Die Republik Südsudan wurde mit Erlangung der Unabhängigkeit von der Republik Sudan am 9. Juli 2011 zum jüngsten Staat der Erde. Bereits im darauffolgenden Jahr nahm der Südsudan durch den Geneva Convention Act die Bestimmungen der Genfer Konventionen an. Der offizielle Beitritt erfolgte am 25. Januar 2013 mit Hinterlegung der Ratifikationsurkunde. Dies ist insofern ein bemerkenswerter Vorgang, als der Südsudan anderen völkerrechtlichen Verträgen, insbesondere menschenrechtlichen Vertragsregimen, die ebenfalls von nahezu universeller Geltung sind, erst erheblich später beitrat.
Die Gründe für den schnellen Beitritt sind sicher mannigfaltig. Das Versprechen der Genfer Konventionen auf Schutz in bewaffneten Konflikten dürfte aber keine unerhebliche Rolle gespielt haben. Dieses Versprechen geht bereits aus den offiziellen Titeln der vier Verträge hervor, die gemeinsam das unter "Genfer Konventionen" bekannte Vertragswerk bilden. Es formt den Grundstock des Rechtsgebiets, das heute als humanitäres Völkerrecht oder, technischer, als Recht des bewaffneten Konflikts bezeichnet wird: das Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde (Genfer Konvention I), das Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See (Genfer Konvention II), das Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen (Genfer Konvention III) sowie das Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (Genfer Konvention IV).
Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob die Genfer Konventionen von 1949 diesem Versprechen gerecht werden konnten. Hierzu wird zunächst ihre Entstehungsgeschichte beleuchtet und gezeigt, wie das sogenannte Kriegsrecht im 19. Jahrhundert im Europa der Nationalstaaten zur Legitimierung der Kriegführung in Stellung gebracht wurde. Anschließend werden die Konventionen in das heutige, von der Charta der Vereinten Nationen geprägte Völkerrechtssystem eingeordnet und Überlegungen angestellt, ob diese legitimierende Funktion weiterhin besteht. Abschließend wird die Frage aufgeworfen, ob das Schutzversprechen inzwischen nicht besser von einem menschenrechtlichen Regime wahrgenommen werden könnte.
Eine (sehr) kurze Geschichte des Rechts von Krieg und Frieden
Krieg und Frieden sind historisch gesehen die beiden großen Fluchtpunkte des Völkerrechts. Der auch heute noch als "Vater" des modernen Völkerrechts bezeichnete niederländische Jurist Hugo Grotius
Und in der Tat stehen die Genfer Konventionen ideengeschichtlich in der langen Tradition des Versuches, den Kriegszustand rechtlich zu erfassen und die verursachten Leiden durch eine Regulierung abzumildern. Entgegen Ciceros berühmtem Ausspruch "inter arma silent leges" ("Unter Waffen schweigen die Gesetze") finden sich über die Jahrhunderte hinweg Beispiele rechtlicher Einschränkungen. Besonders bekannt ist die Ächtung bestimmter Waffen, etwa von Deformationsgeschossen (insbesondere der berüchtigten Dum-Dum-Geschosse), oder bestimmter Methoden, etwa das Vergiften von Brunnen. Im zwischen 200 v. Chr. und 200 n. Chr. entstandenen indischen Manusmriti ("Gesetzbuch des Manu") ist etwa eine Passage über "zivilisierte Kriegführung" enthalten, die bestimmte Tötungsverbote im Krieg etablierte.
Gleichwohl waren diese Regeln bis zur Haager Landkriegsordnung von 1899 spärlich, verstreut und weitestgehend nicht verschriftlicht.
Die Figur vom gerechten Krieg, die Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert in seiner "Summa Theologica" weiter ausdifferenzierte, war jedoch vor allem Teil einer christlichen Friedensethik, die die Frage beantworten sollte, ob Christen ohne Verstoß gegen das Gebot der Nächstenliebe an einem Krieg teilnehmen können.
In der Folge verlagerte sich der Fokus von der Regulierung des "Ob" des Krieges (ius ad bellum) hin zur Regulierung des "Wie" (ius in bello). Die grundlegenden Kodifikationen dieses ius in bello erfolgten in den 1860er Jahren, insbesondere mit der (ersten) Genfer Konvention von 1864. Das Dokument als solches war denkbar kurz. In nur zehn Artikeln kamen die unterzeichnenden Staaten darin überein, medizinisches Personal sowie verwundete und erkrankte Soldaten unter den Schutz der Konvention zu stellen, das heißt, sie vom Kreis legitimer Angriffsziele auszunehmen.
Mythos von 1864
Die Genfer Konvention umwehte bereits vor ihrer Ratifikation ein "Gründungsmythos", der bis in unsere Zeit anhält. In einem 1966 im "International Review of the Red Cross" erschienenen Aufsatz heißt es etwa, die Nationen hätten "zum ersten Mal in der Geschichte durch ein feierliches schriftliches Gelöbnis Einschränkungen ihrer nationalen Souveränität zum Wohle Einzelner sogar mitten im Kriege zugestimmt, der zu jener Zeit als unwiderstehliche, nicht einzudämmende Woge der Gewalt galt".
Diese festliche Sprache ist zu einem erheblichen Teil mit der Person Henry Dunants, dem Initiator der ersten Genfer Konvention, verbunden. In seinem einflussreichen Bericht über die Schlacht von Solferino aus dem Jahre 1862 heißt es etwa: "Welcher Fürst, welcher Monarch könnte diesen Gesellschaften [gemeint sind die Rotkreuzgesellschaften] seine Unterstützung versagen, und wer von ihnen wäre nicht glücklich, den Soldaten seiner Armee die volle Sicherheit zu verschaffen, dass sie, sobald sie verwundet sind, alsogleich und in der sorgfältigsten Weise gepflegt werden? Welcher Staat würde denen nicht seinen Schutz gewähren, welche auf diese Weise das Leben brauchbarer Bürger zu erhalten suchen? Ein Krieger, der seinem Vaterland dient, oder es verteidigt, hat er nicht Anspruch auf die Sorge seines Vaterlandes?"
Dem klassischen Narrativ nach war Dunant mehr oder weniger zufällig auf das Schlachtfeld von Solferino gelangt und vom Schicksal der zum Sterben zurückgelassenen Soldaten so ergriffen, dass in ihm die Rotkreuzidee heranreifte. Im Rahmen seiner Möglichkeiten behandelte er Wunden, versorgte Soldaten mit Nahrung und schrieb die letzten Worte sterbender Soldaten auf, um sie an die Familien in der Heimat zu schicken. Insbesondere bat er die siegreiche französische Armee darum, gefangene österreichische Chirurgen freizulassen, sodass sie bei der Wundversorgung von Soldaten beider Seiten helfen konnten.
Und tatsächlich konnten sich die gekrönten Häupter Europas dieser Idee nicht verschließen. Bereits der zwischen 1853 und 1856 ausgefochtene Krimkrieg hatte gezeigt, dass die Öffentlichkeit in der Heimat – in diesem Fall die britische – nicht länger bereit war, Berichte vom humanitären Leid "ihrer" Soldaten, die allesamt Väter, Söhne, Brüder oder Onkel waren, unwidersprochen hinzunehmen. Großbritannien entsandte damals aufgrund erheblichen öffentlichen Drucks eine Gruppe von Krankenschwestern unter Florence Nightingale, die bis heute für ihr humanitäres Wirken verehrt wird.
Gerade der letzte Gedanke ist in einer Abwandlung von der preußisch-deutschen Kriegführung bekannt. Im Generalstab war man der Ansicht, der Krieg müsse in aller Härte geführt werden. Nicht nur würde dies den Konflikt an sich verkürzen, sondern das Wissen, was ein "ungemilderter" Kriegszustand bedeute, sollte, so der Gedanke, künftige Kriege seltener werden lassen. Der Völkerrechtler Carl Lueder schrieb etwa, dass eine "Humanitätsrücksicht" grundsätzlich nie infrage käme, "ganz abgesehen davon, daß die wahre Humanität möglichst baldige Beendigung und folglich energische Führung des Krieges verlangt und daß weitergehenden Rücksichten, auch wenn sie von der Theorie der Völkerrechtswissenschaft gefordert werden sollten, niemals von der Praxis der Kriegführung beachtet werden würden".
Aber auch grundsätzlich humanitär gesonnene Akteure meldeten Vorbehalte gegen die Genfer Konvention an. Nightingale befürchtete etwa, der Vertrag biete den Regierungen Europas "größere Möglichkeiten (…) neue Kriege zu entfachen". Ähnlich erblickte die Friedensaktivistin Bertha von Suttner in der Konvention von 1864 nichts anderes als ein "stillschweigendes Sanktionieren und Vorhersagen" des Krieges. Zu diesem Befund passt es dann auch, dass etwa der preußische Kriegsminister sehr über die Konvention erfreut war und ihre Ratifikation unterstützte: Die kostenlose Unterstützung der privaten Hilfsvereine stellten aus finanzieller Sicht eine willkommene Hilfe dar, hätte die andernfalls erforderliche Ausweitung des Sanitätspersonals doch "sehr beträchtliche (…) Kosten" verursacht. Die freiwilligen Helfer aber "werden nichts kosten, man wird sie rufen und entlassen, wenn immer es beliebt".
Das Projekt der Entwicklung des humanitären Völkerrechts, das 1864 in Genf seinen Ausgang genommen hatte, wurde auf Folgekonferenzen in den Jahren 1906 und 1929 weiter verfolgt und umfasste am Ende den Schutz aller "klassischen" Opfer von Kriegen: Verwundete, Kranke, Schiffbrüchige, Kriegsgefangene und Zivilisten. 1949 wurde es in seine heutige Form gebracht und 1977 durch zwei optionale Zusatzprotokolle ergänzt.
Die Genfer Konventionen im System der UN-Charta
Nur unwesentlich älter als die Genfer Konventionen von 1949 ist die Charta der Vereinten Nationen, die am 26. Juni 1945 auf der Konferenz von San Francisco unterzeichnet wurde. Dieser multilaterale Vertrag, der auch als "Constitution of the International Community" bezeichnet wurde,
Der Historiker Boyd van Dijk hat eindrucksvoll dargelegt, dass die Motivation der Verfasser der Genfer Konventionen weniger – wie bisher überwiegend angenommen – in der Reaktion auf vergangene Konflikte begründet war als in dem Bestreben, die zukünftige Kriegführung zu formen. Folgerichtig lautet der Titel seiner Studie "Preparing for War".
In keinem dieser Konflikte schien jedoch die bloße Existenz einer "Notordnung" den Ausbruch zu erleichtern oder zu beschleunigen. Im Gegenteil: Das humanitäre Völkerrecht wird von gewissen Staaten durchaus als Bürde wahrgenommen, die einer effektiven Kriegführung entgegensteht. Das prominenteste Beispiel ist wohl der Versuch der USA, die Figur eines sogenannten unlawful beziehungsweise illegal combatant zu etablieren, um den Verpflichtungen der Genfer Konventionen gegenüber Mitgliedern der Taliban und al-Qaida zu entgehen.
Der Schwerpunkt des Diskurses scheint aber mehr in der Ius-ad-bellum-Dimension des Konfliktes zu liegen. Seit 1945 versuchten Staaten regelmäßig, rechtswidrige militärische Interventionen durch extensive Interpretationen des Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 51 der UN-Charta zu rechtfertigen. Ein bekanntes Beispiel ist die sogenannte Bush-Doktrin, die ein präemptives – also vorauseilendes – Selbstverteidigungsrecht etablieren sollte, bevor die eigentliche Selbstverteidigungslage überhaupt entstand.
Damit verbunden ist die Frage nach dem quis iudicabit: Wer entscheidet über die Grenzen des Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 51 der UN-Charta, sollte die Frage im Einzelfall weder rechtlich vor dem IGH noch politisch im Sicherheitsrat diskutiert werden können? Insbesondere die Vereinigten Staaten widersprachen zum Beispiel der Studie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zur völkergewohnheitsrechtlichen Geltung von humanitärem Völkerrecht
Humanisierung des Humanitären Völkerrechts?
Die Bezeichnung "humanitäres Völkerrecht" sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein in nicht unerheblicher Weise permissives, also nachgiebiges, Instrument handelt. Es akzeptiert und autorisiert die Tötung von Menschen. Ein Angriff etwa, "bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht", ist ausweislich des Ersten Zusatzprotokolls von 1977 (Art. 51 Abs. 5 lit. b) nur dann als verbotener unterschiedsloser Angriff anzusehen, wenn vorgenannte Folgen "in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen". Der Völkerrechtler Charles Trumbull hat diesbezüglich betont, dass man nicht leichtfertig glauben dürfe, "dass das Recht des bewaffneten Konflikts moralische Prinzipien perfekt widerspiegelt oder dass Handlungen, die mit ihm in Einklang stehen, moralisch zulässig sind".
In einem einflussreichen Artikel aus dem Jahr 2000 hat Theodor Meron, Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien von 2001 bis 2017, eine "Humanisierung des humanitären Rechts" nachgewiesen. Beigetragen habe hierzu insbesondere "die Bewegung von einer interstaatlichen zu einer individuell-rechtlichen Perspektive", wie es etwa durch die Etablierung individueller Verantwortlichkeit im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs sowie durch die zunehmende Anerkennung der Fortgeltung der menschenrechtlichen Verträge geschehe.
Gerade die menschenrechtlichen Kontrollmechanismen bieten ein gewisses Feinsteuerungs- und Konkretisierungspotenzial humanitär-völkerrechtlicher Pflichten. So hat etwa der UN-Menschenrechtsausschuss für das im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte gewährte Recht auf Leben und Freiheit dahingehend eine staatliche Planungs- und Kontrollpflicht abgeleitet, dass sichergestellt werden muss, dass ein Angriff Risiken für Leben (Art. 6 Abs. 1 Satz 1) und Freiheit (Art. 9 Abs. 1 Satz 1) weitestgehend minimiert.
Das Beispiel des Südsudans zeigt, dass das Schutzversprechen der Genfer Konventionen nach wie vor große Anziehungskraft genießt. Ob es erfüllt werden kann, hängt nicht allein von den Verträgen ab, sondern ist auch ein Spiegel des Prozesses einer internationalen Überzeugungsbildung, die menschlichen Kosten von bewaffneten Konflikten zu minimieren.