehend leerlaufen. Während des Kalten Krieges hatte keine Seite ein politisches Interesse, ihre Opponenten rechtlich zu belangen; andere Staaten aus dem eigenen Lager schon gar nicht. Aber auch nach Ende des Kalten Krieges bleibt eine universelle Durchsetzung der Genfer Konventionen in weiter Ferne. Politische Machtverhältnisse dominieren die Völkerrechtsordnung, Staaten können sich ihrer Verantwortung entziehen – unter anderem auch durch die sehr auf die Vetostaaten zugeschnittenen Regeln des UN-Sicherheitsrates.
Die 1977 mit dem ersten Zusatzprotokoll eingeführte und seit 1991 aktive Internationale Humanitäre Untersuchungskommission wurde bislang kaum von Staaten in Anspruch genommen, um mutmaßliche Verstöße gegen die Genfer Konventionen zu untersuchen.
Zusätzlich hat sich über die zurückliegenden zwei Jahrzehnte allmählich eine internationale Strafjustiz herausgebildet, die universell geltende Standards an bewaffnete Konflikte anlegt. Ein Großteil der Verfahren richtet sich allerdings noch gegen nichtstaatliche Akteur*innen und Täter*innen aus Staaten mit weniger Möglichkeiten internationaler Einflussnahme. Die Haftbefehle gegen russische Staatsangehörige durch den Internationalen Strafgerichtshof sowie die beantragten Haftbefehle gegen Hamas-Führer und israelische Politiker deuten jedoch in Richtung einer "universelleren" Durchsetzung der Genfer Konventionen. Diese Entwicklungen sind indes noch als sehr fragil zu bezeichnen; es bleibt eine offene Frage, ob sie zu Strafverfahren vor Gericht führen werden. Dennoch zeigen die Zahl der geschaffenen Instanzen und die zunehmende Bedeutung der internationalen Strafjustiz seit den 1990er Jahren den Weg auf, die Genfer Konventionen durch strafrechtliche Mittel besser durchzusetzen.
Internationale Strafjustiz
Während des Kalten Krieges verblieben die internationalen Reaktionen häufig vor allem moralischer, politischer und gesellschaftlicher Natur, eine juristische Aufarbeitung und Ahndung der Verstöße unterblieb fast vollkommen. Die beschriebenen Normen über eine weltweite Verfolgungspflicht von schweren Verstößen führte praktisch zu keinem Verfahren; letztlich wollte kein Staat über die Täter*innen und damit implizit über die Kriegsverbrechen eines anderen Staates zu Gericht sitzen.
Erst in den 1990er Jahren etablierten sich mit den temporär eingerichteten UN-Sondertribunalen internationale Strafgerichtshöfe, die schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen ahnden sollten – so etwa im ehemaligen Jugoslawien und im Fall des nicht-internationalen Konflikts in Ruanda. Dies führte erstmals zu einer Vielzahl von Verurteilungen wegen Verstößen gegen die Genfer Konventionen. Das Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien verurteilte 90 Täter*innen bei insgesamt 161 Anklagen, unter anderem wegen der Begehung von Kriegsverbrechen. Das Straftribunal für Ruanda verhängte Freiheitsstrafen in 61 Fällen.
Neben diesen beiden Ad-hoc-Tribunalen gab es allerdings weiterhin nur wenige Verfahren zu anderen Konflikten. Der UN-Sicherheitsrat konnte sich aufgrund der Vetomacht der fünf ständigen Mitglieder nicht auf die Etablierung weiterer Tribunale einigen, vor allem nicht auf solche, die potenzielle Völkerstraftaten der fünf Vetomächte und ihrer Verbündeten zum Gegenstand gehabt hätten. Parallel dazu liefen allerdings in den 1990er Jahren Verhandlungen über ein Statut für einen permanenten internationalen Strafgerichtshof, der nicht nur situationsbedingt eingesetzt werden sollte.
Der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag ist seit dem 1. Juli 2002 aktiv, auf der Grundlage des Römischen Statuts von 1998, das inzwischen von 124 Staaten ratifiziert worden ist. Danach ist der IStGH für die strafrechtliche Verfolgung unter anderem von Kriegsverbrechen zuständig, sofern sie auf dem Gebiet oder von einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats des Römischen Statuts begangen wurden (Art. 12 Römisches Statut). Eine weitere Zuständigkeit ergibt sich, wenn der UN-Sicherheitsrat eine "Situation" an den IStGH überweist, in der etwa Kriegsverbrechen begangen worden sind (Art. 13). In diesem Fall muss der Staat, dessen Staatsgebiet oder Staatsangehörige betroffen sind, nicht Mitglied des Römischen Statuts sein.
Während dem IStGH im ersten Jahrzehnt seiner Existenz vielfach vorgeworfen wurde, den Fokus nur auf Völkerstraftaten auf dem afrikanischen Kontinent zu legen, hat sich das Gericht seither zu einem globalen Akteur gewandelt. Eine Schwierigkeit besteht allerdings immer noch darin, dass sich nicht alle der 196 Unterzeichnerstaaten der Genfer Konventionen dem Römischen Statut unterworfen haben und mit China, Russland und den USA drei Vetostaaten des UN-Sicherheitsrates sowie weitere bedeutende Mittelmächte fehlen. Die Frage, für welche Konflikte der IStGH zuständig ist und für welche nicht, wird daher häufig nach machtpolitischen und nicht nach völkerrechtlichen Kriterien entschieden.
Dennoch kann der IStGH auch gegenüber Täter*innen aus Nicht-Mitgliedstaaten tätig werden, wenn die Taten auf dem Staatsgebiet eines Mitgliedstaats verübt wurden. Dadurch ist der IStGH zum Beispiel in der Lage, auch zu russischen Völkerstraftaten in der Ukraine oder Georgien zu ermitteln, zu israelischen in Palästina oder zu US-amerikanischen in Afghanistan. Alle Staaten können Ermittlungen des IStGH "abwehren", wenn sie selbst in der Lage und willens sind, die Taten vor eigenen Gerichten strafrechtlich zu verfolgen. Insofern kann die Existenz des IStGH auch als Katalysator für zunehmende Verfahren auf staatlicher Ebene dienen – man spricht dann von positiver Komplementarität. Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass einheimische Verfahren dazu genutzt werden, die Taten nur eingeschränkt oder ohne konkrete Ergebnisse zu untersuchen. Ein Beispiel hierfür sind britische Ermittlungen zu Kriegsverbrechensvorwürfen im Irak, die der IStGH mit Blick auf Ermittlungen im Vereinigten Königreich nicht weiterverfolgte, obwohl es trotz hunderter Vorwürfe vor britischen Gerichten letzten Endes zu keiner einzigen strafrechtlichen Verurteilung kam.
Es bleibt damit festzuhalten, dass viele Verstöße ungeahndet bleiben. Denn Ähnliches wie für den IStGH gilt auch für die rechtlich möglichen Strafprozesse nach dem Weltrechtsprinzip. Nach den Genfer Konventionen sind alle Staaten dazu verpflichtet, schwere Verstöße zu verfolgen. De facto findet eine solche Verfolgung aber nur selten vor Gerichten in europäischen Staaten statt und auch wieder nur gegen Täter*innen, die nicht zu den direkten Verbündeten Europas zählen oder gar selbst europäische Staatsbürger*innen sind. Es klaffen also Lücken in der Reichweite der internationalen Strafjustiz.
Völkerstrafrecht in Deutschland
Deutschland ist seit 1954 Vertragspartei der Genfer Konventionen und unterliegt mithin der Pflicht zur Strafverfolgung oder Auslieferung von Personen, die für schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen verantwortlich sind. Abgesehen von Verfahren zur Aufarbeitung von NS-Verbrechen und solchen zum Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, in denen Tatbestände aus dem regulären Strafgesetzbuch verhandelt wurden, hat es erst 2011 das erste Strafverfahren wegen des Verdachts der Begehung von Kriegsverbrechen in Deutschland gegeben. Diesem lag das 2002 in Deutschland eingeführte Völkerstrafgesetzbuch zugrunde, in dem Kriegsverbrechen, ähnlich wie im Römischen Statut des IStGH, unter Strafe gestellt werden.
Der erste Kriegsverbrecherprozess in Deutschland betraf Tatverdächtige der ruandischen Rebellengruppe FDLR. Während nach mehrjährigem Prozess ein Angeklagter von den Vorwürfen freigesprochen wurde, konnte das Verfahren gegen den zweiten Angeklagten nach seiner Verurteilung in erster Instanz vor dem Oberlandesgericht Stuttgart aufgrund dessen Tod in Untersuchungshaft nicht rechtskräftig abgeschlossen werden.
Mit Blick auf erfolgreich durchgesetztes Völkerrecht sind in den vergangenen Jahren vor allem die Verfahren zu Tätern aus Syrien hervorzuheben, die in Deutschland und anderen europäischen Staaten – auch wegen des Kriegsverbrechens der Folter – zu mehreren Verurteilungen geführt haben.
Außerhalb des Strafrechts können die Genfer Konventionen ebenfalls Anwendung finden, etwa vor Verwaltungsgerichten, wenn es darum geht, ob bei der Genehmigung von Waffenexporten in Konfliktgebiete gegen humanitär-völkerrechtliche Verpflichtungen verstoßen wird, oder vor Zivilgerichten, wenn es um Entschädigungen für rechtswidriges Verhalten geht. Letztlich sind es also nicht nur Strafgerichte, die Verstöße gegen die Genfer Konventionen ahnden können. Gleichwohl sind derlei Verfahren nur sehr selten zu beobachten, was unter anderem daran liegt, dass sich Staaten vor Gerichten anderer Staaten auf ihre Immunität berufen können.
Fazit
Die Umsetzung der Genfer Konventionen bleibt auch nach 75 Jahren eine große Herausforderung. Das Durchsetzungsdefizit im Völkerrecht, vor allem wenn es mächtige Akteure betrifft, verringert sich zwar teilweise – aber die andauernden Doppelstandards sind fatal für die Rechtsentwicklung und die Legitimation internationaler Instanzen und Normen gerade im Kriegsvölkerrecht. Verrechtlichungstendenzen im Völkerrecht werden immer wieder blockiert und mit dem Hinweis auf die eigene Souveränität abschlägig beschieden. Andere Staaten berufen sich ebenso auf ihre staatliche Souveränität und sehen die Nichtakzeptanz des Völkerrechts bei der Kriegführung als ein Charakteristikum staatlicher Handlungsmacht.
Zugleich ist die aus Zeiten der Dekolonisationskämpfe stammende Strategie der Staaten, den jeweiligen Gegner als "unzivilisiert" oder "terroristisch" darzustellen und damit außerhalb des Rechts stellen zu wollen, noch immer verbreitet. Der Ausschluss des Rechts soll die Bekämpfung interner Opposition, nichtstaatlicher Gruppen oder einer besetzten Bevölkerung ohne Rücksicht auf die Genfer Konventionen oder die Menschenrechte ermöglichen.
Neben den schwachen Durchsetzungsmöglichkeiten der Genfer Konventionen ist es zum Teil aber auch das Recht selbst, das zwar einen Schutz von Zivilist*innen verspricht, diesen aber letztlich nicht gewährt. Namentlich bei Luftangriffen, sofern sie nicht gezielt auf zivile Ziele gerichtet sind, kommt es darauf an, ob der befehlshabende Kommandeur zum Zeitpunkt der Angriffsentscheidung vorhersehen konnte, ob die zivilen Schäden im Vergleich zum erwünschten militärischen Vorteil exzessiv beziehungsweise unverhältnismäßig sein würden. Mit anderen Worten: Im bewaffneten Konflikt dürfen Zivilist*innen gezielt getötet werden und verlieren ihren Schutz, wenn der militärische Vorteil höher eingeschätzt wird. Dabei definiert das Recht auch nicht, was genau ein militärischer Vorteil ist und ab wann zivile Schäden im Verhältnis hierzu als exzessiv einzustufen sind. Folglich ist die rechtliche Handhabe schwierig, und es bleibt den Staaten und Streitkräften überlassen, dies für sich selbst zu definieren.
Die unermüdliche Arbeit der Zivilgesellschaften, in den Vereinten Nationen, von internationalen Gerichten, des IKRK, von Rechtsanwält*innen und weiteren Akteur*innen hat ein Gegengewicht hierzu geschaffen, um der Erosion des Rechts entgegenzuwirken. Die Vernetzung und Einbeziehung derjenigen, die auch im nationalen Rahmen, etwa durch Prozesse vor nationalen Gerichten, als Garanten für Rechtsstaatlichkeit stehen, kann auch auf internationaler Ebene dazu beitragen, eine stärkere Durchsetzung internationaler Regeln zu erreichen.
In Zeiten eines fehlenden Grundkonsenses in der Staatengemeinschaft ist die Aussicht gering, den rechtlichen Schutz durch Reformen oder neue Konventionen verbessern zu können. Der Auslegung und Durchsetzung der bestehenden Regeln, angewandt auf die Herausforderungen der heutigen Zeit, kommt daher eine hohe Bedeutung zu. Dies gilt auch für Bereiche der fortschreitenden Technisierung und Automatisierung der Wehrtechnik, etwa bei zunehmend autonomen Waffensystemen und dem Einsatz künstlicher Intelligenz, die, jenseits aller datenschutzrechtlicher Vorschriften, eine oftmals todbringende Zielauswahl vornimmt, die das Handeln des Kommandanten bestimmt. Es bleibt ein Kampf gegen die Zeit, die über Jahrzehnte aufgeweichten Regelungen der Genfer Konventionen durch verbesserte Durchsetzungs- und Strafverfolgungsmechanismen einzudämmen, bevor der technische Fortschritt weitere zerstörerische Konflikte mit weitaus höherer Feuerkraft und Angriffssequenzen durch eine Teilautomatisierung noch barbarischer macht.