Schaut man sich die Studien zur Befindlichkeit der Deutschen und ihren Neigungen in Sachen Freiheit an, fällt seit Jahrzehnten auf, dass ihnen soziale Sicherheit, die ihnen der Staat gewährt, mehr am Herzen liegt als Freiheit und Eigenverantwortung. Das schließt ein, dass viele Bürgerinnen und Bürger Eingriffe in ihre individuelle Lebensführung nicht nur billigend in Kauf nehmen, sondern staatliche Verbote zugunsten eines gesunden, klimafreundlichen und sicheren Lebens auch ausdrücklich wünschen.
Natürlich soll und muss der Staat eine Grundsicherung gewähren. Und gewiss rechtfertigten die ökonomischen Härten für viele im Zuge der Coronakrise auch zusätzliche staatliche Kompensationen. Doch kann ein Staat nur das verteilen, was er einnimmt. Und Verschuldung in Permanenz ist gegenüber nachfolgenden Generationen unverantwortlich und gerade nicht gerecht. Doch die politische Klasse neigt immer wieder dazu, eine Illusion zu erzeugen: Der Staat oder die Regierung könnten den globalen ökonomischen Strukturwandel und die damit einhergehenden Verwerfungen, die den einen zum Vorteil gereichen, für die anderen aber sehr schmerzlich sein können, aufhalten. Doch auch der Staat kann nicht vor allen Krisen Sicherheit gewähren. Gleichwohl bleibt "Vater Staat" für viele jene Appellationsinstanz und ersehnte Autorität, die es richten soll.
Vater Staat in der Krise
In seiner Vorlesung "Über eine Weltanschauung" widmete sich Sigmund Freud 1933 den Sehnsüchten und Wünschen des Menschen nach einer behaglichen, gerechten Welt, in der für ihn gesorgt wird, seinem Schutzbedürfnis entsprochen und damit seine eigene Hilflosigkeit erträglich wird. Fand der Mensch jahrhundertelang in der Religion bei Gott-Vater solch tröstliche Versicherungen, so scheint an dessen Stelle der moderne Fürsorgestaat getreten zu sein. "Der Vater hat das schwache, hilflose, allen in der Außenwelt lauernden Gefahren ausgesetzte Kind beschützt und bewacht; in seiner Obhut hat es sich sicher gefühlt. Als Erwachsener mag er auch jetzt nicht auf den Schutz verzichten, den er als Kind genossen hat. Längst hat er aber erkannt, dass sein Vater ein in seiner Macht eng beschränktes, nicht mit allen Vorzügen ausgestattetes Wesen ist. Darum greift er auf das Erinnerungsbild des von ihm so überschätzten Vaters der Kindheit zurück, erhebt es zur Gottheit und rückt es in die Gegenwart und in die Realität."
Zu diesem Kulturbesitz zählt zweifellos auch das deutsche Verständnis vom Sozialstaat, das nun einem zähen und schmerzhaften Desillusionierungsprozess unterworfen ist. Ein Großteil der Bevölkerung hegt immer noch die Sehnsucht, Vater Staat möge für eine soziale, gerechte und behagliche Welt sorgen – eine Illusion, die seit Jahrzehnten nicht nur zu Wahlkampfzeiten gerne von der Politik bedient wird. Aber dem Staat ist längst das Geld ausgegangen. Bund, Länder und Gemeinden haben einen exorbitanten Schuldenberg angehäuft; die Pro-Kopf-Verschuldung der Bevölkerung hat ein historisches Höchstmaß erreicht. Wirtschaftskrisen mit ihrer beunruhigenden Korrelation zwischen zunehmender Staatsverschuldung und struktureller, unabhängig vom Konjunkturverlauf größer werdenden Arbeitslosigkeit kennen wir bereits seit den 1970er Jahren. Trotz aller zwischenzeitlichen wirtschafts- und finanzpolitischen Entspannungsphasen dämpfen die zu hohen Lohnnebenkosten die Wirtschaftskraft hierzulande empfindlich. Das Rentensystem ist längst aus den Angeln gehoben, und der Konkurs wird auf die nachfolgenden Generationen übertragen. Doch grundlegende Reformen des so geliebten und gepäppelten Sozialstaats blieben aus. Um die Gunst der Wählerschaft zu gewinnen – immer mit Verweis auf die unterstellten Widerstände in der Bevölkerung –, wird die tiefe Krise des Wohlfahrtsstaats weiterhin kleingeredet. Die Überalterung der Gesellschaft, der exorbitante Fachkräftemangel, der Reformstau im Gesundheits- und Pflegewesen oder im Rentensystem nach langen Jahren der Großen Koalition sind enorme Herausforderungen für die rot-grün-gelbe Regierungskoalition.
Doch Freiheit wird in Deutschland immer noch weniger als Eigenverantwortung, Risikobereitschaft, Selbsttätigkeit und Gestaltungsoption des Individuums begriffen, sondern vielmehr in der sozialen Sicherheit verortet, die der Staat den Bürgern lange Zeit garantieren konnte. Dafür wird der Preis der staatlichen Bevormundung in Kauf genommen. Doch an Wagemut und Beweglichkeit fehlt es auch der politischen Klasse und den Interessenverbänden, wie der deutsche Korporatismus vom Gesundheitswesen bis zur Tarifpolitik zeigt: Niemand möchte vertraute Sicherheiten aufgeben zugunsten einer riskanten Freiheit mit offener Perspektive, die naturgemäß ein Scheitern ebenso einschließen kann wie den Zuwachs an Selbstbestimmung.
Gleichheit ist nicht gleich Gleichheit
Die seit Otto von Bismarck etablierte staatliche Sozialpolitik, eine Melange aus Etatismus und Korporatismus, hat sich tief in die deutsche Mentalität eingegraben. Sie wurde erfolgreich als innenpolitisches Instrument zur Konsolidierung gesellschaftlicher und politischer Stabilität angewendet; fortgesetzt, weiterentwickelt und vertieft durchzieht sie kontinuierlich wie ein roter Faden die deutsche Geschichte vom Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus, dem DDR-Kommunismus bis hin zum prosperierenden Nachkriegswestdeutschland und der wiedervereinigten Bundesrepublik. Das Selbstverständnis der Deutschen, der Staat habe die Lebensrisiken seiner Bürger zu tragen und für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, hat also eine lange Tradition. Der Nationalsozialismus bediente die Sehnsüchte nach staatlicher Fürsorge ebenso wie später die Sozialistische Einheitspartei der DDR. Hitler erkaufte sich die Zustimmung der Massen nicht zuletzt mit dem Ehegattensplitting, Kilometerpauschalen und den Zuschlägen für Sonn- und Feiertagsarbeit. 1941, mitten im Krieg, erhöhte er die Renten um 15 Prozent.
Den Deutschen ist die von der Französischen Revolution und später der amerikanischen Verfassung postulierte Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz im Laufe ihrer Geschichte weitgehend zusammengeschmolzen auf die soziale Gleichheit und die Forderung nach allumfänglicher Sicherheit.
Die Gleichheit vor dem Gesetz, die jedem die Möglichkeit der Entfaltung seiner Person garantiert, produziert zwangsläufig Ungleichheit: Die Bürger nehmen sich nämlich die Freiheit, auf sehr unterschiedliche Weise ihr Leben zu gestalten. Diese Ungleichheit der Lebensläufe und -stile zeichnet die pluralistische Demokratie gegenüber der kollektivistischen Gleichschaltung in totalitären Diktaturen gerade aus. Gleichheit vor dem Gesetz und Chancengerechtigkeit sind nicht identisch mit sozialer Ergebnisgleichheit.
Differenzierung ist eine produktive Kraft, wie die Geschichte der Moderne gezeigt hat. Egalisierung durch Reglementierung der Spielräume und paternalistische Fürsorge sind hingegen selbst in kleinem Maßstab verbunden mit der Ausdehnung staatlicher Macht auf Kosten der individuellen Freiheit, Selbstständigkeit und Innovationskraft, etwas Neues und anderes auf den Weg zu bringen.
Doch die Vorstellung vom selbstverantwortlichen Individuum, das sein Leben, seine Freiheit und sein Streben nach Glück eigenwillig in die Hand nimmt, stößt bis heute auf Misstrauen. In der geläufigen Individualismuskritik wird das egoistische, gewinn- und zweckorientierte Individuum als Produkt eines dekadenten Kapitalismus angeprangert und das Hohelied auf den Staat und die Gemeinschaft angestimmt. Selbstverständlich brauchen wir Gemeinsinn und eine staatliche Grundsicherung, die ja in Kombination mit der sozialen Marktwirtschaft funktioniert und die Existenz der Bürger absichert. Aber soll es tatsächlich der Staat sein, der als Sinnstifter agiert und im Gegenzug für soziale Sicherheit vorschreibt, wie das gute Leben der Bürger und Bürgerinnen aussehen soll: gerecht, gesund, divers, inklusiv und gegenüber Risiken abgesichert?
Weicher und harter Paternalismus
Lange Zeit sah es so aus, als ob die finsteren Zeiten kollektiver Sinnstiftung vorbei wären. Stattdessen erleben wir ihre Renaissance: in der Moralisierung staatlicher Politiken und in der Politik neuer gesellschaftlicher Kollektive, die sich herausnehmen, Identität und Sinn zu stiften und die Gestaltungspotenziale individueller Biografien wieder einzuengen – obwohl doch gerade die vielfältigen individuellen Wahlfreiheiten zu den größten Errungenschaften unserer westlichen Zivilisation gehören. Sie haben dafür gesorgt, dass sich unsere Gesellschaften immer weiter ausdifferenziert haben und so eine Pluralität der Lebensstile entstehen konnte – die anspruchsvollsten, die wir je hatten.
Als Sinnstifter geriert sich auch der Staat, wenn er zum Beispiel der Identitätspolitik mit wohlmeinender Einführung von Quoten Durchsetzung verleiht. Hinzu kommt eine immer weiter ausufernde staatliche Moralpolitik, die die Bürger hegen, pflegen, aber eben auch lenken will: auf einen bestimmten Weg des "guten" Lebens. Mittels dieser zuweilen übergriffig anmutenden "Sozialpädagogik" sollen die Bürger vor sich selbst geschützt werden. Der weiche Paternalismus will mit Anreizprogrammen und "Nudging" die Bürger schubsen und erziehen; der harte Paternalismus tut dies, indem er Verbote und Strafsteuern verhängt. Die bewährte Kombination aus beiden ist nicht nur Diktaturen eigen, sondern wird auch eifrig in den liberalen Wohlfahrtsstaaten des Westens praktiziert. Dann werden Bürger wie kleine Kinder behandelt und pathologisiert, weil etwa die Genussmittel Bier und Wein kurzerhand zu "Rauschdrogen" umgedeutet werden – von Tabak und Zucker gar nicht zu reden.
Auch dies zählt zu den Paradoxien der Freiheit. Wilhelm von Humboldt warnte schon 1792 eindringlich davor. Die Aufgabe des Staates sei gerade nicht, die Tugend seiner Bürger zu verbessern. "Überhaupt wird der Verstand des Menschen doch, wie jeder andere seiner Kräfte, nur durch eigene Tätigkeit, eigene Empfindsamkeit oder eigene Benutzung fremder Erfindungen gebildet. Anordnungen des Staates aber führen immer, mehr oder minder, Zwang mit sich, und selbst, wenn dies der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken. (…) Noch mehr aber leidet durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staates die Energie des Handelns überhaupt und der moralische Charakter. (…) Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt. (…) Wie jeder sich selbst auf die Sorgen der Hilfe des Staates verlässt, so und noch weit mehr übergibt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber schwächt die Teilnahme und macht zu gegenseitiger Hilfsleistung träger."
Der Ökonom und Philosoph John Stuart Mill hat in seinem Werk "Über die Freiheit" 1859 die Humboldtschen Gedanken aufgegriffen und weiterentwickelt. Darin entfaltet er zusammen mit seiner Koautorin Harriet Taylor Grundprinzipien der Freiheit und rückt die Bedeutung der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung ins Zentrum. Ihre Schrift war ein Meilenstein in der Ideengeschichte des Liberalismus und hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt: Sie trifft ins Herz der Dilemmata der Moderne.
In der Einleitung formulieren die beiden das Hauptprinzip, welches das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum in Bezug auf Zwang und Bevormundung regeln soll – gleichgültig, ob die dabei gebrauchten Mittel physische Gewalt in Form von gerichtlichen Strafen oder moralischer Zwang durch öffentliche Meinung seien: "Das Prinzip lautet: daß der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines Mitglieds einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Daß der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten."
Das eigentliche Gebiet der menschlichen Freiheit, so Mill, "umfaßt als erstes das innere Feld des Bewußtseins und fordert hier Gewissensfreiheit im weitesten Sinne, ferner Freiheit des Denkens und des Fühlens, unbedingte Unabhängigkeit der Meinung und der Gesinnung bei allen Fragen, seien sie praktischer oder philosophischer, wissenschaftlicher, moralischer oder theologischer Natur. (…) Zweitens verlangt dies Prinzip Freiheit des Geschmacks und der Studien, Freiheit, einen Lebensplan, der unseren eigenen Charakteranlagen entspricht, zu entwerfen und zu tun, was uns beliebt, ohne Rücksicht auf die Folgen und ohne uns von unseren Zeitgenossen stören zu lassen – solange wir ihnen nichts zuleide tun –, selbst wenn sie unser Benehmen für verrückt, verderbt oder falsch halten. Drittens: Aus dieser Freiheit jedes einzelnen folgt – in denselben Grenzen – diejenige, sich zusammenzuschließen, die Erlaubnis, sich zu jedem Zweck zu vereinigen, der andere nicht schädigt."
Weder der Staat noch die Gesellschaft haben diesem Prinzip zufolge das Recht, sich in die privaten Angelegenheiten und Handlungen der Individuen, die nur sie selbst etwas angehen, einzumischen oder sie gar zu sanktionieren. Von staatlicher oder gesellschaftlicher Seite sind Sanktionen nur zulässig, wenn diese Handlungen andere schädigen. Niemand darf zu seinem Glück gezwungen werden. Damit widerspricht Mill ganz vehement einem Paternalismus, der mithilfe rechtlicher und moralischer Reglementierungen die Individuen zum Zwecke ihres Wohlergehens fürsorglich lenken und umhegen will. Denn die "freie Entwicklung der Persönlichkeit ist eine der Hauptbedingungen der Wohlfahrt."
Es hat in unserem Zivilisationsprozess Jahrhunderte gedauert, bis wir alte, äußere Autoritäten erkannt, kritisiert und später verarbeitet und internalisiert haben; bis wir unabhängig und mündig wurden. Aus Gemeinschaften, die zusammenschweißten, Unterschiede einebneten und auf Zwang beruhten, sind liberale Gesellschaften geworden. Ihre Besonderheit ist der gewachsene Handlungsspielraum für jeden Einzelnen. Dieser Fortschritt war verbunden mit der Herausbildung des individuellen Selbstzwangs und der Selbstkontrolle, aus der die Fähigkeit der Selbstverantwortung entstand, wie es der Soziologe Norbert Elias so einleuchtend für unsere westliche Sozial- und Mentalitätsgeschichte zeigte.
Gut leben, um die Welt zu retten?
Der Paternalismus kommt also nicht nur von einer Seite und von oben herab, sondern funktioniert auch als reziproker sozialer Mechanismus, an dem verschiedene Akteure beteiligt sind. Der Erfolg der Ratgeber-Literatur beispielsweise, die die Bestseller-Listen anführt, ist damit zu erklären, dass dieser Rat gewünscht wird. Unterschiedlichste Zweige einer "Kümmer-Industrie" entstehen. Nicht nur von staatlicher Seite wird der Umgang mit den Bürgern therapeutischer – wenn etwa permanent die Rede ist von ihren Ängsten, die die Politiker bei ihnen diagnostizieren, und bei denen sie sie dann fürsorglich "abholen" wollen. Auch nichtstaatliche Sozialingenieure deuten gesellschaftliche Reibungen und Konflikte in psychotherapeutischer Manier um. So macht zum Beispiel inzwischen der Begriff der "Resilienz" Karriere, der die psychische Widerstandsfähigkeit benennt, für die nun Trainingseinheiten angeboten werden. Auch das "Achtsamkeitstraining" ist sehr beliebt. Es soll die Aufmerksamkeit für Minderheiten schulen und eine Speerspitze gegen Rassismus sein. Wobei wir bei der Viktimisierung, den verletzten und gekränkten Gefühlen allenthalben angekommen wären. Selbstverständlich ist, dass wir uns um Opfer jedweder Art kümmern müssen, das gebietet die Moral. Doch die Opferkollektive auf der einen Seite und die Kümmerer auf der anderen Seite haben dabei das mündige Individuum aus dem Blick verloren. Die Selbstermächtigung aus Unfreiheit und kollektiven Zwängen stand früher auf der Agenda; sie hat den Weg in unsere offenen Gesellschaften und freiheitlichen Demokratien erst geebnet.
Immanuel Kant hat schon im Jahr 1784 in seinem leidenschaftlichen Plädoyer "Was ist Aufklärung?" auf die Fallstricke des Paternalismus aufmerksam gemacht: "Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt und so weiter: so brauche ich mich selbst ja nicht zu bemühen. (…) Daß der bei weitem größte Teil der Menschen den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben."
Wie sich der Zeitgeist, gesellschaftliche Normen und Lebensstile von der Freiheit wegbewegen können, kann man nicht zuletzt am Bedeutungswandel von Genussmitteln und auf dem Gebiet der Ernährung beobachten. Auch wenn dafür die – zweifellos vorhandenen – Probleme des Klimawandels und der Erderwärmung angeführt werden, hat der moralisierende und alarmistische Diskurs für die Rettung des Weltklimas tiefere Dimensionen, die weit über die Appelle des Fastens, des "Plastikfastens" und der sofortigen Einstellung des Fleischkonsums hinausgehen. Der amerikanische Ernährungsmediziner Steven Bratman sprach schon Anfang der 2000er Jahre von der Orthorexie, von der manischen Beschäftigung mit gesundem Essen, die sich inzwischen allenthalben Bahn bricht. Waren einst üppige Tafeln mit gut gefüllten Gläsern, um die sich fröhliche Genießer, Gourmands und Gourmets versammelten, Sinnbild für Wohlstand, Lebensfreude und den Erfolg unseres (westlichen) Lebensstils, so hört man heute immer häufiger das Lob des Heilfastens. Mäßigung, Selbstbeschränkung, Verzicht, Reinigung und Askese sind die neuen Werte, die die leiblichen und seelischen Genüsse kanalisieren sollen – nach Überfluss und Völlerei nun die neue Kargheit, in der die postmaterialistische Sinnsuche stattfindet.
In unseren säkularisierten Gesellschaften ist die Sehnsucht nach Erlösung, Rettung, Führung und umfassender Sicherheit vor jedem erdenklichen Risiko nicht verschwunden. Gerade in Krisenzeiten sucht sie sich neue Figurationen. Das Essen und der Umgang mit ihm scheinen inzwischen zu einer Art Religionsersatz zu werden – in Zeiten, in denen die Staatskirchen immer leerer werden. Moden, Essgewohnheiten oder der unterschiedliche Gebrauch von Genussmitteln waren schon immer soziale und kulturelle Distinktionsmerkmale, um sich von anderen abzugrenzen. Heute propagiert die Avantgarde einer bürgerlichen, liberal bis grün-urbanen neuen Mittelschicht den Wandel. Veganismus und Vegetarismus sind die neuen Heilslehren – aber auch durchaus die Steinzeitküche. Zurück also zu den Ursprüngen!
Die Anhängerschaft der einen Richtung gerät dabei flugs in Streit mit den Jüngern anderer Fraktionen. Dabei geht es keineswegs nur um die Klimarettung, sondern auch um das eigene Körper- und Seelenheil – man möchte fast von privater Religion sprechen. Körper und Stoffwechsel, die früher der individuellen Privatsphäre unterlagen, sind zum Medium kollektiver Sinnstiftung geworden. Man teilt den Umgang damit gerne mit anderen und bildet Gruppen, in denen sich Selbsterlösung und Welterlösung kombinieren lassen. Die Begeisterung für die Ursprünglichkeit und die kulturell nicht überformte, unverdorbene Natur erinnert zuweilen an die Bewegung der Lebensreformer, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts das Heil in der Natur sahen. In der Skepsis gegenüber der modernen Urbanität, der Kritik an Konsumismus und Hedonismus berühren sich konservative Kulturkritik, bürgerlicher Kulturpessimismus und linke Gesellschaftskritik, die an die marxistischen Diagnosen der Entfremdung und Ausbeutung anknüpft. In der Skepsis gegenüber Fortschritt, Wachstum und Kapitalismus spiegeln sich die Zweifel an der bisher erfolgreichen westlichen Zivilisationsgeschichte – erst recht, wenn deren Werte und Errungenschaften von außen massiv unter Druck geraten. Die neue Askese und der Wunsch nach Katharsis sind auch Reaktionen auf die Angriffe von außen – so, als müsse der Westen für seinen bisher üppigen, an diesseitiger Lebenslust orientierten Lebensstil Buße tun. Der Kampf um das richtige Essen und die richtige Lebensweise ist inzwischen jedenfalls hochpolitisch geworden. Es geht darin aber nicht mehr nur um Gesundheit, Selbstoptimierung, Selbstvergewisserung und das eigene Seelenheil, sondern, so der Anspruch, um die Rettung der ganzen Welt.
Sicherheit gibt es nur in Grenzen
Selbstverständlich, und hier schließt sich der Kreis, ist der Staat für die Sicherheit seiner Bürger und Bürgerinnen verantwortlich. Das schließt die Sorge um ihre körperliche Unversehrtheit und Gesundheit mit ein, wie die Debatten um die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie zeigen. Aber es geht dabei immer um Angemessenheit. Absolute Sicherheit kann der Staat nicht gewähren, und seine Zuständigkeiten sollte er nicht überdehnen.
Die liberale Demokratie braucht einen starken, aber schlanken Staat, der seinen ordnungspolitischen Aufgaben nachkommt, ohne dabei der Versuchung zu erliegen, der bessere Unternehmer oder größere Volkspädagoge sein zu wollen; der sich in seiner Interventionslust zurückhält und dafür sorgt, dass verfasste Regeln eingehalten werden; der als Rechtsstaat die innere und äußere Sicherheit seiner Bürger garantiert und auf Übergriffe auf das private Leben und die individuellen Freiheiten seiner Bürger weitgehend verzichtet. Ein Staat also, der sich seiner Neutralität bewusst ist, weder Recht noch Politik moralisiert und die Eigeninitiative seiner Bürger nicht in paternalistischer Fürsorge erstickt. Ein Staat, der sich nicht als Sinnstifter und Tugendwächter aufschwingt und sich anmaßt, seine Bürger erziehen zu wollen.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine beschert uns nicht nur eine sicherheits- und geopolitische "Zeitenwende", wie es Bundeskanzler Olaf Scholz genannt hat. Er rüttelt viele wach. Viele Jahrzehnte währende Selbstverständlichkeiten im Hinblick auf unseren Wohlstand, unseren Sozialstaat oder unsere Freiheiten sind in Bewegung geraten. Ein Wandel in den Köpfen hat begonnen. Dies schließt die Bedeutung von Sicherheit, die lange Zeit in Deutschland hauptsächlich als wohlfahrtsstaatliche Sicherheit und Behaglichkeit verstanden wurde, ein. Die Menschen haben begriffen, dass Sicherheit auch militärische Absicherung und Verteidigungsfähigkeit bedeutet. Sie wollen eine wehrhafte Demokratie.
Die große Krise hat mit dem Krieg in Europa, den der russische Diktator gegen die Ukraine führt, vermutlich erst begonnen. Es ist ein Krieg gegen die Freiheit und die Demokratie. Vielleicht kann dieser Krieg ja wenigstens dazu dienen, ein breiteres Bewusstsein bei den Bürgern und Bürgerinnen für die über Jahrhunderte hart erkämpften Freiheiten und ihre Zerbrechlichkeit zu schaffen. Denn wir haben viel zu verlieren. Gerade deshalb brauchen wir einen neuen, antitotalitären Konsens, mit dem wir unsere Freiheiten robust verteidigen und den gewaltigen Herausforderungen begegnen können. Sicherheit gibt es nur in Grenzen. Es wird in Zukunft um eine viel grundlegendere Absicherung unserer Freiheiten gehen.