Helmuth von Moltke hatte den Krieg in seinem Leben kennengelernt. 1800 in eine alte mecklenburgische Adelsfamilie geboren, war er zunächst in einer dänischen Kadettenanstalt ausgebildet worden, bevor er mit 22 Jahren zur preußischen Armee ging. Schon bald nach seinem Eintritt in den Generalstab 1833 wurde er von Carl von Clausewitz gefördert und lernte so die Prämissen des wichtigsten Kriegstheoretikers des frühen 19. Jahrhunderts kennen. 1857 konnte Moltke seine militärische Karriere mit seiner Beförderung zum Generalmajor und Chef des Generalstabes krönen. Seine Erfolge in den Feldzügen von 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich und 1870/71 gegen Frankreich machten ihn in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit zu einem Mythos.
Doch hinter dem verklärten strategischen Genie stand vor allem ein genauer Analytiker, der den Wandel des Krieges aufmerksam beobachtete. Dabei blickte er nicht nur auf die Gewaltsteigerung durch technische Entwicklungen, etwa durch den möglichen Transport von Soldaten mit Eisenbahnen, die Verwendung von Hinterladergewehren und die Steigerung der Feuerkraft durch weittragende Artillerie. Auch der Rückgriff auf alle möglichen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen der am Krieg beteiligten Gesellschaften trieb Moltke um, ebenso wie das veränderte Gewicht der Öffentlichkeit für die Begründung von Kriegen im Zeitalter neu entstehender Nationalstaaten. Wie blickten Gesellschaften auf die Opfer im Krieg, und welche Spielräume gab es für eine humanitäre Praxis?
Enthemmte Gewalt
Als Moltke 1880 auf seine Erfahrungen im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zurückblickte, skizzierte er einen langfristigen historischen Lernprozess. Gegenüber der "Verwilderung des dreißigjährigen Krieges" sei die Gegenwart durch eine neue "Humanität der Kriegführung" gekennzeichnet, bei der man unnötige Gewaltexzesse vermeiden wollte. Das Mittel dazu schien ein möglichst kurzer Krieg, bei dem, anders als im 18. Jahrhundert, aber nicht nur die gegnerischen Soldaten im Mittelpunkt standen: "Die größte Wohlthat im Kriege ist die schnelle Beendigung des Krieges und dazu müssen alle, nicht geradezu verwerfliche, Mittel frei stehen." Alle möglichen "Hülfsquellen der feindlichen Regierung" müssten in Anspruch genommen werden, "ihre Finanzen, Eisenbahnen, Lebensmittel, selbst ihr Prestige". Die hier erkennbare Steigerung der Gewaltmittel im Krieg blieb für Moltke noch auf einen gegnerischen Staat bezogen und sollte einen langwierigen Guerillakrieg verhindern, in dem die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten schwierig wurde. Dieses Paradigma eines kurzen Staatenkrieges mit umfassender Mobilisierung habe sich 1870, so Moltke rückblickend, zunächst auch als erfolgreich erwiesen. Erst als man auf französischer Seite nach der Niederlage Napoleons III. in der Schlacht von Sedan den republikanischen Volkskrieg mit Freischärlern und Guerillataktiken proklamiert habe, sei die Gewalt eskaliert: "Mit dieser Energie, und doch mit mehr Mäßigung wie je zuvor, ist der letzte Krieg gegen Frankreich geführt worden. Nach zwei Monaten war der Feldzug entschieden, und erst als eine revolutionäre Regierung ihn zum Verderben des eigenen Landes noch vier Monate länger fortsetzte, nahmen die Kämpfe einen erbitterten Charakter an."
Was diese Konstellation für die Praxis der Humanität im Krieg bedeuten konnte, enthüllte der Herbst 1870. Obwohl an der militärischen Niederlage des französischen Kaiserreichs kein Zweifel bestand, war der Krieg noch nicht beendet. In dieser Situation meldete sich im preußischen Hauptquartier ein amerikanischer Offizier zu Wort, der im Auftrag der US-Regierung den Krieg in Europa beobachtete. Philip Sheridan, ehemaliger General der amerikanischen Nordstaaten im erst fünf Jahre zurückliegenden Bürgerkrieg, verglich die Lage Preußens nach dem Sieg von Sedan mit der Situation der Nordstaaten gegenüber den Konföderierten im Amerikanischen Bürgerkrieg. Um eine unabsehbare Gewaltspirale und einen langandauernden Guerrillakampf zu verhindern, habe sich die militärische Führung der Nordstaaten bewusst dazu entschlossen, gegen die Zivilbevölkerung des Südens vorzugehen. Diese Taktik gipfelte im berüchtigten "Marsch zum Meer" des Generals William Sherman. Seine Praxis der "verbrannten Erde" brach mit tradierten militärischen Prinzipien. Truppen der Nordstaaten versorgten sich aus erbeuteten Nahrungsmitteln und vernichteten systematisch Infrastruktur und Ressourcen, darunter vor allem Eisenbahnstrecken und Depots. Diese äußerste Gewaltsteigerung sollte den Widerstandswillen der Bevölkerung brechen. Vor diesem Hintergrund empfahl Sheridan den deutschen Generälen, sich an der Taktik der "verbrannten Erde" zu orientieren, um Frankreich zu einem baldigen Frieden zu zwingen: "Sie verstehen es einen Feind zu schlagen, wie keine andere Armee, aber ihn zu vernichten, das haben Sie noch nicht weg. Man muss mehr Rauch von brennenden Dörfern sehen, sonst werden Sie mit den Franzosen nicht fertig."
Moltkes Überlegungen und Sheridans Empfehlung verwiesen auf eine tiefgreifende Veränderung in der Bewertung von Gewalt in Kriegen. Die Erfahrung, dass in einem Krieg überkommene ethische Vorstellungen über die Behandlung von Menschen unter Druck gerieten, kennzeichnete auch frühere historische Epochen. Im Ausnahmezustand des Krieges hatten sich zumal Zivilisten, Frauen und Kinder, aber auch Kriegsgefangene immer wieder als besonders gefährdet erwiesen. In den konfessionellen Bürgerkriegen Europas war es im 16. und 17. Jahrhundert zu einer neuartigen Begründung gesteigerter Kriegsgewalt gekommen. Sie beruhte darauf, jeden individuellen Kombattanten mit Kriegsgründen zu identifizieren, die als "gerecht", "wahr" oder "moralisch besser" angesehen wurden. Blickte man auf die konfessionelle Überzeugung, dann wurde die Grenze zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten durchlässig. So wurde seit den 1560er Jahren in Frankreich, während der 1640er Jahre in England und zwischen 1618 und 1648 die Gewalt als blutiger Bürgerkrieg mitten in die Gesellschaft getragen.
Gescheiterte Einhegung
Diese traumatische Erfahrung schlug sich seit dem Dreißigjährigen Krieg in Versuchen nieder, Kriege auf Konflikte zwischen Staaten zu beschränken und unkontrollierte Gewalt, zumal gegen Zivilisten, einzuhegen. In diesem Zusammenhang stand bereits das Konzept des souveränen Fürstenstaates, der sich durch den neuen Begriff der Souveränität nach außen abschloss, die Diplomatie zur domaine réservé machte und damit Interventionen von außen in die inneren Angelegenheiten unterbinden sollte. Nach innen dämmte das fürstliche Gewaltmonopol konkurrierende Gewaltregime sozialer und konfessioneller Gruppen ein, sodass sich die Trennung von äußerer und innerer Politik, von Militär und Polizei, bereits andeutete. Hinzu trat das neuzeitliche Kriegs- und Völkerrecht, das mit den großen europäischen Friedensschlüssen in Münster, Osnabrück und Utrecht zwischen 1648 und 1713 entstand. Es sollte Bürgerkriege unterbinden, indem es einen europäischen Ordnungsrahmen, das ius publicum Europaeum, schuf, das nur eingehegte Staatenkriege nach klaren Regeln erlauben, den Krieg von ideologischen Bekenntnissen befreien und durch die Formel des iustus hostis das Bild des Feindes entkriminalisieren sollte. Es wurde versucht, den Krieg durch Konventionen berechenbar zu machen: Ein Feldzug sollte erst beginnen, wenn die Ernte eingebracht war, eine bataille des 18. Jahrhunderts auf Soldaten beschränkt bleiben, die an ihren Uniformen klar als Kombattanten zu erkennen waren, und die Zivilbevölkerung geschont werden.
Doch mit der Französischen Revolution und den im Namen der souveränen Nation geführten Kriege geriet dieser Ordnungsrahmen unter Druck. Obwohl die Kriege der Revolution ab 1792 schon bald die Vorstellung eines internationalisierten Bürgerkrieges aller Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker als naiven Mythos entlarvten, veränderte sich das Gesicht des Krieges. Eine wirkungsmächtige Interpretation dieses Wandels zwischen 1792 und 1815 lieferte Carl von Clausewitz. Für die Phase vor der Französischen Revolution konstatierte er eine "beschränkte, zusammengeschrumpfte Gestalt des Krieges", die er auf die eingeschränkten finanziellen und personellen Mittel der absoluten Monarchien zurückführte. Daraus ergab sich von selbst, Konflikte einzuhegen, den Krieg auf das Militär zu begrenzen und die Zivilbevölkerung zu schonen: "Wenn das Heer zertrümmert wurde, so war kein neues zu beschaffen, und außer dem Heere gab es Nichts. Dies heischte große Vorsicht bei allen Unternehmungen." Mit der Französischen Revolution und ihren Kriegen sei jedoch ein neuartiger Zusammenhang zwischen der Gewalt im Namen der Nation und dem Idealbild des Bürgers als Vaterlandsverteidiger entstanden: "Der Krieg war urplötzlich wieder eine Sache des Volkes geworden, und zwar eines Volkes von 30 Millionen, die sich alle als Staatsbürger betrachteten. (…) Mit der Teilnahme des Volkes an dem Kriege trat, statt eines Kabinetts und eines Heeres, das ganze Volk mit seinem natürlichen Gewicht in die Waagschale. Nun hatten die Mittel, welche angewandt, die Anstrengungen welche aufgeboten werden konnten, keine bestimmte Grenze mehr; die Energie, mit welcher der Krieg selbst geführt werden konnte, hatte kein Gegengewicht mehr, und folglich war die Gefahr für den Gegner die äußerste."
Dieser Wandel in der Erfahrung des Krieges sowie die viel weitergehende Einbeziehung von Gesellschaften in Kriege, die nun viel stärker als zuvor als Medienereignisse wirkten und zu nationalen Momenten stilisiert wurden, entfaltete sich ab den späten 1850er Jahren. Einerseits wurden die Nationalkriege Italiens und Deutschlands noch vielfach nach den Regeln des klassischen Staatenkrieges geführt. Es handelte sich, wie Moltke zu Recht betonte, um kurze Kriege, in denen das Primat der Politik nicht infrage gestellt und der Gegner nicht gedemütigt werden sollte. Andererseits verwies die zeitgenössische Wahrnehmung und Deutung dieser Nationalkriege in Büchern und Zeitungen, in Gemälden und Denkmälern, in denen man die Selbstbindung jedes Einzelnen an die Sache der eigenen Nation hervorhob, eindeutig auf das Erbe des Bürgerkrieges.
Obwohl der Krimkrieg 1853 bis 1856 auf den ersten Blick wie ein relativ kurzer Staatenkrieg wirkte, erwies er sich mit über 640000 Toten als der verlustreichste Krieg in Europa nach 1815 und vor 1914.
Das überkommene Ideal des eingehegten Krieges erwies sich erst recht als bedroht, wenn sich Konflikte als Bürgerkriege mit neuen technischen Mitteln und Infrastrukturen des Krieges entfalteten wie in den Vereinigten Staaten zwischen 1861 und 1865. Hier verschwammen die Grenzen zwischen militärischer und Heimatfront, und hier eskalierte auch die Gewalt in einem Ausmaß, das den Zeitgenossen bislang unbekannt gewesen war. In dem vierjährigen Bürgerkrieg wurden 2,1 Millionen Soldaten aus den Nordstaaten und 880000 Mann aus den konföderierten Südstaaten mobilisiert; der Krieg forderte mehr als 750000 Todesopfer, darunter über 620000 Soldaten. Das waren knapp 2,5 Prozent der nordamerikanischen Bevölkerung – und in etwa so viele amerikanische Todesopfer wie in den Revolutionskriegen des 18. Jahrhunderts, dem Krieg von 1812, dem Mexikanischen Krieg, dem Spanisch-Amerikanischen Krieg, den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und dem Korea-Krieg zusammen. Er dokumentierte die neuartigen Zusammenhänge zwischen der Massenmobilisierung und der Rechtfertigung bisher ungekannter Opferzahlen, zwischen gesteigerter Gewalt auch gegen die Zivilbevölkerung des Gegners und dem Zweifel an der Loyalität einzelner Gruppen in der eigenen Gesellschaft.
Entwicklung des "Genfer Rechts"
Man muss diese größeren Kontexte berücksichtigen, um die zeitgenössischen Versuche zu erklären, verbindliche Normen für die Behandlung von Verwundeten, Kriegsgefangenen und Zivilisten zu entwickeln.
Was eine große Feldschlacht in einem modernen Krieg bedeutete, erfuhr der Genfer Geschäftsmann Henry Dunant im Sommer 1859 aus unmittelbarer Nähe. Als am 24. Juni 1859 bei Solferino österreichische, italienische und französische Truppen in einer verlustreichen Schlacht aufeinandertrafen, beobachtete er, dass vor allem die verletzten Soldaten weitgehend ungeschützt ihrem Schicksal überlassen wurden. 1862 veröffentlichte Dunant sein Buch "Un souvenir de Solférino" und verband darin seine Eindrücke mit Vorschlägen für den Schutz von Kriegsversehrten.
Dass Dunant und das IKRK offenkundig einen Nerv getroffen hatten, zeigte sich bereits ein Jahr später. Auf einer Diplomatenkonferenz, die der Schweizer Bundesrat auf Initiative des IKRK im August 1864 organisierte, wurde die erste Genfer Konvention "betreffend die Linderung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde" verabschiedet. Damit entstand ein erstes Regelwerk, das sich auf den Schutz verletzter Soldaten und der für ihre Versorgung eingesetzten Personen und Einrichtungen konzentrierte. Um den Lazaretten, Sanitätern und Ambulanzen einen sichtbaren neutralen Status zu garantieren und Angriffe auf sie zu verhindern, sollten sie mit einer umgekehrten Schweizer Fahne, einem roten Kreuz auf weißem Grund, gekennzeichnet werden.
Die Genfer Konvention von 1864 markierte eine neue Qualität, indem sie zum ersten Mal durch einen völkerrechtlichen Vertrag verbindliche Mindeststandards definierte. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten versuchten die Mitglieder des IKRK, den Geltungsbereich des Abkommens an immer neue Entwicklungen und Kriegserfahrungen anzupassen und international auszuweiten. Dabei griff man zur Entwicklung des humanitären Völkerrechts auf Expertenkonferenzen und Vorbereitungstreffen zurück. So setzte seit den 1860er Jahren eine langfristige völkerrechtliche Verregelung der Kriegführung ein, der sich im Verlauf der kommenden Jahrzehnte immer mehr Staaten anschlossen. Das sich so ausdifferenzierende "Genfer Recht" bezog sich als Kernbereich des humanitären Völkerrechts ausdrücklich nicht auf ein Verbot des Krieges an sich. Es war also kein ius contra bellum, sondern sollte seine Wirksamkeit als ius in bello entfalten. Die Bestimmungen dienten dem Ziel, die Anwendung kriegerischer Gewalt auf das militärisch Notwendige zu beschränken. Auf diesem Weg trat die Unterscheidung zwischen kämpfenden Soldaten als regulären Kombattanten sowie militärischen Objekten einerseits und Opfern des Krieges sowie zivilen Objekten andererseits in den Vordergrund. Konzentrierte sich die Genfer Konvention von 1864 zunächst noch auf die Gruppe der verwundeten Soldaten, traten in den kommenden Jahrzehnten auch Kriegsgefangene und die Zivilbevölkerung in den Fokus.
Untrennbar mit der Entwicklung des "Genfer Rechts" waren die beiden Haager Landkriegsordnungen von 1899 und 1907 verbunden. Die Experten des humanitären Völkerrechts setzten alles daran, seinen Anwendungsbereich auf den Umgang mit allen sogenannten Nichtkombattanten auszuweiten. Damit waren alle Personen gemeint, die in einem Krieg nicht oder nicht mehr an direkten Kampfhandlungen beteiligt waren. Das bezog sich konkret auf verwundete, erkrankte oder gefangengenommene Soldaten sowie auf Zivilisten. Das "Haager Recht" ging auf die im Rahmen der Friedenskonferenzen von Den Haag abgeschlossenen Abkommen zurück, von denen sich die Haager Landkriegsordnung von 1907 als besonders wichtig erwies. Die Bestimmungen dieser Abkommen konzentrierten sich vor allem auf die Kriegführung selbst, also den Einsatz bestimmter Waffen, den Status von Kombattanten und den Umgang mit ihnen während eines Krieges. Genfer und Haager Recht erwiesen sich als vielfach miteinander verflochten. So weitete das X. Haager Abkommen von 1899 die Regeln der ersten Genfer Konvention auf den Seekrieg aus, was die zunehmende Bedeutung maritimer Operationen seit den 1880er Jahren widerspiegelte, wie sich 1898 im Spanisch-Amerikanischen Krieg und 1905 im Krieg zwischen Russland und Japan zeigte.
Lehren aus den Weltkriegen
Die weitere Ausdifferenzierung des humanitären Völkerrechts vollzog sich vor dem Hintergrund der beiden Weltkriege, was sich vor allem auf zwei Bereiche bezog. Der systematische und massenhafte Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg hatte den Zeitgenossen die dramatischen Konsequenzen einer neuen Waffentechnologie vor Augen geführt. Darauf reagierten Experten und Diplomaten mit der Ausarbeitung des Genfer Protokolls von 1925, das den Einsatz chemischer und biologischer Waffen prinzipiell verbot. Zudem hatte der Weltkrieg in einem bis dahin nicht vorstellbaren Ausmaß Kriegsgefangenschaft zu einem Massenphänomen gemacht, das bis weit über das formale Kriegsende im November 1918 Millionen von Menschenleben prägte. Weil aber verbindliche Normen zum Status und zur Versorgung, Unterbringung und Repatriierung fehlten, versuchten die Experten, die Entwicklung völkerrechtlicher Normen entsprechend anzupassen. So wurde im Juli 1929 das Genfer Abkommen "über die Behandlung von Kriegsgefangenen" verabschiedet. Obwohl dieses Abkommen deutlich über die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung hinausging, blieb seine Wirkung im Zweiten Weltkrieg beschränkt. Wichtige Staaten wie Japan oder die Sowjetunion ratifizierten das Abkommen erst gar nicht, während die deutsche Wehrmacht ab 1939 und vor allem im Krieg gegen die Sowjetunion ab 1941 die Grundsätze des humanitären Völkerrechts systematisch verletzte.
So wie 1925 und 1929 die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg in die Weiterentwicklung des Genfer Rechts übersetzt worden waren, kam es vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs zu einer systematischen Revision und Erweiterung des humanitären Völkerrechts.
Die erste Konvention konzentrierte sich auf die "Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde" und orientierte sich dabei an den Bestimmungen des ersten Genfer Abkommens von 1864. Die zweite Konvention "zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See" ersetzte das X. Haager Abkommen von 1899. Beide Konventionen verpflichteten alle kriegführenden Parteien, Verwundete, Kranke und Schiffbrüchige sowie medizinisches Personal, Ambulanzen, Lazarette und Krankenhäuser besonders zu schützen. Sie mussten demnach von der Konfliktpartei, in deren Händen sie sich befanden, geborgen und gepflegt werden. Mit der dritten Genfer Konvention "über die Behandlung der Kriegsgefangenen" wurden die Ansätze der Haager Landkriegsordnung und des Genfer Abkommens von 1929 aufgenommen und fortgeführt. Danach besaßen gefangengenommene Soldaten das Recht auf körperliche Unversehrtheit, eine medizinische Mindestversorgung sowie "auf Achtung ihrer Person und ihrer Ehre".
Während diese drei Komplexe auf frühere Ansätze zurückgriffen, schuf die vierte Konvention von 1949 eine neue Kategorie. Mit dem "Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten" rückte zum ersten Mal eine neue Opfergruppe von Nichtkombattanten in den Fokus, die während des Zweiten Weltkrieges in besonderer Weise unter Druck geraten war. Die Bestimmungen dienten dabei dem Schutz von Zivilpersonen, die sich im eigenen Land oder in einem besetzten Gebiet in Feindeshand befanden. Das betraf auch Nichtkombattanten im Falle der Internierung durch eine Kriegspartei.
Neue alte Herausforderungen
Auch nach 1949 ist es immer wieder zu Anpassungen und Erweiterungen der Genfer Konventionen gekommen.
Bis heute haben 196 Staaten die Genfer Konventionen unterzeichnet, die damit das erfolgreichste Kodifikationsprojekt in der Geschichte des Völkerrechts sind. Doch zugleich sind die Grenzen des humanitären Völkerrechts unübersehbar.
Zweitens beziehen sich die Bestimmungen der vier Genfer Konventionen im Kern auf zwischenstaatliche Konflikte. Sie setzen also stabile Staatlichkeit als Bedingung für die Umsetzung völkerrechtlicher Normen voraus. Für nicht-internationale bewaffnete Konflikte, in denen auch nichtstaatliche Akteure involviert sind, gilt völkerrechtlich allein der in Artikel 3 der Genfer Konvention von 1949 festgelegte und im zweiten Zusatzprotokoll von 1977 erweiterte humanitäre Mindeststandard.
Damit kehrt in der Gegenwart ein Thema zurück, das auf die Anfänge der historischen Entwicklung verweist. Den seit dem 17. Jahrhundert entwickelten Zusammenhang zwischen Staatlichkeit, Verrechtlichung und einer möglichen Einhegung der Kriegsgewalt, der sich in der Geschichte des humanitären Völkerrechts seit dem 19. Jahrhundert fortsetzte, reflektierte auch Helmuth von Moltke. Im Mai 1890 hielt er seine letzte Rede als Abgeordneter im Reichstag. Auf den ersten Blick war es eine Warnung vor einem neuen Krieg in Europa, aber im Kern antizipierte er eine mögliche Entstaatlichung von Kriegen und damit die Begrenztheit aller Versuche, enthemmte Gewalt einzuhegen. Mit Skepsis sah Moltke den Einfluss der Regierungen in den künftigen Kriegen schwinden, weil Politik und Kriegführung immer mehr in den Bann neuer Entwicklungen gerieten: "Aber (…) die Fürsten und überhaupt die Regierungen sind es wirklich nicht, welche in unseren Tagen die Kriege herbeiführen. Die Zeit der Kabinettskriege liegt hinter uns, – wir haben jetzt nur noch den Volkskrieg, und einen solchen mit allen seinen unabsehbaren Folgen heraufzubeschwören, dazu wird eine irgend besonnene Regierung sich sehr schwer entschließen. Nein, (…) die Elemente, welche den Frieden bedrohen, liegen bei den Völkern."