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Der Pandemiestaat als nervöser Staat | Freiheit und Sicherheit | bpb.de

Freiheit und Sicherheit Editorial Zwischen Leviathan und Kantischem Rechtszustand. Über das schwierige Verhältnis von Freiheit und Sicherheit Dynamiken der Sicherheit. Sicherheit und Unsicherheit in historischer Perspektive Zwischen individueller Freiheit und staatlicher Sicherheitsgewähr. Wandlungen des Rechtsstaats in unsicheren Zeiten Der Pandemiestaat als nervöser Staat. Zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in Krisenzeiten Politik der Inneren Sicherheit. Politisierungsdynamiken und Politikänderungen Im Zweifel für die Sicherheit. Haltungen der Bevölkerung zur Verteidigung von Freiheit und Sicherheit Illusion der Sicherheit. Warum wir uns mit der Freiheit so schwertun

Der Pandemiestaat als nervöser Staat Zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in Krisenzeiten

Tristan Barczak

/ 16 Minuten zu lesen

Krisen sind ein Stresstest für den demokratischen Verfassungsstaat und lassen ihn alarmiert, rastlos und überreizt erscheinen. Freiheit und Sicherheit geraten zunehmend aus der Balance. Helfen könnte eine schonende Fortschreibung des Ausnahmeverfassungsrechts.

Krisen bedeuten einen Stresstest für den demokratischen Verfassungsstaat. Dies gilt in besonderer Weise für die Krisenphänomene der Moderne: Diese zeichnen sich durch ihre katastrophischen Dimensionen genauso aus wie durch eine mangelnde Beherrschbarkeit im nationalstaatlichen Alleingang sowie eine kaum zu prognostizierende Wahrscheinlichkeit von Ort, Zeit, Art und Ausmaß des drohenden Schadens. Vor diesem Hintergrund ist nicht erst die Covid-19-Pandemie eine besondere rechtsstaatliche wie gesamtgesellschaftliche Herausforderung; die Pandemie reiht sich vielmehr ein in vergleichbare Krisenerscheinungen wie die Folgen des Klimawandels oder eines internationalen Terrorismus. In der Bewältigung der vermeintlich allgegenwärtigen Krisenphänomene wirkt der Staat zunehmend alarmiert, rastlos und überreizt. Die Pandemie hat das Bild eines "nervösen Staates" gezeichnet, der sich in einem Zustand der nervösen Verkrampfung befindet und in dem die Gewichte von Freiheit und Sicherheit zunehmend aus der Balance geraten.

Nervosität als "neue Normalität"

Die Gefahren und Risiken der modernen, von den Prozessen der Globalisierung, Digitalisierung und Medialisierung geprägten Gesellschaft sind typischerweise katastrophisch und ihre Konsequenzen irreversibel. Weil sie "Zerstörungen von einem Ausmaß bedeuten, daß Handeln im Nachhinein praktisch unmöglich wird", lässt sich ihnen mit den klassischen Mitteln aus dem Instrumentenkasten von Notstand und Ausnahmezustand nicht effektiv begegnen. Aus diesem Grund ist im Staat der Gegenwart alles auf möglichst frühzeitige Prävention und möglichst umfassende Vorsorge angelegt; soweit diese den Ausbruch der Krise nicht im Vorfeld zu verhindern vermag, muss jede nachträgliche Hilfe zu spät kommen.

Der Zustand, in den Staat und Gesellschaft mit Ausbruch der Coronapandemie im Frühjahr 2020 versetzt wurden, war dementsprechend mit den hergebrachten Kategorien des Staatsrechts nicht zu erfassen. Es handelte sich zum einen weder um einen rechtlichen Staatsnotstand noch um einen außerrechtlichen Ausnahmezustand: Das Grundgesetz war weder temporär suspendiert noch hat es den Weg in eine "Gesundheitsdiktatur" oder "Virokratie" freigemacht. Die Grundrechte standen weder "unter Quarantäne" noch befanden sie sich in einem "Shutdown". Zum anderen befand sich der Pandemiestaat auch nicht mehr im Normalzustand, jedenfalls nicht in einem solchen, den man bisher kannte. Was aber ist das Charakteristische des new normal? Zunächst einmal ist der Pandemiestaat ein Staat der Risiko- und Sicherheitsgesellschaft. In eine dauerhaft nervöse Alarmbereitschaft versetzt, sieht sich dieser Staat in einem ständigen Wettlauf mit der gefühlten oder realen Unsicherheit. Kennzeichnend für diese neue Form staatlicher Krisenbewältigung ist nicht die politische Dezision, nicht die einmalige Entscheidung eines Souveräns über den Ausnahmezustand, sondern ein fortlaufendes Nachjustieren auf Gesetzes- und Verordnungsebene, das zwischen Wissen, Nicht-Wissen und unsicherem Wissen oszilliert.

Angst als Argument

Die Annahme, in außergewöhnlichen Zeiten zu leben und hierauf mit außergewöhnlichen Maßnahmen antworten zu müssen, ist ein Symptom ängstlicher Gesellschaften und eines nervösen Staates. In dem um sich greifenden Vorsorgedenken spiegelt sich die anthropologisch paradoxe Eigenart der Sicherheits- und Risikogesellschaft wider, dass der Mensch noch nie sicherer und risikofreier lebte und gleichzeitig noch nie so viel Angst hatte. Das "Vor-die-Welle-Kommen" hat sich dementsprechend zu einem ebenso sprichwörtlichen wie weithin erfolglosen Mantra der Pandemiebekämpfung entwickelt. Der Nachweis von Tatsachen und die Begründung von Kausalität, Zurechnung und individueller Verantwortlichkeit tritt dabei mehr und mehr in den Hintergrund. Auf ein diffuses Infektionsgeschehen wird mit diffusen Eingriffen reagiert.

In dem überschießenden Bestreben, seinen Bürgerinnen und Bürgern die Angst vor einer ungewissen Zukunft zu nehmen, läuft der Staat allerdings in eine Antizipationsfalle: Aus ständiger Angst, den kritischen Zeitpunkt rechtzeitigen Handelns zu verpassen, handelt der Staat neuerdings schon in der Normallage so, als befinde er sich im Ausnahmezustand. Er hält unentwegt nach Gefahrenquellen und potenziellen Feinden Ausschau, beseitigt Gefahren, bevor sie entstehen, agiert vorsorglich, statt abzuwarten und versetzt sich in einen Zustand ständiger Wachsamkeit und dauerhafter Alarmbereitschaft. Wo die Angst überhandnimmt, wo es auf Wahrscheinlichkeiten nicht mehr ankommt, wo angeblich nicht mehr abgewartet werden kann, wo die bloße Möglichkeit der Gefährdung von Risikogruppen oder der Überlastung der Intensivstationen zum Einschreiten ausreicht, da sind grundlegende rechtsstaatliche Sicherungen aufgehoben. Gerade das Abwartenkönnen war ein Wesenselement des liberalen Rechtsstaats, durch welches die Bürgerinnen und Bürger den Staat im Normalfall auf Distanz halten konnten. Diese Distanz ist im pandemischen Staat aufgehoben, für ihn gilt kein "Social Distancing". Mit Lockdown und Ausgangssperre bedient sich der Pandemiestaat vielmehr klassischer Mittel aus dem Werkzeugkasten des Ausnahmezustands, setzt diese jedoch nicht nach Erklärung eines Notstands, sondern zur pauschalen Vermeidung, Verhinderung und Verdrängung eines solchen ein. Das Ergebnis waren "Ausgangssperren auf Verdacht" und ein weithin lageunabhängiger Lockdown.

Krise als Konjunktiv

Eine Pandemie steht aufgrund ihrer katastrophischen Dimensionen auf einer Stufe mit anderen globalen Risiken wie dem Klimawandel, Naturkatastrophen, dem internationalen Terrorismus oder Weltwirtschafts- und Finanzkrisen. Aufgrund ihrer komplexen Ausgangsbedingungen und Einflussfaktoren lässt sie sich zudem kaum sicher prognostizieren. Vielmehr begründet die Pandemie ein Leben im Konjunktiv nach dem Motto: Wo einer nicht zu Hause bleibt, da bleiben womöglich viele nicht zu Hause, da stecken sich womöglich so viele an, dass letztlich die Intensivbetten nicht ausreichen und es in letzter Konsequenz zu einer Triage, einer Priorisierung der Behandlung nach individueller Erfolgsaussicht, kommen könnte. Die Pandemiegesellschaft ist eine "Könnte-Gesellschaft", in der die Logik der Möglichkeit die Logiken der Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit unterminiert. Da schlichtes Nichtstun oder auf den Schutz von Risikogruppen begrenztes Handeln angesichts der weithin unbestimmten Bedrohung durch das Virus, der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter sowie einer zunehmend verletzlichen ("vulnerablen") Sicherheitsgesellschaft keine geeignete und ausreichende Option ist, sucht der Staat die Lösung in der möglichst frühzeitigen und umfassenden Vorsorge gegen zukünftige Risiken anstelle der punktuellen Abwehr hinreichend konkretisierter Gefahren im Einzelfall.

Dieses Konzept ist nicht nur von einem sozialwissenschaftlichen Ansatz, sondern auch von einem steuerungswissenschaftlichen Verständnis des Rechts her unmittelbar plausibel. Umso mehr das Vorsorgeprinzip in die Strategie der Pandemiebewältigung einsickert, umso – im Wortsinne – maßloser muss die Pandemiepolitik jedoch ausfallen. Vorsorge kennt kein Maß, ist nie abgeschlossen und weist insofern tendenziell totalitäre Züge auf. Wenn jeder Todesfall "an, mit und wegen Corona" als Scheitern des Staates oder ethisches Versagen einer solidarischen Gesellschaft betrachtet wird, muss die Vorsorge per se unzureichend sein und darf eine Verbotspolitik prinzipiell niemals enden. Hier verlangt jede erfolglose Verhinderung nach früherer Verhütung, nach Ausweitung der Befugnisse, nach Verstetigung der ursprünglich für einen Ausnahmefall getroffenen Maßnahmen. Unter diesen Voraussetzungen verschieben sich die Gewichte von Normalität und Ausnahme, von Freiheit und Sicherheit, von grundrechtlicher Eingriffsabwehr und staatlicher Schutzpflicht. Hier bilden die Rechtstreue und Nichtgefährlichkeit respektive Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr die als selbstverständlich akzeptierte Normalität. Vielmehr werden sie zu Ausnahmen, deren Vorliegen jederzeit darzutun und im Bedarfsfall im Wege einer "Unbedenklichkeitsbescheinigung" nachzuweisen sind. Mit dem Vordringen des Vorsorgeprinzips in die unterschiedlichsten Lebens- und Regelungsbereiche ist grundsätzlich jeder bis zum Beweis des Gegenteils Ansteckungsverdächtiger, potenzieller Querdenker, möglicher Terrorist oder Klimasünder. In diesem Staatsverständnis, das zugleich Spiegelbild des gesellschaftlichen Selbstverständnisses ist, liegt das größte Risiko eines krisenbedingten Umbaus des freiheitlichen Verfassungsstaates. So sehr wir die Unbefangenheit unseres gesellschaftlichen Miteinanders schrittweise ablegen und mehr und mehr dazu neigen, uns nicht mit anderen zu versammeln, uns nicht zu Vereinigungen zusammenzuschließen, nicht im Kollektiv den eigenen Glaubensüberzeugungen gemäß zu handeln oder – schlichter – uns nicht mehr die Hand zu geben, so sehr schwindet unser Bewusstsein für das Verhältnis von Normalität und Ausnahme.

Exekutivprimat als Entgrenzungstendenz

Krisenzeiten erzeugen Entscheidungsdruck. Nichtentscheiden, weil die Entscheidungsgrundlagen unsicher oder die Entscheidungsfolgen unabsehbar sind, ist keine Option – weder für die gesetzgebenden noch für die ausführenden oder die rechtsprechenden Organe. Gerade in Anbetracht hochkomplexer, dynamisch verlaufender und selbst von Expertinnen und Experten nur schwer prognostizierbarer Bedrohungsszenarien handelt es sich dabei freilich um Entscheidungen unter Unsicherheit und unter den Bedingungen des Nicht-Wissens. Wenn bei Eintritt der Krise unter erheblichem Zeitdruck und mit großem Pragmatismus gehandelt werden muss, scheint auch die parlamentarische Demokratie an ihre Grenzen zu stoßen. So akzeptiert das Leitbild des demokratischen, gewaltenteiligen Verfassungsstaats in Normalzeiten sein mag, so sehr scheinen die betreffenden Entscheidungsprozesse und -strukturen in kritischen Zeiten zu langsam, umständlich und behäbig zu sein und damit einer effizienten Krisenbewältigung letztlich nur im Wege zu stehen. In der Stunde der Not schlägt – scheinbar unausweichlich – die "Stunde der Exekutive". Die Unberechenbarkeit der existenziellen Gefahr konterkariert hier den Parlamentsvorbehalt, das vorgebliche Bedürfnis nach situationsbezogenen Maßnahmen die Allgemeinheit des Gesetzes, der Ruf nach Dringlichkeit, Effizienz und Ballung der Kompetenzen das Erfordernis rechtsstaatlicher Bindungen und Berechenbarkeit staatlichen Handelns, das Verlangen nach Zentralisierung und Konzentration staatlicher Macht den Freiheitsschutz der Bürger und die gewaltenteilige Ordnung des Verfassungsstaates.

In diesem Sinne ist die "Stunde der Exekutive" auch immer die Stunde der öffentlichkeitsscheuen Rechtsverordnungen und administrativen Maßnahmen hinter verschlossenen Türen, der verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Krisenstäbe und intuitiv irritierenden Podcasts aus dem Kanzleramt. Um sowohl Verschärfungen als auch Lockerungen der Covid-19-Beschränkungen bundesweit besser koordinieren zu können, trafen sich die Bundeskanzlerin und die Chefinnen und Chefs der 16 Landesregierungen zur organisationsrechtlich opaken Ministerpräsidentenkonferenz. Bei dieser handelt es sich nicht um ein Verfassungsorgan, sondern um ein nicht öffentlich tagendes, informelles und von parlamentarischen Mehrheiten entkoppeltes Gremium der Selbstkoordination der Regierungen. Mit dieser Informalisierung rechtlicher Strukturen und Prozesse schlagen in der "Stunde der Exekutive" zugleich die Stunden der Entparlamentarisierung, der Entnormativierung sowie der Entjustizialisierung. Eine Krise mit der von ihr ausgelösten Konzentration und Zentralisierung staatlicher Macht ist somit gleich in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung des gewaltenteiligen Verfassungsstaates: zum einen der horizontalen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, zum anderen der vertikalen Gewaltenteilung durch die föderale Staatsgliederung in Bund und Länder. Verstünde man die "Stunde der Exekutive" hingegen als schlichte Zeitangabe, als deskriptive Beschreibung des Umstands, dass Krisensituationen verstärkt nach Orientierung, Staatsleitung und Abkürzung von Verfahren rufen, drückte sich in dieser Charakterisierung lediglich der allzu verständliche Wunsch nach einer möglichst baldigen Rückkehr zur Normalität aus. In diesem Sinne stünde die "Stunde der Exekutive" für eine allenfalls befristete Abweichung von Stabilität, Ordnung und Normalität, sodass die Rückkehr zur Normallage zwangsläufig nur eine Frage der Zeit darstellte. Hierin erschöpfen sich die Intentionen und Assoziationen jedoch typischerweise nicht: Vielmehr dient die "Stunde der Exekutive" regelmäßig als Chiffre einer Sehnsucht nach einem "starken Staat" und autoritären Entscheidungen mit "harter Hand".

Parlamentsvorbehalt als Politikvorbehalt

Einer solchen autoritären Sehnsucht setzt das Grundgesetz auch und gerade in kritischen Zeiten seinen Normativitätsanspruch und die ihm eigentümliche Verknüpfung von Rechtsstaatlichkeit und parlamentarischer Demokratie entgegen. Das Rechtsstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 3 GG und das in Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 GG niedergelegte Demokratieprinzip verpflichten den Gesetzgeber, insbesondere in grundrechtsrelevanten Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und nicht Regierung oder Verwaltung zu überlassen (sogenannte Wesentlichkeitslehre). Dies gilt ohne Abstriche und nicht zuletzt in Krisenzeiten und Notlagen. Das Grundgesetz erkennt das Bedürfnis nach flexiblen Reaktionsmöglichkeiten für die Exekutive zwar durchaus an, trifft jedoch zugleich Vorsorge dagegen, dass sich das Parlament seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft entäußert oder sich die exekutive Verordnungsrechtsetzung entgrenzend verselbstständigt.

Der Parlamentsvorbehalt ist damit zugleich ein Vorbehalt zugunsten der politischen Diskussion und Auseinandersetzung. Als Politikvorbehalt verlangt der Parlamentsvorbehalt nach einem öffentlichen Forum zur Erörterung all derjenigen Tätigkeiten, Gegenstände und Fragestellungen, die das Gemeinwesen – die Polis – betreffen. Er verlangt nach einer öffentlichen Diskussion und Debatte über den Regelungs- oder Beratungsgegenstand unter Einbeziehung der parlamentarischen Opposition. Öffentlichkeit verschafft Legitimität, gerade in Zeiten der Zwangsprivatheit. Im Parlament als dem demokratischen Gravitationszentrum sind die wesentlichen Fragen zu erörtern und zu entscheiden, die die Gesellschaft bewegen. Das Parlament darf gerade bei wachsender öffentlicher Unruhe, Erregung, Angst und Panik nicht den Eindruck erzeugen, nicht betroffen oder nicht gefragt zu sein. Talkshow-Runden mit Bundesministerinnen beziehungsweise Ministerpräsidenten oder Podcasts aus dem Kanzleramt sind kein tauglicher Ersatz dafür, was eine parlamentarische Beratung gerade ermöglichen soll: den öffentlichen Austausch von Argumenten, das Vortragen von Begründungen, die Gegenüberstellung kontroverser Positionen. Die Covid-19-Pandemie war die Zeit der massivsten kollektiven Grundrechtseinschränkungen, die der deutsche Verfassungsstaat seit 1949 auszuhalten hatte. Gleichwohl fand die gebotene öffentliche Auseinandersetzung erst sehr spät – "vielleicht zu spät" – mit der Generaldebatte Ende Oktober 2020 und der anschließenden Debatte des "Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite" Mitte November 2020 statt, also acht Monate nach Ausbruch der Pandemie und sieben Monate nach dem ersten Lockdown.

Die Frage, wer über die Corona-Beschränkungen entscheidet, ist mit der Wesentlichkeitslehre indes eindeutig und unmissverständlich zugunsten des Parlaments beantwortet. Allenfalls vorübergehend, also für einen gewissen Erstreaktionszeitraum, lässt das Grundgesetz Ausnahmen von dieser Regel zu, um auf neue, außergewöhnliche und unvorhergesehene Gefahrenlagen auch mit im Grunde näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig reagieren zu können. Unabhängig davon, ob die Coronakrise tatsächlich unvorhersehbar war – Warnungen dahingehend, dass sich Rechtsordnung und Verwaltung auf regionale und globale Pandemien einzustellen haben, gab es im Vorfeld auch hierzulande genügend –, ist auf diese Weise verfassungsrechtlich garantiert, dass aus der "Stunde der Exekutive" nicht Wochen, Monate oder gar Jahre werden. Dass das Parlament sehr wohl in der Lage ist, auch kurzfristig auf neue Herausforderungen flexibel zu reagieren und ein Gesetzgebungsverfahren einschließlich der Ausschussberatungen innerhalb weniger Tage oder Stunden durchzuführen, hat es bereits wiederholt bewiesen: So hat der Bundestag den Entwurf des "Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite" am 18. November 2020 in zweiter und dritter Lesung beraten und beschlossen. Noch am selben Tag stimmte der Bundesrat dem Gesetz in einer Sondersitzung zu und fertigte der Bundespräsident das Gesetz aus, sodass es bereits am Folgetag in Kraft treten konnte.

Ein derart beschleunigtes, unter Zeitdruck stehendes Gesetzgebungsverfahren, in dessen Rahmen drei Verfassungsorgane an einem Tag entscheiden, ist in Normalzeiten verfassungspolitisch nicht wünschenswert, da es eine geringere Gewähr für rationale und nachhaltige Entscheidungen bietet. Ein "motorisierter" und gelegentlich zu Geschwindigkeitsübertretungen neigender Gesetzgeber ist ein Wesensmerkmal des "nervösen Staates". Die Möglichkeit der Eilgesetzgebung kann jedoch in Krisenfällen dafür sorgen, dass das Parlament das Heft des Handelns in der Hand behält. Abseits dessen müssen die Trennung der Gewalten sowie deren Aufgaben und Funktionen in der Krise weitestgehend unangetastet bleiben. Das Grundgesetz sperrt sich vehement gegen jede Form der Entnormativierung und Entparlamentarisierung zum Zwecke der Krisenbewältigung. Speziell dort, wo die Befugnisse der Bundesregierung für den Krisenfall ausdrücklich erweitert werden (siehe Artikel 115f Absatz 1 GG), zeugen die spärlichen Regelungen von der prinzipiellen Skepsis der Verfassung gegenüber einer exekutiven Machtkonzentration. Auf dem Ziffernblatt des Grundgesetzes gibt es mit anderen Worten keine "Stunde der Exekutive", nach seiner Uhr ist "auch die Stunde der Not die Stunde des Rechts und des Parlaments".

Vulnerabilität als Verfassungsmerkmal

In einem Verfassungsstaat bedarf die Bewältigung von Krisen verfassungsrechtlicher Grundlagen und Grenzen. Die vielstimmig eingeforderte "Solidarität" ist demgegenüber prinzipiell schrankenlos, ihr moralisierender Anspruch kennt kein Maß. Das Grundgesetz ist eine Verfassung, die für Normal- und für Krisenzeiten gleichermaßen und weithin unterschiedslos gilt. Sie eröffnet für Notzeiten keine Notausgänge, jedenfalls keine solchen, die es erlauben würden, von ihren grundlegenden Struktur- und Wertentscheidungen – und sei es auch nur temporär – abzuweichen. Stattdessen geht das Grundgesetz den Weg der verregelnden Normalisierung, es folgt – in den Worten US-amerikanischer Verfassungsjuristen – einem sogenannten Business-as-usual-Modell. Dies zeigt sich mustergültig am Konzept des Verteidigungsfalls, dessen legalistischer Perfektionismus seinesgleichen sucht und dessen überbordende, auf zahlreiche Artikel verstreute Regelungsstruktur in offenkundigem Kontrast zur generalklauselhaften Kürze des Artikels 48 Absatz 2 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 steht. Der Verteidigungsfall ist im Verfassungsstaat des Grundgesetzes kein Ausnahmezustand, sondern ein Sondernormalfall. Minutiös arbeiten die Artikel 115a ff. GG den Ausnahmefall in einen verfassungsstaatlichen Spezialfall um, indem am Grundsatz der Gewaltenteilung, dem Prinzip der Bundesstaatlichkeit und Länderhoheit sowie der Kontrollkompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit so lange und so weit wie irgend möglich festgehalten wird. Das Grundgesetz geht auch in der Krise von einem checks and balances zwischen Legislative, Exekutive und Judikative aus. Es erhebt den Normalfall zum Maß aller Dinge und vertraut darauf, dass sich die Krise mit "verfassungsstaatlichen Bordmitteln" bewältigen lässt. Die proklamierte "Stunde der Exekutive" ist somit verfassungsrechtlich, rechtssoziologisch sowie verfassungshistorisch ein Mythos: Sie vermochte stets nur dann zu schlagen, wenn das Parlament sie selbst einläutete oder sich mit ihr abfand, indem es sich selbst entmächtigte. Einmal eingeläutet, liegt es in den Händen des Parlaments, die "Stunde der Exekutive" wieder zu beenden. Letzteres fällt naturgemäß schwerer als Ersteres und bildet damit den eigentlichen Gradmesser für die Vitalität und Resilienz einer parlamentarischen Demokratie in kritischen Zeiten.

In der historischen Skepsis des Grundgesetzes gegenüber jeder Form von Ausnahmezustand oder Staatsnotstand und dem beharrlichen Festhalten am verfassungsstaatlichen Normalfall liegt indes ein blinder Fleck. Hier zeigt sich die Vulnerabilität einer Verfassungsordnung, die zumindest auf den ersten Blick keine klare Trennlinie zwischen Normallage und Ausnahmesituation einzieht und damit auch der Vermischung beider Zustände wenig entgegenzusetzen hat. Die Folge ist, dass verfassungsrechtliche Schranken-Schranken, also Beschränkungen der Einschränkungsmöglichkeit von Grundrechten, die in und für Normalzeiten entwickelt wurden, auch in Ausnahmezeiten zum Tragen kommen müssen und dabei ihre beschränkende Funktion ebenso zwangsläufig einbüßen. Die Coronakrise hat dies auf erschreckende Weise deutlich gemacht: Die zu ihrer Bekämpfung verfügten tiefgreifenden Freiheitsbeschränkungen, angefangen bei Quarantäne-Anordnungen in Einzelfällen, flächendeckenden Schließungen privater Betriebe wie öffentlicher Einrichtungen bis hin zu generalisierten Versammlungs- und Ansammlungsverboten sowie Kontakt- und Ausgangssperren, vollzogen sich allesamt jenseits des grundgesetzlichen Ausnahmeverfassungsrechts – und damit abseits ihres angestammten Platzes. Stattdessen nahm man Zuflucht im Exekutivstaat und in den exekutiven Verordnungsermächtigungen des Infektionsschutzgesetzes: Diese bestätigten "das Institut eines neuen Ausnahmezustands, der, anders als der vom Grundgesetz sogenannte Verteidigungsfall, nicht in der Verfassung, sondern nur in einem einfachen Bundesgesetz geregelt ist". Es ist genau diese neue Art eines vergesetzlichten, entkonstitutionalisierten und antizipierten Ausnahmezustands, durch die sich der nervöse Staat zu erkennen gibt.

Misst man die von ihm ergriffenen außerordentlichen Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen, Schulschließungen oder Quarantäneanordnungen an der Elle des Normalen, droht die Gefahr einer Normalisierung des Außergewöhnlichen. Dies zeigt sich besonders deutlich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Wo hochrangige Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit auf dem Spiel stehen, verliert die Rationalität des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit der ihm eigenen Zweck-Mittel-Relation ihre steuernde und begrenzende Kraft. Dies hat sich bereits im Kontext der Terrorismusbekämpfung abgezeichnet und wurde in der Pandemie auf neuerliche und besonders eindrucksvolle Weise bestätigt. Dem Trugschluss, dass man außergewöhnliche Maßnahmen sachgerecht an den normalitätsorientierten Vorgaben des Grundgesetzes messen könnte, ist auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Doppelbeschluss zur sogenannten Bundesnotbremse vom 19. November 2021 aufgesessen: Sowohl die verfügten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen als auch die Schulschließungen wurden danach in Anbetracht der "äußersten Gefahrenlage" sowie der "großen Gefahren für Leben und Gesundheit" als insgesamt verfassungsgemäß betrachtet. Das Grundgesetz ist unbestritten eine Verfassung, die dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit schon aus historischen Einsichten in besonderem Maße verpflichtet ist. Wenn der Staat die Devise "Jeder Tote ist einer zu viel!" indes wirklich ernst meinte, müsste diese zwangsläufig in die totale Entgrenzung führen. Hier wäre ein Ende der offenen Gesellschaft absehbar. In dem Versuch, jene verlorene Sicherheit wiederzugewinnen, derer er sich mit seiner Liberalität selbst beraubt hat, drohte der Staat dann auch noch den letzten Rest an Freiheit in Vorschriften, Verboten und versicherheitlichender Vorsorge zu ersticken. Er würde in letzter Konsequenz tatsächlich seine Freiheitlichkeit aufgeben und in jenen Totalitätsanspruch zurückfallen, vor dem Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem bekannten Diktum gewarnt hat.

Resilienz als Rechtskonzept

In Krisenzeiten werden grundlegende verfassungsrechtliche, staatstheoretische bis hin zu rechtsphilosophischen Fragen aufgeworfen, die – notgedrungen – neu gedacht, anders gewendet und gegebenenfalls abweichend beantwortet werden müssen, als dies in Normalzeiten der Fall wäre. Auf diese Weise sorgt die Verschiebung von Normalität und Ausnahme in Krisenzeiten jedoch zugleich für eine kontrafaktische Stabilisierung der Normallage. Die umfassende Einschränkung von Freiheitsgrundrechten stabilisiert mit anderen Worten die Freiheit als solche; krisenbedingte Verschiebungen im Gefüge der Gewalten sowie im Verhältnis von Bund und Ländern stabilisieren – zumindest auf lange Sicht – den Wert der Gewaltenteilung und den Primat der Länderhoheit an sich. Diese kontrafaktische Stabilisierung der Normallage mag idealisiert erscheinen; ein ebenso kritischer wie konstruktiver Idealismus tut jedoch nicht zuletzt in Krisenzeiten not, denn er trägt zur Resilienz und Stressresistenz der handelnden Organe bei. Im Interesse der verfassungsrechtlichen Resilienz mag man zudem über eine Ergänzung des Grundgesetzes nachdenken: Mit einer ebenso schonenden wie zeitgemäßen Fortschreibung des Ausnahmeverfassungsrechts, die das Erfordernis krisenbedingter, in das Vorfeld konkretisierter Gefahrenlagen ausgreifender Normen auf der Ebene des einfachen Rechts reflektiert, zugleich jedoch ihre Anwendbarkeit in Normalzeiten sperrt, ließe sich sowohl die unverzichtbare rechtsstaatliche Rigidität als auch die notwendige Flexibilität und damit ein angemessener Ausgleich von Freiheit und Sicherheit in Krisenzeiten bewerkstelligen. Auf diese Weise könnte sich der Pandemiestaat aus seiner Versteifung und nervösen Verkrampfung befreien und sich in Zukunft als resilienter Staat erweisen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die folgenden Ausführungen basieren auf Tristan Barczak, Der nervöse Staat. Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft, Tübingen 20212, S. 685ff.

  2. Vgl. Cass R. Sunstein, Risk and Reason. Safety, Law, and the Environment, Cambridge 2002, S. 50ff., S. 129f.

  3. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986, S. 44.

  4. Josef Isensee, Virokratie im Rechtsstaat, in: FAZ, 4.6.2020, S. 7; kritisch wie hier Jens Kersten, Leben wir in der Virokratie? Wie sich in der Pandemie unsere Demokratie bewährt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2021, S. 87–96.

  5. Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 201510 (1922), S. 13.

  6. Vgl. François Walter, Katastrophenangst. Momente der Kulturgeschichte, in: APuZ 10–11/2021, S. 4–9, hier S. 4.

  7. Vgl. Wolfgang Bonß, Von magischen Praktiken zu systemischen Risiken. Geschichte und Bedeutung des Risikobegriffs, in: APuZ 23–25/2022, S. 4–11.

  8. Vgl. mit weiteren Nachweisen Tristan Barczak, Die "Stunde der Exekutive". Rechtliche Kritik einer politischen Vokabel, in: Recht und Politik 4/2020, S. 458–468.

  9. Vgl. Nathalie Behnke, Föderalismus in der (Corona-)Krise?, in: APuZ 35–37/2020, S. 9–15.

  10. Vgl. Christoph Schönberger/Sophie Schönberger, Regiert bald ein Notausschuss?, in: FAZ, 26.3.2020, S. 9.

  11. Vgl. Wolfgang Zeh, Pandemie und Parlament, in: Robert Chr. van Ooyen/Hendrik Wassermann (Hrsg.), Corona und Grundgesetz, Berlin 2021, S. 11–24, hier S. 22.

  12. Horst Dreier, Rechtsstaat, Föderalismus und Demokratie in der Corona-Pandemie, in: Die Öffentliche Verwaltung 6/2021, S. 229–243, hier S. 241.

  13. Vgl. Anna-Maria Grüner, Biologische Katastrophen. Eine Herausforderung an den Rechtsstaat, Baden-Baden 2017, S. 23, S. 208f.: "[Es gilt] als wahrscheinlich, dass irgendwann mit dem Eintritt einer Pandemie zu rechnen ist (…). Eine Änderung der geltenden Gesetzeslage erscheint (…) zwingend geboten."

  14. Heinrich Oberreuter, Verfassung als Grundordnung der Freiheit, in: Zeitschrift für Politik 2/2008, S. 221–226, hier S. 221.

  15. Vgl. Oren Gross/Fionnuala Ní Aoláin, Law in Times of Crisis. Emergency Powers in Theory and Practice, Cambridge 2006, S. 86.

  16. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der verdrängte Ausnahmezustand. Zum Handeln der Staatsgewalt in außergewöhnlichen Lagen, in: Neue Juristische Wochenschrift 31/1978, S. 1881–1890, hier S. 1889.

  17. Vgl. Barczak (Anm. 1), S. 285ff., S. 619ff.

  18. Klaus F. Gärditz/Florian Meinel, Unbegrenzte Ermächtigung?, in: FAZ, 26.3.2020, S. 6.

  19. Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 u.a. –, Rn. 166ff., 274ff. – Bundesnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen); Beschluss vom 19.11.2021 – 1 BvR 971/21 u.a. –, Rn. 109ff. – Bundesnotbremse II (Schulschließungen).

  20. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/M. 1976, S. 60.

  21. Vgl. Niklas Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, Frankfurt/M. 1986, S. 21f.

  22. Vgl. Barczak (Anm. 1), S. 630ff., mit dem Vorschlag eines neuen Art. 80b GG.

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ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht mit einem Schwerpunkt im Sicherheitsrecht an der Universität Passau.
E-Mail Link: tristan.barczak@uni-passau.de