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Genfer Konventionen Editorial Kriege erfahren, Kriegsgewalt eindämmen Ein grausames Recht? Das humanitäre Völkerrecht zwischen Anspruch und Wirklichkeit Die Genfer Konventionen in der Praxis Vom Roten Kreuz bis zum Roten Kristall Wer kennt das humanitäre Völkerrecht?

Ein grausames Recht?

Raphael Schäfer

/ 16 Minuten zu lesen

Die Bezeichnung „humanitäres Völkerrecht“ sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich auch um ein nachgiebiges Instrument handelt. Es akzeptiert und autorisiert in gewissen Grenzen die Tötung von Menschen. Dies zeigt sich in der Geschichte ebenso wie in der Gegenwart.

Die Republik Südsudan wurde mit Erlangung der Unabhängigkeit von der Republik Sudan am 9. Juli 2011 zum jüngsten Staat der Erde. Bereits im darauffolgenden Jahr nahm der Südsudan durch den Geneva Convention Act die Bestimmungen der Genfer Konventionen an. Der offizielle Beitritt erfolgte am 25. Januar 2013 mit Hinterlegung der Ratifikationsurkunde. Dies ist insofern ein bemerkenswerter Vorgang, als der Südsudan anderen völkerrechtlichen Verträgen, insbesondere menschenrechtlichen Vertragsregimen, die ebenfalls von nahezu universeller Geltung sind, erst erheblich später beitrat.

Die Gründe für den schnellen Beitritt sind sicher mannigfaltig. Das Versprechen der Genfer Konventionen auf Schutz in bewaffneten Konflikten dürfte aber keine unerhebliche Rolle gespielt haben. Dieses Versprechen geht bereits aus den offiziellen Titeln der vier Verträge hervor, die gemeinsam das unter "Genfer Konventionen" bekannte Vertragswerk bilden. Es formt den Grundstock des Rechtsgebiets, das heute als humanitäres Völkerrecht oder, technischer, als Recht des bewaffneten Konflikts bezeichnet wird: das Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde (Genfer Konvention I), das Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See (Genfer Konvention II), das Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen (Genfer Konvention III) sowie das Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (Genfer Konvention IV).

Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob die Genfer Konventionen von 1949 diesem Versprechen gerecht werden konnten. Hierzu wird zunächst ihre Entstehungsgeschichte beleuchtet und gezeigt, wie das sogenannte Kriegsrecht im 19. Jahrhundert im Europa der Nationalstaaten zur Legitimierung der Kriegführung in Stellung gebracht wurde. Anschließend werden die Konventionen in das heutige, von der Charta der Vereinten Nationen geprägte Völkerrechtssystem eingeordnet und Überlegungen angestellt, ob diese legitimierende Funktion weiterhin besteht. Abschließend wird die Frage aufgeworfen, ob das Schutzversprechen inzwischen nicht besser von einem menschenrechtlichen Regime wahrgenommen werden könnte.

Eine (sehr) kurze Geschichte des Rechts von Krieg und Frieden

Krieg und Frieden sind historisch gesehen die beiden großen Fluchtpunkte des Völkerrechts. Der auch heute noch als "Vater" des modernen Völkerrechts bezeichnete niederländische Jurist Hugo Grotius unterteilte in seinem 1625 erschienenen Hauptwerk "De Jure Belli Ac Pacis" das Völkerrecht in diese beiden Teilbereiche. Anhand einer Analyse der tradierten griechischen und römischen Praxis der Antike argumentierte er, dass das Völkerrecht ein originär kriegsrechtliches Regime kennt.

Und in der Tat stehen die Genfer Konventionen ideengeschichtlich in der langen Tradition des Versuches, den Kriegszustand rechtlich zu erfassen und die verursachten Leiden durch eine Regulierung abzumildern. Entgegen Ciceros berühmtem Ausspruch "inter arma silent leges" ("Unter Waffen schweigen die Gesetze") finden sich über die Jahrhunderte hinweg Beispiele rechtlicher Einschränkungen. Besonders bekannt ist die Ächtung bestimmter Waffen, etwa von Deformationsgeschossen (insbesondere der berüchtigten Dum-Dum-Geschosse), oder bestimmter Methoden, etwa das Vergiften von Brunnen. Im zwischen 200 v. Chr. und 200 n. Chr. entstandenen indischen Manusmriti ("Gesetzbuch des Manu") ist etwa eine Passage über "zivilisierte Kriegführung" enthalten, die bestimmte Tötungsverbote im Krieg etablierte.

Gleichwohl waren diese Regeln bis zur Haager Landkriegsordnung von 1899 spärlich, verstreut und weitestgehend nicht verschriftlicht. Auf völkerrechtlicher Ebene galten sie, wenn überhaupt, nur gewohnheitsrechtlich. Das einzige Element, welches zumindest im Ansatz als dogmatischer Ordnungsfaktor verstanden werden kann, war die (abendländische) Lehre vom gerechten Krieg (bellum iustum). Nach dieser maßgeblich von Augustinus von Hippo Anfang des 5. Jahrhunderts entwickelten Lehre musste ein Krieg, um als "gerecht", das heißt im weitesten Sinne "rechtmäßig", zu gelten, bestimmte Anforderungen erfüllen. Insbesondere musste er auf gerechte Art und Weise geführt werden; sein Ziel musste die Herstellung eines gerechten Friedens (pax iusta) sein. Hierfür war es erforderlich, die Kriegführung dem "Gedanken der Mäßigung" zu unterwerfen, was Assoziationen an das heutige humanitär-völkerrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip weckt.

Die Figur vom gerechten Krieg, die Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert in seiner "Summa Theologica" weiter ausdifferenzierte, war jedoch vor allem Teil einer christlichen Friedensethik, die die Frage beantworten sollte, ob Christen ohne Verstoß gegen das Gebot der Nächstenliebe an einem Krieg teilnehmen können. Sie gelangte jedoch an ihre Grenze, als der spanische Spätscholastiker Francisco de Vitoria im 16. Jahrhundert feststellte, dass beide Seiten für sich – sogar irrtümlich – in Anspruch nehmen könnten, einen gerechten Krieg zu führen (bellum iustum ex utraque parte). Die Etablierung souveräner Nationalstaaten im Rahmen des Westfälischen Friedens von 1648 führte dazu, dass diese über ein weitestgehend freies Kriegführungsrecht (liberum ius ad bellum) verfügten, wenngleich es nicht unbegrenzt war.

In der Folge verlagerte sich der Fokus von der Regulierung des "Ob" des Krieges (ius ad bellum) hin zur Regulierung des "Wie" (ius in bello). Die grundlegenden Kodifikationen dieses ius in bello erfolgten in den 1860er Jahren, insbesondere mit der (ersten) Genfer Konvention von 1864. Das Dokument als solches war denkbar kurz. In nur zehn Artikeln kamen die unterzeichnenden Staaten darin überein, medizinisches Personal sowie verwundete und erkrankte Soldaten unter den Schutz der Konvention zu stellen, das heißt, sie vom Kreis legitimer Angriffsziele auszunehmen.

Mythos von 1864

Die Genfer Konvention umwehte bereits vor ihrer Ratifikation ein "Gründungsmythos", der bis in unsere Zeit anhält. In einem 1966 im "International Review of the Red Cross" erschienenen Aufsatz heißt es etwa, die Nationen hätten "zum ersten Mal in der Geschichte durch ein feierliches schriftliches Gelöbnis Einschränkungen ihrer nationalen Souveränität zum Wohle Einzelner sogar mitten im Kriege zugestimmt, der zu jener Zeit als unwiderstehliche, nicht einzudämmende Woge der Gewalt galt".

Diese festliche Sprache ist zu einem erheblichen Teil mit der Person Henry Dunants, dem Initiator der ersten Genfer Konvention, verbunden. In seinem einflussreichen Bericht über die Schlacht von Solferino aus dem Jahre 1862 heißt es etwa: "Welcher Fürst, welcher Monarch könnte diesen Gesellschaften [gemeint sind die Rotkreuzgesellschaften] seine Unterstützung versagen, und wer von ihnen wäre nicht glücklich, den Soldaten seiner Armee die volle Sicherheit zu verschaffen, dass sie, sobald sie verwundet sind, alsogleich und in der sorgfältigsten Weise gepflegt werden? Welcher Staat würde denen nicht seinen Schutz gewähren, welche auf diese Weise das Leben brauchbarer Bürger zu erhalten suchen? Ein Krieger, der seinem Vaterland dient, oder es verteidigt, hat er nicht Anspruch auf die Sorge seines Vaterlandes?"

Dem klassischen Narrativ nach war Dunant mehr oder weniger zufällig auf das Schlachtfeld von Solferino gelangt und vom Schicksal der zum Sterben zurückgelassenen Soldaten so ergriffen, dass in ihm die Rotkreuzidee heranreifte. Im Rahmen seiner Möglichkeiten behandelte er Wunden, versorgte Soldaten mit Nahrung und schrieb die letzten Worte sterbender Soldaten auf, um sie an die Familien in der Heimat zu schicken. Insbesondere bat er die siegreiche französische Armee darum, gefangene österreichische Chirurgen freizulassen, sodass sie bei der Wundversorgung von Soldaten beider Seiten helfen konnten. Allerdings sollte in der Gesamtbetrachtung nicht vernachlässigt werden, dass er Napoleon III. mit rein wirtschaftlichen Absichten hinterhergereist war, um von ihm Konzessionen für den Export von Weizenmehl von Algerien nach Europa zu erhalten. Er verband seine Idee der Rotkreuzgesellschaften (Sociétés de secours pour les blessés) mit dem Umstand, dass "Berichte über humanitäre und soziale Missstände (…) von den sich allmählich emanzipierenden Bürgergesellschaft nicht mehr klag- und widerspruchslos hingenommen" wurden.

Und tatsächlich konnten sich die gekrönten Häupter Europas dieser Idee nicht verschließen. Bereits der zwischen 1853 und 1856 ausgefochtene Krimkrieg hatte gezeigt, dass die Öffentlichkeit in der Heimat – in diesem Fall die britische – nicht länger bereit war, Berichte vom humanitären Leid "ihrer" Soldaten, die allesamt Väter, Söhne, Brüder oder Onkel waren, unwidersprochen hinzunehmen. Großbritannien entsandte damals aufgrund erheblichen öffentlichen Drucks eine Gruppe von Krankenschwestern unter Florence Nightingale, die bis heute für ihr humanitäres Wirken verehrt wird. Es war aber auch dieselbe Florence Nightingale, die erklärte: "Für unsere Regierung ist es völlig unbedenklich, die Konvention in ihrer jetzigen Form zu unterzeichnen. Sie läuft auf nichts anderes hinaus als auf eine Erklärung, dass Menschlichkeit gegenüber Verwundeten eine gute Sache ist. Sie ist wie ein Opernchor (…). Abgesehen davon, dass ich mich selbst nicht für eine unmenschliche Person halte, kann ich mir Umstände höherer Gewalt im Krieg vorstellen, bei denen es umso besser ist, je mehr Menschen getötet werden."

Gerade der letzte Gedanke ist in einer Abwandlung von der preußisch-deutschen Kriegführung bekannt. Im Generalstab war man der Ansicht, der Krieg müsse in aller Härte geführt werden. Nicht nur würde dies den Konflikt an sich verkürzen, sondern das Wissen, was ein "ungemilderter" Kriegszustand bedeute, sollte, so der Gedanke, künftige Kriege seltener werden lassen. Der Völkerrechtler Carl Lueder schrieb etwa, dass eine "Humanitätsrücksicht" grundsätzlich nie infrage käme, "ganz abgesehen davon, daß die wahre Humanität möglichst baldige Beendigung und folglich energische Führung des Krieges verlangt und daß weitergehenden Rücksichten, auch wenn sie von der Theorie der Völkerrechtswissenschaft gefordert werden sollten, niemals von der Praxis der Kriegführung beachtet werden würden".

Aber auch grundsätzlich humanitär gesonnene Akteure meldeten Vorbehalte gegen die Genfer Konvention an. Nightingale befürchtete etwa, der Vertrag biete den Regierungen Europas "größere Möglichkeiten (…) neue Kriege zu entfachen". Ähnlich erblickte die Friedensaktivistin Bertha von Suttner in der Konvention von 1864 nichts anderes als ein "stillschweigendes Sanktionieren und Vorhersagen" des Krieges. Zu diesem Befund passt es dann auch, dass etwa der preußische Kriegsminister sehr über die Konvention erfreut war und ihre Ratifikation unterstützte: Die kostenlose Unterstützung der privaten Hilfsvereine stellten aus finanzieller Sicht eine willkommene Hilfe dar, hätte die andernfalls erforderliche Ausweitung des Sanitätspersonals doch "sehr beträchtliche (…) Kosten" verursacht. Die freiwilligen Helfer aber "werden nichts kosten, man wird sie rufen und entlassen, wenn immer es beliebt".

Das Projekt der Entwicklung des humanitären Völkerrechts, das 1864 in Genf seinen Ausgang genommen hatte, wurde auf Folgekonferenzen in den Jahren 1906 und 1929 weiter verfolgt und umfasste am Ende den Schutz aller "klassischen" Opfer von Kriegen: Verwundete, Kranke, Schiffbrüchige, Kriegsgefangene und Zivilisten. 1949 wurde es in seine heutige Form gebracht und 1977 durch zwei optionale Zusatzprotokolle ergänzt.

Die Genfer Konventionen im System der UN-Charta

Nur unwesentlich älter als die Genfer Konventionen von 1949 ist die Charta der Vereinten Nationen, die am 26. Juni 1945 auf der Konferenz von San Francisco unterzeichnet wurde. Dieser multilaterale Vertrag, der auch als "Constitution of the International Community" bezeichnet wurde, gibt in Artikel 2 Absatz 4 ein umfassendes Gewaltverbot (prohibition on the use of force) vor. Gewaltanwendung ist fortan nur noch im Falle der Selbstverteidigung nach Artikel 51 oder mit Autorisierung des Sicherheitsrats nach Kapitel VII der Charta zulässig. Die Institution "Krieg" wurde durch die UN-Charta abgeschafft und durch die Rechtsfigur des "(internationalen) bewaffneten Konflikts" ersetzt. Dies war in der Tat ein absolutes Novum, vorherige Versuche wie die Drago-Porter-Konvention, der Kellogg-Briand-Pakt oder die Völkerbundsatzung bezogen sich vornehmlich auf die (partielle) Ächtung des Krieges, nicht auf den Ausschluss von Gewalt generell. Das Verbot des Artikel 2 Absatz 4 wird heute als Teil des zwingenden Völkerrechts (ius cogens) angesehen, von dem grundsätzlich keine Abweichung möglich ist. Darüber hinaus etabliert Artikel 103 den unbedingten Vorrang der Charta gegenüber jeglichen Verpflichtungen aus anderen Verträgen.

Der Historiker Boyd van Dijk hat eindrucksvoll dargelegt, dass die Motivation der Verfasser der Genfer Konventionen weniger – wie bisher überwiegend angenommen – in der Reaktion auf vergangene Konflikte begründet war als in dem Bestreben, die zukünftige Kriegführung zu formen. Folgerichtig lautet der Titel seiner Studie "Preparing for War". Der Titel ist im positiven Sinne provokant, steht er doch scheinbar im Widerspruch zum Gewaltverbot der UN-Charta. Jedoch besteht dieser Widerspruch bei Lichte betrachtet nicht, jedenfalls nicht in diesem Extrem. Erstens lässt die Charta die Anwendung bewaffneter Gewalt in den genannten Fällen von Artikel 51 sowie nach Kapitel VII zu. Die Genfer Konventionen bilden damit eine "völkerrechtliche Notordnung", die die "Wahrung eines Mindestmaßes an Menschlichkeit" gewährleisten soll. Daneben sind, zweitens, bewaffnete Konflikte, international wie "nicht-international" (also Bürgerkriege), ein nicht zu leugnender Teil der Realität. Das Uppsala Conflict Data Program etwa ermittelte für das Jahr 2023 mit 59 militärischen Konflikten so viele wie noch nie seit Beginn der Datenerhebung 1946.

In keinem dieser Konflikte schien jedoch die bloße Existenz einer "Notordnung" den Ausbruch zu erleichtern oder zu beschleunigen. Im Gegenteil: Das humanitäre Völkerrecht wird von gewissen Staaten durchaus als Bürde wahrgenommen, die einer effektiven Kriegführung entgegensteht. Das prominenteste Beispiel ist wohl der Versuch der USA, die Figur eines sogenannten unlawful beziehungsweise illegal combatant zu etablieren, um den Verpflichtungen der Genfer Konventionen gegenüber Mitgliedern der Taliban und al-Qaida zu entgehen. Dieser Vorstoß wird in Staatenpraxis und Wissenschaft allerdings weit überwiegend mit der Begründung abgelehnt, das humanitäre Völkerrecht kenne grundsätzlich nur Kombattanten und Zivilisten, aber keine dritte "Mischform". Gerade Verstöße gegen die Genfer Konventionen, die ja selbst nur "einen winzigen Rest an Humanität" enthalten, verfügen über eine erhebliche politische Sprengkraft und können enorme öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen. Gleichwohl dürfte es nur in den wenigsten Konflikten zu keinerlei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht gekommen sein. Gegenseitige Beschuldigungen führen regelmäßig zu einer Abwärtsspirale von Vergeltungsmaßnahmen, die teilweise wiederum gegen humanitäres Völkerrecht verstoßen können.

Der Schwerpunkt des Diskurses scheint aber mehr in der Ius-ad-bellum-Dimension des Konfliktes zu liegen. Seit 1945 versuchten Staaten regelmäßig, rechtswidrige militärische Interventionen durch extensive Interpretationen des Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 51 der UN-Charta zu rechtfertigen. Ein bekanntes Beispiel ist die sogenannte Bush-Doktrin, die ein präemptives – also vorauseilendes – Selbstverteidigungsrecht etablieren sollte, bevor die eigentliche Selbstverteidigungslage überhaupt entstand. Während diese Position in der Wissenschaft immerhin diskutiert wurde, wurde die russische Begründung nach dem Angriff auf die Ukraine – zu Recht – als "unterhalb des intellektuellen Niveaus, von dem eine sinnvolle juristische Diskussion ausgehen sollte", bezeichnet. Gleichwohl zeigt sich hier ein gewisses Muster, auf das der deutsche Richter am Internationalen Gerichtshof (IGH), Bruno Simma, bereits 2003 in seiner gesonderten Stellungnahme (separate opinion) zum sogenannten Ölplattformen-Fall zwischen Iran und den USA hingewiesen hat: "Wir müssen feststellen, dass sich außerhalb des Gerichtssaals der rechtlichen Rechtfertigung von Gewaltanwendung innerhalb des Systems der UN-Charta selbst als Feigenblatt mehr und mehr entledigt wird, während eine zunehmende Anzahl von Autoren sich auf ein komplettes Begräbnis der völkerrechtlichen Beschränkungen der Gewaltanwendung vorzubereiten scheint."

Damit verbunden ist die Frage nach dem quis iudicabit: Wer entscheidet über die Grenzen des Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 51 der UN-Charta, sollte die Frage im Einzelfall weder rechtlich vor dem IGH noch politisch im Sicherheitsrat diskutiert werden können? Insbesondere die Vereinigten Staaten widersprachen zum Beispiel der Studie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zur völkergewohnheitsrechtlichen Geltung von humanitärem Völkerrecht wegen erheblicher "methodischer Bedenken", um so einer möglichen Bindungswirkung zuvorzukommen.

Humanisierung des Humanitären Völkerrechts?

Die Bezeichnung "humanitäres Völkerrecht" sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein in nicht unerheblicher Weise permissives, also nachgiebiges, Instrument handelt. Es akzeptiert und autorisiert die Tötung von Menschen. Ein Angriff etwa, "bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht", ist ausweislich des Ersten Zusatzprotokolls von 1977 (Art. 51 Abs. 5 lit. b) nur dann als verbotener unterschiedsloser Angriff anzusehen, wenn vorgenannte Folgen "in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen". Der Völkerrechtler Charles Trumbull hat diesbezüglich betont, dass man nicht leichtfertig glauben dürfe, "dass das Recht des bewaffneten Konflikts moralische Prinzipien perfekt widerspiegelt oder dass Handlungen, die mit ihm in Einklang stehen, moralisch zulässig sind".

In einem einflussreichen Artikel aus dem Jahr 2000 hat Theodor Meron, Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien von 2001 bis 2017, eine "Humanisierung des humanitären Rechts" nachgewiesen. Beigetragen habe hierzu insbesondere "die Bewegung von einer interstaatlichen zu einer individuell-rechtlichen Perspektive", wie es etwa durch die Etablierung individueller Verantwortlichkeit im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs sowie durch die zunehmende Anerkennung der Fortgeltung der menschenrechtlichen Verträge geschehe. Eine genaue Darstellung dieser Zusammenhänge wäre das Thema eines eigenen Beitrages. An dieser Stelle mag daher der Hinweis genügen, dass die menschenrechtliche Dimension der Debatte deutlich prominenter thematisiert wird als die Frage nach einer Aktualisierung der Genfer Konventionen – hierzu fehlt es schlicht an der erforderlichen Bereitschaft der Staaten.

Gerade die menschenrechtlichen Kontrollmechanismen bieten ein gewisses Feinsteuerungs- und Konkretisierungspotenzial humanitär-völkerrechtlicher Pflichten. So hat etwa der UN-Menschenrechtsausschuss für das im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte gewährte Recht auf Leben und Freiheit dahingehend eine staatliche Planungs- und Kontrollpflicht abgeleitet, dass sichergestellt werden muss, dass ein Angriff Risiken für Leben (Art. 6 Abs. 1 Satz 1) und Freiheit (Art. 9 Abs. 1 Satz 1) weitestgehend minimiert. Eine "Fortentwicklung" des humanitären Völkerrechts muss hiermit gar nicht verbunden sein. Eine, wenn auch nur einstweilige und partielle Antwort auf die Frage des quis iudicabit ist bereits ein wichtiger Erfolg. Auf diese Weise kann ein wichtiger Anstoß dazu gegeben werden, den gemeinsamen Grundgehalt menschenrechtlicher und humanitär-völkerrechtlicher Verpflichtungen herauszuarbeiten.

Das Beispiel des Südsudans zeigt, dass das Schutzversprechen der Genfer Konventionen nach wie vor große Anziehungskraft genießt. Ob es erfüllt werden kann, hängt nicht allein von den Verträgen ab, sondern ist auch ein Spiegel des Prozesses einer internationalen Überzeugungsbildung, die menschlichen Kosten von bewaffneten Konflikten zu minimieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. UN-Kinderrechtskonvention am 23. Januar 2015; UN-Antifolterkonvention und UN-Frauenrechtskonvention am 30. April 2015; UN-Zivilpakt und UN-Sozialpakt am 7. Juni 2019.

  2. Vgl. Karl-Heinz Ziegler, Hugo Grotius als "Vater des Völkerrechts", in: Peter Selmer/Ingo von Münch (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, Berlin 1987, S. 851–860. Zu Recht kritisch allerdings Wilhelm G. Grewe, Grotius – Der Vater des Völkerrechts?, in: Der Staat 2/1984, S. 161–178.

  3. Vgl. Kashi Prasad Jayaswal, Manu and Yâjñavalkya. A Comparison and a Contrast, Kalkutta 1930, S. 106f.

  4. Vgl. Raphael Schäfer, Humanität als Vehikel. Der Diskurs um die Kodifikation des Kriegsrechts im Gleichgewichtssystem des europäischen Völkerrechts in den formgebenden Jahren von 1856 bis 1874, Baden-Baden 2024 (i.E.).

  5. Vgl. Valentin Pfisterer, Gibt es den gerechten Krieg? Der Topos des gerechten Krieges in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft Heidelberg 1/2011, S. 53–84, hier S. 55f.

  6. Vgl. Gerhard Beestermöller, Thomas von Aquin und der gerechte Krieg. Friedensethik im theologischen Kontext der Summa Theologiae, Köln 1990, S. 11, S. 20ff.

  7. Vgl. Wolfram Benziger, Zwischen bellum iustum und modernem Völkerrecht. Überlegungen zum Denken über Krieg und Frieden am Ende des Mittelalters, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 1/2006, S. 131–151, hier S. 135.

  8. Siehe hierzu Hendrik Simon, The Myth of Liberum Ius ad Bellum: Justifying War in 19th-Century Legal Theory and Political Practice, in: European Journal of International Law 1/2018, S. 113–136.

  9. The First Geneva Convention of 1864: A Historic Document, in: International Review of the Red Cross 6/1966, S. 547f., hier S. 548 (eig. Übersetzung).

  10. Zit. nach Daniel-Erasmus Khan, Das Rote Kreuz. Geschichte einer humanitären Weltbewegung, München 2013, S. 21.

  11. Vgl. 160 Years on the Side of Humanity: A Commitment That Has Never Waned, 20.2.2023, Externer Link: https://blogs.icrc.org/ir/en/2023/02/160-years-on-the-side-of-humanity-a-commitment-that-has-never-waned.

  12. Vgl. Khan (Anm. 10), S. 18.

  13. Ebd.

  14. Siehe hierzu beispielsweise Mark Bostridge, Florence Nightingale. The Woman and Her Legend, London 2020; Hedwig Herold-Schmidt, Florence Nightingale. Die Frau hinter der Legende, Darmstadt 2020.

  15. Florence Nightingale in einem Brief an Thomas Longmore, 31.8.1864, zit. nach Adam Roberts, Foundational Myths in the Laws of War: The 1863 Lieber Code, and the 1864 Geneva Convention, in: Melbourne Journal of International Law 1/2019, S. 158–196, hier S. 158, mit Verweis auf Lynn McDonald (Hrsg.), Florence Nightingale on Wars and the War Office, Waterloo, ON 2011, S. 587 (eig. Übersetzung).

  16. Carl Lueder, Krieg und Kriegsrecht im Allgemeinen, in: Franz von Holtzendorff (Hrsg.), Handbuch des Völkerrechts, Bd. 4, Hamburg 1889, S. 174–194, hier S. 193. Ähnlich findet sich dieses Argument auch noch nach 1945, siehe hierzu Boyd van Dijk, Human Rights in War: On the Entangled Foundations of the 1949 Geneva Conventions, in: American Journal of International Law 4/2019, S. 553–582.

  17. Alle drei zit. nach Khan (Anm. 10), S. 8, S. 27, S. 31.

  18. Bardo Fassbender, The United Nations Charter as the Constitution of the International Community, Leiden 2009.

  19. Vgl. Juan Pablo Scarfi, In the Name of the Americas: The Pan-American Redefinition of the Monroe Doctrine and the Emerging Language of American International Law in the Western Hemisphere, 1898–1933, in: Diplomatic History 2/2016, S. 189–218.

  20. Vgl. Oona A. Hathaway/Scott J. Shapiro, The Internationalists. How a Radical Plan to Outlaw War Remade the World, New York 2017.

  21. Vgl. Ian Brownlie, International Law and the Use of Force, Oxford 1963, 55ff.

  22. Vgl. Oliver Dörr/Albrecht Randelzhofer, Article 2(4), in: Bruno Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the United Nations: A Commentary, Bd. 1, Oxford 20123, Rn. 1. Zur Regelung in Artikel 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention siehe Ulf Linderfalk, The Creation of Jus Cogens – Making Sense of Article 53 of the Vienna Convention, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 71/2011, S. 359–378.

  23. Boyd van Dijk, Preparing for War. The Making of the Geneva Conventions, Oxford 2022.

  24. Wolff Heintschel von Heinegg, Recht des bewaffneten Konflikts, in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München 20197, Rn. 3.

  25. Vgl. Universität Uppsala, Pressemitteilung, 3.6.2023, Externer Link: http://www.uu.se/en/press/press-releases/2024/2024-06-03-ucdp-record-number-of-armed-conflicts-in-the-world.

  26. Vgl. The White House, Fact Sheet, Status of Detainees at Guantanamo, 7.2.2002, Externer Link: https://georgewbush-whitehouse.archives.gov/news/releases/2002/02/20020207-13.html.

  27. Vgl. Knut Dörmann, The Legal Situation of "Unlawful/Unprivileged Combatants", in: International Review of the Red Cross 85/2003, S. 45–74; Marco Sassòli, Query: Is There a Status of "Unlawful Combatant?", in Richard B. Jaques (Hrsg.), Issues in International Law and Military Operations, Newport 2006, S. 57–61.

  28. Ronen Steinke, Minimum an Menschlichkeit, 20.8.2019, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.4569435. Der Internationale Gerichtshof spricht von "elementary considerations of humanity": International Court of Justice, Corfu Channel (United Kingdom v. Albania), Judgment of 9 April 1949, ICJ Reports 1949, 4, 22.

  29. Vgl. etwa Artikel 2 der Genfer Konvention von 1929. Siehe hierzu Michael N. Schmitt, Ukraine Symposium – Reprisals in International Humanitarian Law, 6.3.2023, Externer Link: https://lieber.westpoint.edu/reprisals-international-humanitarian-law.

  30. Siehe The White House, Summary of National Security Strategy 2002, Externer Link: https://georgewbush-whitehouse.archives.gov/nsc/nss/2006/print/sectionV.html. Vgl. Antony Anghie/Charles Hill, The Bush Administration Preemption Doctrine and the United Nations, in: American Society of International Law Proceedings 98/2004, S. 326–331.

  31. Siehe etwa Joel R. Paul, The Bush Doctrine: Making or Breaking Customary International Law, in: Hastings International and Comparative Law Review 3/2004, S. 457–479.

  32. Vgl. Max Fisher, Word by Word and Between the Lines: A Close Look at Putin’s Speech, 23.2.2022, Externer Link: http://www.nytimes.com/2022/02/23/world/europe/putin-speech-russia-ukraine.html.

  33. Matthias Hartwig, Sleepwalking on the Road to War, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1/2022, S. 277–288, hier S. 277 (eig. Übersetzung).

  34. International Court of Justice, Oil Platforms (Islamic Republic of Iran v. United States of America), Judgment of 6 November 2003, Separate Opinion Simma, ICJ Reports 2003, 324, 328 (eig. Übersetzung). In diesem Fall hatte der IGH unter anderem die Frage zu beantworten, ob die Zerstörung von drei iranischen Ölplattformen durch die USA als Reaktion auf die Kollision eines US-Kriegsschiffes mit einer wahrscheinlich iranischen Mine vom völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrecht gedeckt war. Dieser Argumentation folgte der IGH nicht.

  35. Vgl. Jean-Marie Henckaerts/Louise Doswald-Beck, Customary International Humanitarian Law, Bd. 1, Cambridge 2005.

  36. John B. Bellinger, III/William J. Haynes II, A US Government Response to the International Committee of the Red Cross Study Customary International Humanitarian Law, in: International Review of the Red Cross 89/2007, S. 443–471.

  37. Charles Trumbull, Collateral Damage and Innocent Bystanders in War, 10.7.2023, Externer Link: https://lieber.westpoint.edu/collateral-damage-innocent-bystanders-war (eig. Übersetzung).

  38. Theodor Meron, The Humanization of Humanitarian Law, in: American Journal of International Law 2/2000, S. 239–278, hier S. 275 (eig. Übersetzung).

  39. Vgl. Vito Todeschini, The ICCPR in Armed Conflict: An Appraisal of the Human Rights Committee’s Engagement with International Humanitarian Law, in: Nordic Journal of Human Rights 3/2017, S. 203–219.

  40. Vgl. Alexander Orakhelashvili, The Interaction between Human Rights and Humanitarian Law: Fragmentation, Conflict, Parallelism, or Convergence?, in: European Journal of International Law 1/2008, S. 161–182.

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ist promovierter Völkerrechtler, Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Völkerrecht der Universität Bonn.