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Spaltende Anstalten | Gefängnis | bpb.de

Gefängnis Editorial "Ich wollte mehr sein als diese Haftstrafe". Ein Gespräch über Resozialisierung, den Haftalltag und das Leben danach Sinn und Unsinn von Haftstrafen. Zwei Perspektiven Alternativlose Institution Spaltende Anstalten Vom Recht und seiner Realität. Strafvollzug in Deutschland Geschichte(n) des Gefängnisses Gefängnisnation USA. Eine Geschichte der Macht Geschlossene Gesellschaft. Alltag im Gefängnis Wo, wenn nicht hier? Politische Bildung im (Jugend-)Strafvollzug

Spaltende Anstalten

Thomas Galli

/ 12 Minuten zu lesen

Die Frage nach dem Sinn von Haftstrafen und damit zugespitzt nach dem Sinn von Gefängnissen lässt sich weniger leicht beantworten als die Frage nach dem Sinn anderer Institutionen: In Schulen sollen Kinder etwas lernen, in Krankenhäusern Menschen von ihren Leiden befreit werden, in Kirchen will man gemeinsam zu Gott finden. Gefängnisse haben ein bisschen etwas von allem: Ihre Insassen sollen lernen, keine Straftaten mehr zu begehen, sie sollen "vom Schlechten geheilt" und die Gesellschaft vor Kriminalität wie vor einer Krankheit geschützt werden, und als Institution werden Gefängnisse vom Glauben an die Gerechtigkeit getragen.

Die Frage, ob unsere Gefängnisse sinnvoll sind, wird unterschiedlich beantwortet. Die Antwort hängt nicht nur vom jeweiligen Wissensstand, sondern auch von der individuellen Betroffenheit ab. Ein Beamter, der im Strafvollzug Geld verdient, wird dessen Sinnhaftigkeit anders beurteilen als die Frau eines Inhaftierten, ganz zu schweigen von den Inhaftierten selbst oder von den Opfern schwerer Straftaten. Das Gefängnis ist ein Ort, an dem zum Teil nicht miteinander in Einklang zu bringende Bedürfnisse aufeinandertreffen. Im Folgenden werde ich die Sinnhaftigkeit unserer Gefängnisse anhand der Überlegung diskutieren, ob sie uns aus gesamtgesellschaftlicher Sicht eher nützen als schaden.

Warum gibt es Gefängnisse?

Warum sperren wir Menschen zur Strafe in geschlossene Anstalten ein? Wozu tun wir dies, und welche Folgen hat es? Die Frage nach dem "Warum" hängt mit der nach dem "Wozu" zusammen, ist jedoch nicht mit ihr identisch. Sie wird gerne gemieden, ist sie doch mit einer kritischen Selbstreflexion verbunden: Warum strafen wir überhaupt?

Schon Kinder glauben, dass das Schlagen eines anderen Kindes und das Wegnehmen eines fremden Apfels unabhängig vom Bestehen einer entsprechenden Regel bestraft werden müssen. Es scheint einen mehr oder weniger angeborenen Sinn für Gerechtigkeit in der Form zu geben, dass von anderen erwartet wird, neben ihrem individuellen Wohl auch das anderer Menschen beziehungsweise der Gruppe zu berücksichtigen. Wer diese Erwartung nicht erfüllt, löst bei den anderen Aggressionen aus.

Normbrüche erregen also nicht nur unser allgemeines Interesse, wie es etwa der Erfolg diverser "True Crime"-Formate belegt. Die Mehrheit der Menschen hat auch ein Bedürfnis nach Rache, Vergeltung und Strafe. Dieses Bedürfnis lässt sich weltweit und über verschiedene Kulturformen hinweg beobachten. Es muss also einen evolutionären Vorteil gehabt haben. Dabei geht es im weitesten Sinne um Kooperation: Nur im Zusammenwirken konnten und können wir Menschen uns gegenüber anderen Raubtieren durchsetzen und die natürlichen Ressourcen bestmöglich nutzen. Viele der psychologischen und sozialen Mechanismen, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben, dienen daher der Förderung der Kooperation.

Um das Bedürfnis zu befriedigen, sind wir sogar bereit, für die Vergeltung eigene Kosten in Kauf zu nehmen. Bei dem Gedanken an Rache werden die gleichen Teile des Gehirns aktiviert, die sich nach Nikotin, Kokain oder Schokolade sehnen. Da eine Befriedigung nach einer ausgeübten Vergeltung tatsächlich jedoch oft nicht eintritt, scheint das Bedürfnis uns Einzelnen zur Steigerung des kollektiven Wohls auferlegt worden zu sein. Der Urgrund der Strafe liegt also in unserem Bedürfnis nach Vergeltung jenseits aller rationalen Erwägungen.

Rache ist auch eine wichtige Ursache von nicht-legitimierter Gewalt. Als Gesellschaft haben wir das Gewaltmonopol an den Staat übertragen. Das hat langfristig gesehen zu einem deutlichen Rückgang der Gewalt beigetragen. In diesem Rahmen rechtfertigen wir Strafen nicht nur mit einem "der hat es verdient", sondern versuchen, ihnen auch einen zukunftsorientierten Sinn zu geben. So soll die Freiheitsstrafe den (potenziellen) Täter vor (weiteren) Straftaten abschrecken und die Allgemeinheit schützen, solange der Täter in Haft ist. Die Inhaftierten sollen resozialisiert und das Vertrauen der Allgemeinheit in Recht und Gesetz gestärkt werden.

Diese im Verhältnis zu körperlicher Züchtigung fortschrittliche Idee, durch Entzug der Freiheit zu strafen, hat sich wohl eher zufällig aus Interessen und Strukturen entwickelt, die nur zum Teil etwas mit dem zu tun hatten, was wir heute mit Strafen erreichen wollen. Ein Entwicklungsstrang dieser Idee ist das Ziel, in verschiedener Hinsicht als störend wahrgenommene Menschen dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen, etwa indem man Bettler in Anstalten einsperrte. Gleichzeitig sollte die Arbeitskraft der Eingesperrten (aus)genutzt werden. So entstand Ende des 16. Jahrhunderts in Amsterdam ein erstes Spinhuis für Spinn- und Näharbeiten. Ein weiterer Entwicklungsstrang liegt in unserer christlichen Geschichte. So wurden etwa Mönche in den Klöstern des Mittelalters, die gegen Regeln verstoßen hatten, damit bestraft, dass sie von den anderen getrennt und in Einzelzellen eingesperrt wurden, um in dieser Absonderung zu Gott zu finden und Buße zu tun.

Was nützen Gefängnisse (nicht)?

Was erreichen wir mit unseren Gefängnissen? Ein statistischer Nachweis, in welchem Umfang Gefängnisse die Rückfallquote ihrer Insassen reduzieren, ist schwierig. Angesichts der Tatsache, dass etwa die Hälfte der Entlassenen wieder straffällig wird und dies nur das Hellfeld der aufgedeckten Straftaten betrifft, lässt sich zumindest feststellen, dass es keine Hinweise auf eine "Resozialisierung" der Mehrheit der Inhaftierten gibt. Die Zahlen sprechen eher für das Gegenteil. Das erscheint plausibel, wenn man sich beispielsweise vor Augen führt, dass die Frage, ob und wie lange jemand inhaftiert wird, ganz wesentlich von der Schwere der Schuld abhängt, die verbüßt werden muss, und nicht nach dem, was zur Resozialisierung förderlich wäre. Auch werden Gefängnisse zuvorderst daran gemessen, dass niemand ausbricht, und kaum an ihren Resozialisierungserfolgen. Etwa die Hälfte aller Inhaftierten verbüßt längstens ein Jahr, langfristig gesehen ist also auch der Schutz der Allgemeinheit sehr zweifelhaft.

Noch schwerer lässt sich ermitteln, inwieweit das Gefängnis abschreckende Wirkung auf potenzielle Straftäter hat. Jedenfalls scheint die Abschreckungswirkung des Gefängnisses zum einen weit geringer zu sein, als vielfach vermutet. Wer einen Betrug oder Ähnliches plant, rechnet damit, ohnehin nicht erwischt zu werden. Bei Gewalt- oder Sexualstraftaten, die aus starken Trieben und Affekten heraus begangen werden, spielt der Abschreckungsgedanke ebenso wie bei suchtkranken Tätern auch keine sehr große Rolle. Zum anderen könnte die mit dem Gefängnis erzielte Abschreckung mit anderen staatlichen Maßnahmen wie etwa einer Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit ebenso erreicht werden.

Den Bedürfnissen der Geschädigten entsprechen Gefängnisstrafen in vielen Fällen nicht. Schadensersatz, Täter-Opfer-Ausgleich oder gemeinnützige Arbeit sind für Opfer oft wichtiger als das Strafverlangen. Inhaftierte verdienen durch eine Arbeit in Haft etwa 2 Euro pro Stunde, also viel zu wenig, um angemessene Entschädigungen zu leisten. Auch die Mehrheit der Bevölkerung erwartet als Sanktion auf viele Delikte keine Gefängnisstrafe, deren Kosten zwischen 100 und 150 Euro pro Tag und Gefangenem beträgt, sondern eine Wiedergutmachung.

In einiger Hinsicht erscheint der Nutzen unseres Strafvollzugs in seiner jetzigen Form also fraglich. Nun sind wir zwar bereit, auch Kosten und Nachteile in Kauf zu nehmen, um unser Vergeltungsbedürfnis zu stillen – aber eben nur, um damit gesamtgesellschaftlich etwas Sinnvolles im Sinne einer höheren Kooperationsbereitschaft zu bewirken. Kooperationsbereitschaft ist allerdings mehr als das Unterlassen strafbarer Handlungen.

Kinder und Familien von Inhaftierten werden mitbestraft, obwohl sie selbst nichts verbrochen haben. Der Kontakt mit dem Ehemann oder Vater kann für Monate oder Jahre auf wenige Stunden im Monat beschränkt sein. Teilweise dürfen die Gefangenen nur eine Stunde im Monat Besuch empfangen und grundsätzlich weder telefonieren noch das Internet benutzen. In den Anstalten entsteht eine Subkultur. Drogen und Gewalt prägen den Alltag. Die Gefangenen haben fast keine geschützte Intimsphäre. Ihr Haftraum wird regelmäßig durchsucht, ihre Briefe können gelesen werden, sie müssen sich zur Kontrolle auf Drogen entkleiden, jede Anordnung muss befolgt werden. Die Arbeit in Haft ist nicht in die Rentenversicherung einbezogen, sodass nach längeren Haftstrafen ein Alter in Armut droht. Das Stigma einer Gefängnisstrafe bleibt oft ein Leben lang und erschwert eine Wiederaufnahme in die Gemeinschaft als gleichwertiges Mitglied. Dies alles führt zu Demütigung und einer Oppositionshaltung zu Staat und Gesellschaft.

Hinzu kommt, dass vor allem Menschen aus ohnehin an den Rand gedrängten und wenig integrierten Bevölkerungsschichten inhaftiert werden. Besonders deutlich wird dies bei der Ersatzfreiheitsstrafe für Straffällige, die ihre Geldstrafe etwa wegen "Schwarzfahrens" nicht bezahlen konnten. Zwei Drittel sind arbeitslos, ebenfalls zwei Drittel suchtkrank und etwa ein Viertel obdachlos.

Schließlich ist auch die Förderung der Kooperation kein Selbstzweck. Sie dient dem Überleben und Fortkommen der Menschheit an sich und ist daher nicht nur milieuübergreifend, sondern auch generationenübergreifend zu verstehen. Konflikte sind bei jeder Kooperation bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar und sogar konstruktiv. Sie können jedoch auch lähmend und destruktiv wirken. Konflikte werden mit wachsender Weltbevölkerung und knapper werdenden natürlichen Ressourcen zunehmen. Einen noch konstruktiveren Umgang mit Konflikten zu finden und menschliches Leid weiter zu reduzieren, gehört daher ganz wesentlich zum Sinn menschlicher Entwicklung. Dieser Sinn umfasst den Sinn unseres Vergeltungsbedürfnisses. Er reicht jedoch tiefer und weiter.

Fortentwicklung des Strafrechts

Um unser Strafrecht weiterzuentwickeln, müssen wir unser Strafbedürfnis reflektieren und näher hinsehen: Nutzen wir die Energie, die Straftaten in uns auslösen, tatsächlich sinnvoll? Eine gesamtgesellschaftliche Reflexion setzt die transparente Kommunikation aller Akteure und ein Interesse füreinander voraus. Denn das Strafen selbst ist zum einen eine Form von Kommunikation, zum anderen ist es eingebettet in einen gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozess.

Es ist sicher nicht hilfreich, wenn von offizieller Seite die Resozialisierung der Inhaftierten in den Vordergrund gestellt wird und dabei aus dem Blick gerät, inwieweit der Strafvollzug oft gerade nicht resozialisierend wirken kann. Auch die öffentliche Kritik an einzelnen Urteilen sollte nicht mit der Begründung abgebügelt werden, nur Fachleute könnten entscheiden, welche Strafe die richtige ist. Das Strafen ist keine Wissenschaft wie die Medizin. Wenn Opfer kaum gehört werden oder viele Inhaftierte keinen Sinn in ihrer Haft sehen können, ist dies ferner ein Zeichen für eine gestörte Kommunikation zwischen Staat und Betroffenen. Die Gewalt des Straftäters ist selbst oft auch Ausdruck von Sprachlosigkeit.

Wer näher hinsieht, wird zunächst feststellen, dass in unseren Gefängnissen viele Menschen sitzen, die dort nicht hingehören. Viele Betäubungsmittel- und Bagatelldelikte sollten daher nicht mit Freiheitsstrafe bedroht sein. "Schwarzfahren" etwa kann ebenso gut als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden. Auch hat die Erfahrung längst gezeigt, dass sich der "Krieg gegen Drogen" nicht mit der Kriminalisierung Abhängiger gewinnen lässt.

Wer in die Gefängnisse hineinsieht, wird sich zudem fragen, wer etwas davon haben soll, dass die Menschen dort ihre Zeit absitzen. Neben einer deutlichen Ausweitung des Täter-Opfer-Ausgleichs sollte daher die gemeinnützige Arbeit als dritte Art von Strafe neben der Geld- und der Freiheitsstrafe eingeführt werden, wie es sie etwa in Belgien, Litauen, Spanien oder Finnland gibt. Bei Verweigerung der gemeinnützigen Arbeit könnte beispielsweise mit Einschränkungen der freien Lebensgestaltung durch elektronische Aufenthaltsüberwachung reagiert werden.

Bei näherer Betrachtung des derzeitigen Strafvollzugs wird auch deutlich, dass die Vorbereitung einer Resozialisierung innerhalb geschlossener Anstalten kaum gelingen kann. Nur vergleichsweise wenigen, wie etwa sadistischen Sexualmördern, muss zum Schutz der Allgemeinheit notfalls lebenslang die Freiheit entzogen werden. Im Übrigen jedoch gilt es, das Gefängnis als totale und geschlossene Institution durch dezentrale und offenere Formen der Freiheitsbeschränkung zu ersetzen. Ansätze dafür existieren bereits. So gibt es in Baden-Württemberg und Sachsen einen Strafvollzug in freier Form, in Sachsen seit Kurzem auch für erwachsene Straftäter. Strafgefangene verbüßen dabei ihre Freiheitsstrafe nicht in einem Gefängnis oder einer vergleichbaren Einrichtung, sondern in eng betreuten Wohngruppen. Bei schweren Gewalt- oder Sexualstraftätern können diese Wohngruppen auch gegen Entweichung gesichert sein, es macht jedoch keinen Sinn, Hunderte Straffällige zusammen in eine geschlossene Anstalt einzusperren, aus der sie früher oder später ohnehin wieder entlassen werden.

Als Alternative zur Haft wäre auch elektronisch überwachter Hausarrest wie in Norwegen, Finnland oder Österreich denkbar. Sinn ergeben solche Maßnahmen allerdings nur, wenn begleitend die oftmals vielfältigen Problemfelder der Betroffenen bearbeitet werden. Neben der Notwendigkeit des Rechts, das verbindliche Regeln für eine Vielzahl unterschiedlicher Einzelfälle setzen muss, muss künftig vor allem die Tatsache, dass für jedes Opfer, jeden Täter und jedes Umfeld höchst individuelle Wege zum Erfolg führen können, stärker berücksichtigt werden.

Trennung von Unrechtsausspruch und Rechtsfolgen

Um nicht nur Rechtsfrieden, sondern auch mehr tatsächlichen Frieden erreichen zu können, sollten im Gerichtssaal keine Weichen gestellt werden, von denen oft für lange Zeit kaum noch abgewichen werden kann. Straftaten weisen oft auf grundlegende soziale Probleme hin. Die von ihnen ausgehenden Veränderungs- und Entwicklungsimpulse können wir nutzen, statt sie zu verdrängen.

Dazu wäre eine Trennung von Unrechtsausspruch und Rechtsfolgen sinnvoll, sodass vom Strafgericht grundsätzlich nur noch ein Rahmen möglicher Maßnahmen festgelegt wird, der anschließend von einem Gremium unter Einbindung von beispielsweise sozialpädagogischen Fachleuten, dem Täter, dem Opfer und Bürgern ausgefüllt wird, das während der gesamten Dauer des Vollstreckungsverfahrens die getroffenen Maßnahmen entsprechend der Entwicklung der Beteiligten anpasst.

So könnte beispielsweise ein Einbrecher, der derzeit zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt werden würde, zu einem elektronisch überwachten Hausarrest zwischen 6 und 18 Monaten verurteilt werden. An dem Gremium, das seinen Fall begleitet, beteiligt sich auch die Geschädigte. Sie hat seit dem Einbruch Angstzustände und möchte verstehen, warum der Täter das getan hat. Ein Mediator begleitet daher einen Gesprächsprozess zwischen Täter und Opfer. Dem Einbrecher wird deutlich, was er über den materiellen Schaden hinaus angerichtet hat. Die Geschädigte verliert etwas ihre Angst vor einer diffusen Bedrohung, da sie den Täter als Menschen kennengelernt hat. Dieser ist zur Finanzierung seiner Drogensucht bei ihr eingebrochen. Das Gremium legt fest, dass er nur die Mindestzeit von 6 Monaten im elektronisch überwachten Hausarrest verbringen muss, wenn er eine Suchttherapie absolviert, ein Jahr lang in Schulen über die Risiken von Drogenkonsum aufklärt und Hilfsarbeiten in einer Senioreneinrichtung leistet. Dies entspricht auch dem Sühneverlangen der Geschädigten. Da der Täter Probleme hat, partnerschaftliche Beziehungen aufzubauen und längere Zeit eine Arbeit auszuüben, wird ihm für 18 Monate ein erfahrener Sozialpädagoge zur Seite gestellt. Die Kosten dieser Maßnahmen sind insgesamt geringer als die Kosten einer einjährigen Haftstrafe.

Für einen sozialen Sinn von "Strafe"

Gefängnisse in ihrer heutigen Form sind in verschiedener Hinsicht Meilensteine in unserer zivilisatorischen Entwicklung. Straffällige werden dort nicht mehr getötet oder gefoltert, und das reine Wegsperren ist in den vergangenen Jahrzehnten zumindest dem Anspruch gewichen, die Insassen zu resozialisieren und den Vollzug möglichst individuell zu planen und zu gestalten. Unsere Gefängnisse geben jedoch auch Anlass zu erkennen, dass wir die Richtung ändern und die Schwerpunkte unserer Zielsetzungen verlegen müssen, wenn unsere Strafen weniger schädigen und spalten und eher den Zusammenhalt fördern sollen. Wir können derzeit nicht erreichen, was die meisten von uns mit Strafen eigentlich erreichen wollen. Straffällige in die Verantwortung für den von ihnen angerichteten Schaden zu nehmen, ist sinnvoller als ein Konstrukt individueller Schuld, die mit dem Erleiden eines Übels durch den Entzug der Freiheit verbüßt werden soll. Zugleich müssen wir alle mehr Verantwortung im Umgang mit Kriminalität und Straffälligen übernehmen. Die (auch) strafenden Reaktionen auf individuelles schädigendes und den Zusammenhalt gefährdendes Verhalten nützen uns insgesamt nur, wenn sie unser Miteinander stärken. Unsere Gefängnisse eignen sich dafür nicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Tobias R. Andrissek, Vergeltung als Strafzweck, Tübingen 2017, S. 28.

  2. Vgl. Joachim Bauer, Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, München 2013, S. 38.

  3. Vgl. Tonio Walter, Vergeltung als Strafzweck – Prävention und Resozialisierung als Pflichten der Kriminalpolitik, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 7/2011, S. 636–647.

  4. Vgl. Clive Gamble/John Gowlett/Robin Dunbar, Evolution, Denken, Kultur: Das soziale Gehirn und die Entstehung des Menschlichen, Berlin u.a. 2016, S. 125ff.

  5. Vgl. Steven Pinker, Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt/M. 2018, S. 786.

  6. Vgl. Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2019, S. 163.

  7. Vgl. Matthias Müller, Vergeltungsstrafe und Gerechtigkeitsforschung, Tübingen 2019, S. 2.

  8. Vgl. Pinker (Anm. 5), S. 784.

  9. Vgl. Lioba Werth/Beate Seibt/Jennifer Mayer, Sozialpsychologie – Der Mensch in sozialen Beziehungen, Berlin 2020, S. 356.

  10. Vgl. Bernd Maelicke, Das Knastdilemma, Frankfurt/M. 2019, S. 55.

  11. Vgl. ebd., S. 53.

  12. Vgl. Tobias Singelnstein/Karl-Ludwig Kunz, Kriminologie, Bern 2021, S. 356.

  13. Vgl. Klaus Laubenthal, Strafvollzug, Wiesbaden 2019, S. 60.

  14. Vgl. Johannes Feest, Definitionsmacht, Renitenz und Abolitionismus, Wiesbaden 2019, S. 305.

  15. Vgl. Singelnstein/Kunz (Anm. 12), S. 437.

  16. Vgl. ebd., S. 349.

  17. Vgl. Thomas Galli, Weggesperrt – Warum Gefängnisse niemandem nützen, Hamburg 2020, S. 230.

  18. Vgl. Bauer (Anm. 2), S. 9.

  19. Vgl. Thomas Fischer, Über das Strafen, München 2018, S. 72.

  20. Vgl. Ulfrid Kleinert/Lydia Hartwig (Hrsg.), Ein deutsches Gefängnis im 21. Jahrhundert – Redakteure der unzensierten Dresdner Gefangenenzeitung "Der Riegel" berichten, Radebeul 2021, S. 11.

  21. Vgl. Rehzi Malzahn, Restorative Justice – eine andere Unrechtsbewältigung ist möglich, in: dies. (Hrsg.), Strafe und Gefängnis, Stuttgart 2019, S. 194–221.

  22. Vgl. Christine Graebsch/Sven-Uwe Burkhardt, Vergleichsweise menschlich? Ambulante Sanktionen als Alternative zur Freiheitsentziehung aus europäischer Perspektive, Wiesbaden 2015, S. 92.

  23. Vgl. Tapio Lappi-Seppälä/Noora Lähteenmäki, Finnland, in: Frieder Dünkel/Christoph Thiele/Judith Treig (Hrsg.), Elektronische Überwachung von Straffälligen im europäischen Vergleich – Bestandsaufnahme und Perspektiven, Mönchengladbach 2017, S. 325–342, hier S. 328.

  24. Zu vergleichbaren Ansätzen siehe Ulfrid Kleinert (Hrsg.), Strafvollzug – Analysen und Alternativen, München–Mainz 1972.

  25. Ausführlicher Galli (Anm. 17), S. 240ff.

  26. Vgl. Annelie Ramsbrock, Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch – eine bundesdeutsche Geschichte, Frankfurt/M. 2020.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Thomas Galli für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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war über 15 Jahre lang im Strafvollzug tätig, zuletzt als Leiter der JVA Zeithain in Sachsen, und arbeitet heute als Rechtsanwalt. Externer Link: http://www.thomas-galli.de