"Europa wird über die Währung geschaffen, oder es wird nicht geschaffen."
Von der Zahlungsunion zum Delors-Report
Das Wirtschaftsleben und der internationale Handel mit Waren und Dienstleistungen in Zentraleuropa waren 1945 weitgehend zum Erliegen gekommen. Ende der 1940er Jahre wuchsen die Volkswirtschaften jedoch wieder – und mit ihnen das Bestreben in Agrarsektor und Industrie, Vorprodukte zu importieren und Endprodukte zu exportieren. Außenhandel kann jedoch nur effizient stattfinden, wenn die Bezahlung der grenzüberschreitenden Güterströme zu niedrigen Kosten möglich ist. Dazu müssen die Banken in den beteiligten Ländern zusammenarbeiten und die jeweiligen Währungen ohne größere Einschränkungen gegeneinander eingetauscht werden können, also ein Mindestmaß an Konvertibilität aufweisen. So entstand 1950 die Europäische Zahlungsunion. Sie bildete das finanztechnische Rückgrat der ökonomischen Verflechtung in Westeuropa, blieb aber für längere Zeit der einzige Schritt in Richtung eines europäischen Finanz- und Währungsraums.
Es wäre jedoch voreilig, daraus den Schluss zu ziehen, das Zusammenwachsen der westeuropäischen Länder in dieser Zeit sei ohne Rücksicht auf währungspolitische Fragen möglich gewesen. Denn zum einen waren alle Industrienationen Teil des internationalen Bretton-Woods-Systems, sodass zwischen ihren Währungen feste Wechselkurse galten. Die politische und ökonomische Integration Westeuropas basierte damals also auf gut planbaren Austauschbeziehungen zwischen den Währungen. Zum anderen kam die monetäre Integration der EWG dann eben doch auf die Tagesordnung, als das Bretton-Woods-System Ende der 1960er Jahre schwächelte und wenig später zusammenbrach. Ab diesem Zeitpunkt verlor die europäische Politik das Ziel der Währungsintegration nie mehr aus den Augen. Der erste große Schritt auf dem Weg dorthin war 1970 der "Werner-Plan", benannt nach dem damaligen luxemburgischen Premierminister Pierre Werner. Er sah eine gemeinsame Währung für das Jahr 1980 vor. Dazu kam es nicht. Stattdessen sollte der Europäische Wechselkursverbund die innereuropäischen Währungsrelationen fixieren oder wenigstens stabilisieren, was mehr schlecht als recht gelang. Daraufhin etablierten der französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing und der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt 1979 das Europäische Währungssystem (EWS). Das EWS hatte erhebliche Schwächen, funktionierte aber anscheinend doch so gut, dass eine EG-Arbeitsgruppe unter Leitung von Kommissionspräsident Jacques Delors im Frühjahr 1989 vorschlug, in drei Stufen eine gemeinsame Währung einzuführen ("Delors-Report").
Maastrichter Vertrag und Stabilitäts- und Wachstumspakt
Dieser Plan zwang die Regierungen der mittlerweile zwölf EG-Mitgliedsstaaten, währungspolitisch Farbe zu bekennen. Dabei trat eine Konfliktlinie offen zutage, die die innereuropäische Diskussion über die monetäre Zusammenarbeit von Beginn an gekennzeichnet hatte: Während die sogenannten Monetaristen der Grundsteintheorie anhingen und die Währungsunion als entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einer politischen Union ansahen, waren die "Ökonomisten" von der Krönungstheorie überzeugt: Ihr zufolge sollte das gemeinsame Geld am Ende des europäischen Einigungsprozesses stehen. Dabei vertraten Politik und Notenbank in Deutschland traditionell die ökonomistische Position, wohingegen in Frankreich Monetaristen das Feld beherrschten.
Mit der Kontroverse zwischen Monetaristen und Ökonomisten eng verbunden waren unterschiedliche Haltungen zur Geld- und Fiskalpolitik. Insbesondere in Deutschland dominierte die Ansicht, nur finanzpolitische Solidität gepaart mit einer stabilitätsorientierten Geldpolitik, die von einer unabhängigen Zentralbank ausgeführt wird, garantierten langfristig eine gedeihliche Entwicklung der Wirtschaft. Demgegenüber standen die Regierungen in Frankreich und Südeuropa traditionell Staatsdefiziten und einer lockeren Geldpolitik (ihrer nicht unabhängigen Notenbanken) offen gegenüber.
Mit dem Maastrichter Vertrag setzte sich die deutsche Position durch. Vereinbart wurde die Errichtung einer unabhängigen, allein dem Ziel der Preisniveaustabilität verpflichteten Europäischen Zentralbank, der die Finanzierung von Staatsdefiziten verboten war. Als Zugeständnis an die deutsche (und ökonomistische) Seite können auch die Konvergenzkriterien verstanden werden. Ihr Sinn war es, sicherzustellen, dass nur Länder der Währungsunion würden beitreten können, die im Hinblick auf die Solidität der Staatsfinanzen sowie das Preis- und Zinsniveau gewisse Mindestanforderungen erfüllten. Gemeinsames Geld sollten also nur diejenigen bekommen, bei denen der (ökonomische) Einigungsprozess – die Konvergenz – schon ein Stück vorangeschritten war. Schließlich einigte man sich auch auf die sogenannte No-Bailout-Klausel: Geriet ein Mitgliedsland in finanzielle Schwierigkeiten, dann sollten weder die Gemeinschaft als Ganzes noch andere Mitgliedsländer für es einstehen.
Auch wenn die Bundesregierung am Ende der Konferenz in Maastricht Ende 1991 alles andere als mit leeren Händen dastand, war die Kritik in Deutschland heftig. Eine Mehrheit der Bevölkerung stand der Aufgabe der D-Mark skeptisch gegenüber, es gab eine Verfassungsklage (die zum "Maastricht-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts führte) und ein federführend von der Ökonomin Renate Ohr verfasstes "Professorenmanifest", das 1992 für Aufmerksamkeit sorgte. Es endete mit der Prophezeiung: "Die überhastete Einführung einer Europäischen Währungsunion wird Westeuropa starken ökonomischen Spannungen aussetzen, die in absehbarer Zeit zu einer politischen Zerreißprobe führen können und damit das Integrationsziel gefährden."
Als der Zug in Richtung gemeinsame Währung trotz aller Bedenken Fahrt aufnahm, intensivierte sich in und zwischen Deutschland und Frankreich die Diskussion darüber, wie die Währungsunion nach deren Beginn ausgestaltet sein sollte. Deutschland drang auf strenge Regeln für die Fiskalpolitik der Euroländer und auf spürbare Sanktionen bei Fehlverhalten. All dies sollte in einem "Stabilitätspakt" festgehalten werden. Frankreich wandte sich gegen zu strenge Vorgaben, um den Regierungen der Mitgliedstaaten konjunkturpolitische Spielräume zu erhalten. Man einigte sich auf einen Kompromiss. Die Defizit- und Schuldenstandsregeln wurden vertraglich verankert, aber es gab Ausnahmen und vergleichsweise hohe Hürden für die Sanktionen gegen "Defizitsünder". Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) war geboren. Er ist institutioneller Ausdruck der Tatsache, dass die Fiskalpolitik in nationaler Zuständigkeit verbleiben sollte – und dass weiter keine Einigkeit über die Grundlinien der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten herrschte.
Honeymoon: vom Start 1999 bis zur Krise 2008
Formal errichteten Maastrichter Vertrag und Stabilitäts- und Wachstumspakt ein strenges Regelwerk für die Aufnahme in die Währungsunion. Ihre erste Bewährungsprobe in der Realität mussten die Maastrichter Vorgaben bestehen, als es darum ging festzulegen, wer von Beginn an – also ab dem 1. Januar 1999 – dabei sein sollte. Von den seinerzeit 15 EU-Staaten zeigten zwölf Interesse an der Teilnahme. Nur Dänemark, Großbritannien und Schweden blieben freiwillig außen vor. Die Währungsunion startete schließlich mit einem großen Kreis von Mitgliedsländern – nämlich elf der zwölf Interessenten; Griechenland wurde zunächst nicht aufgenommen.
Dafür mussten die Staats- und Regierungschefs die Konvergenzkriterien auf ihrem Madrider Gipfel im Mai 1998 weit auslegen, denn viele Euroaspiranten erfüllten das Defizit- und/oder das Schuldenstandskriterium
In den ersten Jahren des Euro kam dann einiges anders, als seine Kritiker (nicht zuletzt in Deutschland) es erwartet hatten. Der Start der Währungsunion 1999 und die Ausgabe des Euro-Bargeldes 2002 erfolgten reibungslos. Die Inflationsrate blieb niedrig und die EZB erwarb sich schnell den Ruf einer Notenbank, die in der Lage ist, das neue "staatenlose Geld", das in zunächst elf und dann zwölf "geldlosen Staaten" Verwendung fand, zu managen. Das historisch einmalige Experiment schien geglückt.
Doch schon damals deuteten sich Schwierigkeiten an, mit denen die Eurozone bis heute zu kämpfen hat. Die wirtschaftliche Entwicklung der Währungsunion verlief Anfang des Jahrtausends asymmetrisch: Während Irland sowie die südeuropäischen Mitgliedsländer Portugal, Spanien und Griechenland einen kreditgetriebenen Aufschwung erlebten, hatte Deutschland noch Jahre nach dem Platzen der New-Economy-Blase mit historisch hohen Arbeitslosenzahlen zu kämpfen. Das blieb nicht ohne Folgen für den Staatshaushalt, und im Jahr 2003 war dann ausgerechnet Deutschland (zusammen mit Frankreich) das erste Land, das den Stabilitäts- und Wachstumspakt brach – wofür es allerdings keine Sanktionen auferlegt bekam.
Der Asymmetrie zwischen kreditgetriebenem Aufschwung in den später sogenannten Peripheriestaaten auf der einen sowie vergleichsweise schleppender Entwicklung in Deutschland, Frankreich und anderen "Kernländern" auf der anderen Seite standen zwei weitere Phänomene gegenüber, die die Währungsunion verwundbar machten, als 2007/2008 die internationale Finanzkrise begann: Im Zuge ihres Booms hatten die Peripherieländer erstens erheblich an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt, weil die Reallohnsteigerungen in den Jahren nach Einführung des Euro über den Produktivitätszuwächsen lagen. Die Lohnstückkosten waren zu schnell gestiegen. Und zweitens waren im Zuge dieser Entwicklung hohe Leistungsbilanzdefizite entstanden, die zu erheblicher Verschuldung im Ausland – nicht zuletzt bei deutschen und französischen Banken – geführt hatten. Die betreffenden Länder hatten also mehr Güter importiert als exportiert und die Differenz zwischen Exporterlösen und Ausgaben für Importe von ausländischen Gläubigern geliehen bekommen. Die zahlreichen professionellen Beobachter des währungspolitischen Geschehens in der Eurozone – Volkswirte in Hochschulen und Forschungsinstituten, Analysten in Banken und Ratingagenturen, Wirtschaftsjournalisten sowie Mitarbeiter von Ministerien, Notenbanken und Aufsichtsbehörden – hatten daran keinen Anstoß genommen. Zwar gab es vereinzelt Hinweise auf mögliche Fehlentwicklungen, doch im Großen und Ganzen übersah die Ökonomenzunft die dunklen Wolken am Horizont – oder wusste sie nicht zu deuten.
(© Eurostat)
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Hier kann Spanien als Anschauungsbeispiel dienen. Mit einer Staatsverschuldung von weniger als 40 Prozent des BIP in den Jahren 2006 bis 2008 war das Land geradezu ein fiskalpolitischer Musterknabe. Gleichzeitig hatte sich jedoch die private Verschuldung zwischen 1999 und 2008 auf rund 220 Prozent des BIP verdoppelt (Abbildung 1). Die Kredite hatten einen Immobilienboom genährt, der zwar hohe BIP-Wachstumsraten nach sich zog, aber auch mit steigenden Preisen und Löhnen einherging. Das schwächte die Wettbewerbsfähigkeit, denn die Lohnstückkosten stiegen stärker als im Rest der Eurozone (Abbildung 2). Das Leistungsbilanzdefizit wuchs und damit auch die Verschuldung im Ausland (Abbildung 3). Das andere Beispiel ist Griechenland. Im Unterschied zu Spanien gingen hier die Probleme von der hohen Staatsverschuldung aus. Das tiefergehende strukturelle Problem waren aber wiederum die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und die Verschuldung im Ausland.
2008: Das Zeitalter der Krisen beginnt
(© Eurostat)
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Im Zuge der Finanzkrise warfen die Kapitalmarktakteure einen genaueren Blick auf die Kreditbeziehungen auch innerhalb der Eurozone. Dabei traten die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der südeuropäischen Volkswirtschaften, die kreditfinanzierten Immobilienblasen in Spanien und Irland, die hohe Staatsverschuldung in Griechenland und weitere Probleme zutage. An den Finanzmärkten änderte sich die zuvor sorglose Einstellung gegenüber Staaten und Banken in der Eurozone. Die Risikoprämien auf Anleihen der als problematisch eingestuften Schuldner stiegen. Als die gerade gewählte griechische Regierung Ende 2009 mitteilte, das Budgetdefizit Griechenlands sei weit höher als zuvor angegeben, verlangten die Investoren so hohe Zinsen für griechische Staatsanleihen, dass das Land in Finanzierungsschwierigkeiten geriet. Die europäische Staatsschuldenkrise hatte begonnen.
Im Mai 2010 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Euroländer auf Hilfen für Griechenland, die später als "erstes Griechenland-Paket" bezeichnet werden sollten. In der Folge erhielten auch Irland, Portugal, Spanien und Zypern als "Programmländer" Hilfszahlungen, mussten aber – wie auch Griechenland – Bedingungen erfüllen (Konditionalität). Dazu zählten zumeist Konsolidierungsanstrengungen in der Fiskalpolitik, Einsparungen im Sozialsystem, Verwaltungsreformen sowie strukturelle Veränderungen auf den Arbeits- und Gütermärkten. In die "Rettungspakete" mit eigenen finanziellen Mitteln war von Anfang an der Internationale Währungsfonds (IWF) eingebunden. Ob die Empfänger der Zahlungen die auferlegten Bedingungen erfüllten, überprüfte eine aus Vertretern von EU-Kommission, EZB und IWF bestehende "Troika". Die Troika wurde insbesondere in Griechenland zum Feindbild aller, die die Konditionalität der Hilfszahlungen als unverhältnismäßige und unzulässige Einmischung von Außen ansahen.
Umfangreichen Reformen sollten sich nicht nur die "Programmländer", sondern alle Mitglieder der Eurozone unterwerfen. Das forderten zahlreiche Vereinbarungen auf europäischer Ebene, die eine insbesondere von deutscher Seite gewünschte Schärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zum Ausgangspunkt hatten. Hauptziele waren die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen, die Förderung des Wachstums durch Strukturreformen und die Reduzierung makroökonomischer Ungleichgewichte (im Sinne der Verringerung übermäßiger Leistungsbilanzüberschüsse und -defizite).
Die EZB im Dauerkrisenmodus
Dass sich sowohl diese politische Debatte als auch die tatsächliche Lage nach dem Höhepunkt der Griechenlandkrise 2015 scheinbar beruhigt haben, ist weniger der fiskal- und strukturpolitischen Disziplin der Eurostaaten als vielmehr der außerordentlichen Geldpolitik der EZB zu verdanken.
In der ersten Phase, ab 2008, erfüllte die EZB zunächst die üblichen Aufgaben, die einer Notenbank in Krisenzeiten zufallen: Sie senkte die Zinsen, um die Konjunkturschwäche abzumildern, und stellte dem Bankensystem in erheblichem Maße Liquidität zur Verfügung. Außerdem gab es erste – im Rückblick eher zaghafte – Anleihekäufe.
Die zweite Phase beginnt mit der "Whatever it takes"-Pressekonferenz am 26. Juli 2012. EZB-Präsident Mario Draghi hatte angesichts anhaltender Unruhe an den Finanzmärkten, die die Finanzierung der italienischen Staatsschulden verteuerte, angekündigt, man werde alles tun, um den Euro zu erhalten. Im Anschluss konstruierte die Europäische Zentralbank ein Regelwerk, das ihr erlaubte, bei außergewöhnlichen Notlagen unter bestimmten Bedingungen die Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten in unbegrenzter Menge aufzukaufen – und damit eine weitere Kreditaufnahme der betroffenen Länder zu ermöglichen (Outright Monetary Transactions, OMT). Das OMT-Programm kam zwar nie zur Anwendung, seine schiere Existenz führte aber eine vordergründige Beruhigung der Situation herbei.
Als 2014 im Zuge sinkender Energiepreise die Inflationsrate zurückging und zeitweise negative Werte erreichte, diagnostizierte die EZB eine Deflationsgefahr und begann zu deren Abwendung mit umfangreichen Käufen von Wertpapieren, insbesondere Staatsanleihen. Die dritte Phase der ultralockeren Geldpolitik hatte begonnen. Je länger sie andauerte, desto stärker gerieten die Frankfurter Währungshüter in die Kritik. Diese Kritik hatte zwei Stoßrichtungen. Zum einen wurde bezweifelt, dass die Deflationsgefahr so groß war wie von der EZB behauptet. Hier ging es also um die Notwendigkeit der (Staats-)Anleihekäufe. Zum anderen nahm mit den Jahren die Zahl der Mahner in Wissenschaft, Politik und Medien zu, die zwar die Käufe grundsätzlich befürworteten beziehungsweise zumindest anfangs befürwortet hatten, nun aber immer drängender auf die ihrer Meinung nach erheblichen Risiken und Nebenwirkungen hinwiesen. Dabei handelte es sich insbesondere um die finanzielle und die fiskalische Dominanz. Darunter versteht man die Abhängigkeit der Notenbank von Entwicklungen, die sie mit einer zu lockeren Geldpolitik selbst befördert hat.
Im Falle der finanziellen Dominanz bedeutet dies: Das Niedrigzinsumfeld nötigt Kapitalmarktakteure und Finanzinstitutionen zu Geschäftsmodellen und Investitionen, die stark risikobehaftet sind und sich nur bei niedrigen Zinsen rentieren. Wenn die Zinsen wieder steigen, drohen erhebliche Verwerfungen, die von den Finanzmärkten auf die Realwirtschaft ausstrahlen können. Droht Inflation, steht die Zentralbank nun vor einer schwierigen Entscheidung: Zieht sie die geldpolitischen Zügel an, löst sie Verwerfungen an den Finanzmärkten und gegebenenfalls auch in der Realwirtschaft aus; lässt sie die Zügel locker, riskiert sie eine zunehmende Inflationsdynamik.
Ganz ähnlich ist es bei der fiskalischen Dominanz. Niedrige Zinsen machen die Finanzierung der Staatsschuld günstiger und stimulieren den privaten Konsum sowie die Unternehmensinvestitionen. Das mindert den Druck auf die Regierungen der Euroländer, ihre Haushalte zu sanieren und mittels Strukturreformen (Liberalisierung der Arbeits- und Gütermärkte, Effizienzsteigerung im Staatssektor und dergleichen mehr) für günstige Wachstumsbedingungen zu sorgen. Bei zunehmender Inflation steht die Zentralbank wiederum einem Dilemma gegenüber: Die Sicherung der Preisniveaustabilität durch eine restriktive Geldpolitik belastet die Staatsfinanzen und die wirtschaftliche Entwicklung in den Mitgliedsländern. Bleiben jedoch die Zinsen niedrig und die Liquidität reichlich, könnte die Inflation außer Kontrolle geraten.
Als Covid-19 zum alles beherrschenden Thema wurde, hatte die EZB gerade begonnen, auf diese Gefahren zu reagieren und ihre ultra-expansive Geldpolitik ein klein wenig einzuschränken; sie stand aber noch immer auf dem geldpolitischen Gaspedal. Die Abhängigkeit der Finanzmarktteilnehmer von billigem Geld war weiter gestiegen, und gleichzeitig waren viele Euro-Staaten in Sachen fiskalischer Konsolidierung nur wenig vorangekommen. Um die Auswirkungen der Pandemie auf die Kapitalmärkte und die Realwirtschaft zu verringern, initiierte die EZB dann im März 2020 das Pandemic Emergency Purchase Programm (PEPP) und intensivierte ihre Anleihekäufe erheblich. Die Notwendigkeit von PEPP war unumstritten. Doch je länger es in Kraft blieb, desto mehr vergrößerte es die drohende finanzielle und fiskalische Dominanz der EZB-Geldpolitik. Angesichts neuer Höchstwerte bei den Schuldenständen vieler Euroländer erscheint eine Normalisierung der Geldpolitik heute, zwei Jahre nach Beginn der Corona-Krise, schwieriger denn je.
Unvollendete Union
Die europäische Realität des Jahres 2022 zeigt: Der Einigungsprozess im Allgemeinen und die Währungsintegration im Besonderen weisen Licht und Schatten auf. Zwar waren in den vergangenen Jahren Rückschläge wie der Brexit und die schweren Krisen der Eurozone zu verkraften; gleichzeitig aber haben EU und Währungsunion die Corona-Krise als größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg zufriedenstellend gemeistert.
Während und infolge der Pandemie hat die ökonomische Konvergenz zwischen den Euroländern eher ab- als zugenommen. Darauf haben die Regierungen mit dem NextGenEU-Plan reagiert. Er enthält zur Unterstützung besonders hart getroffener Mitglieder erstmals Elemente einer Europäisierung der Fiskalpolitik. Dazu zählt insbesondere die Refinanzierung über gemeinschaftlich begebene Anleihen. Die anhaltenden Schwierigkeiten der Währungsunion lassen sich aber nicht mit Verweis auf die Streitfrage "europäische versus nationale Finanzpolitik" lösen. Was nach wie vor fehlt, ist ein Konsens über die grundlegende Ausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Hier stehen sich weiter die beiden oben beschriebenen Modelle gegenüber: langfristige Stabilitäts- und Wachstumsorientierung versus kurzfristige Konjunkturstimulierung. Auch ein europäischer Finanzminister mit einem nennenswerten Budget wäre auf einen solchen Konsens angewiesen, wollte er eine zielführende Politik betreiben.
Diese offenen Fragen tragen ihren Teil zur Erklärung der Tatsache bei, dass die Währungsunion auch geografisch nach wie vor unvollendet ist. Erst 19 der 27 EU-Staaten haben den Euro eingeführt. Bulgarien und Kroatien möchten dies bald nachholen, Rumänien ist nicht abgeneigt. Schweden und Dänemark waren von Anfang an skeptisch und aus dem Reigen der 2003 im Rahmen der Osterweiterung beigetretenen Ländern zeigen auch Polen, Tschechien und Ungarn wenig Begeisterung für die gemeinsame Währung.