Krisen bedeuten einen Stresstest für den demokratischen Verfassungsstaat. Dies gilt in besonderer Weise für die Krisenphänomene der Moderne: Diese zeichnen sich durch ihre katastrophischen Dimensionen genauso aus wie durch eine mangelnde Beherrschbarkeit im nationalstaatlichen Alleingang sowie eine kaum zu prognostizierende Wahrscheinlichkeit von Ort, Zeit, Art und Ausmaß des drohenden Schadens. Vor diesem Hintergrund ist nicht erst die Covid-19-Pandemie eine besondere rechtsstaatliche wie gesamtgesellschaftliche Herausforderung; die Pandemie reiht sich vielmehr ein in vergleichbare Krisenerscheinungen wie die Folgen des Klimawandels oder eines internationalen Terrorismus. In der Bewältigung der vermeintlich allgegenwärtigen Krisenphänomene wirkt der Staat zunehmend alarmiert, rastlos und überreizt. Die Pandemie hat das Bild eines "nervösen Staates" gezeichnet, der sich in einem Zustand der nervösen Verkrampfung befindet und in dem die Gewichte von Freiheit und Sicherheit zunehmend aus der Balance geraten.
Nervosität als "neue Normalität"
Die Gefahren und Risiken der modernen, von den Prozessen der Globalisierung, Digitalisierung und Medialisierung geprägten Gesellschaft sind typischerweise katastrophisch und ihre Konsequenzen irreversibel.
Der Zustand, in den Staat und Gesellschaft mit Ausbruch der Coronapandemie im Frühjahr 2020 versetzt wurden, war dementsprechend mit den hergebrachten Kategorien des Staatsrechts nicht zu erfassen. Es handelte sich zum einen weder um einen rechtlichen Staatsnotstand noch um einen außerrechtlichen Ausnahmezustand: Das Grundgesetz war weder temporär suspendiert noch hat es den Weg in eine "Gesundheitsdiktatur" oder "Virokratie" freigemacht.
Angst als Argument
Die Annahme, in außergewöhnlichen Zeiten zu leben und hierauf mit außergewöhnlichen Maßnahmen antworten zu müssen, ist ein Symptom ängstlicher Gesellschaften und eines nervösen Staates. In dem um sich greifenden Vorsorgedenken spiegelt sich die anthropologisch paradoxe Eigenart der Sicherheits- und Risikogesellschaft wider, dass der Mensch noch nie sicherer und risikofreier lebte und gleichzeitig noch nie so viel Angst hatte.
In dem überschießenden Bestreben, seinen Bürgerinnen und Bürgern die Angst vor einer ungewissen Zukunft zu nehmen, läuft der Staat allerdings in eine Antizipationsfalle: Aus ständiger Angst, den kritischen Zeitpunkt rechtzeitigen Handelns zu verpassen, handelt der Staat neuerdings schon in der Normallage so, als befinde er sich im Ausnahmezustand. Er hält unentwegt nach Gefahrenquellen und potenziellen Feinden Ausschau, beseitigt Gefahren, bevor sie entstehen, agiert vorsorglich, statt abzuwarten und versetzt sich in einen Zustand ständiger Wachsamkeit und dauerhafter Alarmbereitschaft. Wo die Angst überhandnimmt, wo es auf Wahrscheinlichkeiten nicht mehr ankommt, wo angeblich nicht mehr abgewartet werden kann, wo die bloße Möglichkeit der Gefährdung von Risikogruppen oder der Überlastung der Intensivstationen zum Einschreiten ausreicht, da sind grundlegende rechtsstaatliche Sicherungen aufgehoben. Gerade das Abwartenkönnen war ein Wesenselement des liberalen Rechtsstaats, durch welches die Bürgerinnen und Bürger den Staat im Normalfall auf Distanz halten konnten. Diese Distanz ist im pandemischen Staat aufgehoben, für ihn gilt kein "Social Distancing". Mit Lockdown und Ausgangssperre bedient sich der Pandemiestaat vielmehr klassischer Mittel aus dem Werkzeugkasten des Ausnahmezustands, setzt diese jedoch nicht nach Erklärung eines Notstands, sondern zur pauschalen Vermeidung, Verhinderung und Verdrängung eines solchen ein. Das Ergebnis waren "Ausgangssperren auf Verdacht" und ein weithin lageunabhängiger Lockdown.
Krise als Konjunktiv
Eine Pandemie steht aufgrund ihrer katastrophischen Dimensionen auf einer Stufe mit anderen globalen Risiken wie dem Klimawandel, Naturkatastrophen, dem internationalen Terrorismus oder Weltwirtschafts- und Finanzkrisen. Aufgrund ihrer komplexen Ausgangsbedingungen und Einflussfaktoren lässt sie sich zudem kaum sicher prognostizieren. Vielmehr begründet die Pandemie ein Leben im Konjunktiv nach dem Motto: Wo einer nicht zu Hause bleibt, da bleiben womöglich viele nicht zu Hause, da stecken sich womöglich so viele an, dass letztlich die Intensivbetten nicht ausreichen und es in letzter Konsequenz zu einer Triage, einer Priorisierung der Behandlung nach individueller Erfolgsaussicht, kommen könnte. Die Pandemiegesellschaft ist eine "Könnte-Gesellschaft", in der die Logik der Möglichkeit die Logiken der Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit unterminiert. Da schlichtes Nichtstun oder auf den Schutz von Risikogruppen begrenztes Handeln angesichts der weithin unbestimmten Bedrohung durch das Virus, der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter sowie einer zunehmend verletzlichen ("vulnerablen") Sicherheitsgesellschaft keine geeignete und ausreichende Option ist, sucht der Staat die Lösung in der möglichst frühzeitigen und umfassenden Vorsorge gegen zukünftige Risiken anstelle der punktuellen Abwehr hinreichend konkretisierter Gefahren im Einzelfall.
Dieses Konzept ist nicht nur von einem sozialwissenschaftlichen Ansatz, sondern auch von einem steuerungswissenschaftlichen Verständnis des Rechts her unmittelbar plausibel. Umso mehr das Vorsorgeprinzip in die Strategie der Pandemiebewältigung einsickert, umso – im Wortsinne – maßloser muss die Pandemiepolitik jedoch ausfallen. Vorsorge kennt kein Maß, ist nie abgeschlossen und weist insofern tendenziell totalitäre Züge auf. Wenn jeder Todesfall "an, mit und wegen Corona" als Scheitern des Staates oder ethisches Versagen einer solidarischen Gesellschaft betrachtet wird, muss die Vorsorge per se unzureichend sein und darf eine Verbotspolitik prinzipiell niemals enden. Hier verlangt jede erfolglose Verhinderung nach früherer Verhütung, nach Ausweitung der Befugnisse, nach Verstetigung der ursprünglich für einen Ausnahmefall getroffenen Maßnahmen. Unter diesen Voraussetzungen verschieben sich die Gewichte von Normalität und Ausnahme, von Freiheit und Sicherheit, von grundrechtlicher Eingriffsabwehr und staatlicher Schutzpflicht. Hier bilden die Rechtstreue und Nichtgefährlichkeit respektive Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr die als selbstverständlich akzeptierte Normalität. Vielmehr werden sie zu Ausnahmen, deren Vorliegen jederzeit darzutun und im Bedarfsfall im Wege einer "Unbedenklichkeitsbescheinigung" nachzuweisen sind. Mit dem Vordringen des Vorsorgeprinzips in die unterschiedlichsten Lebens- und Regelungsbereiche ist grundsätzlich jeder bis zum Beweis des Gegenteils Ansteckungsverdächtiger, potenzieller Querdenker, möglicher Terrorist oder Klimasünder. In diesem Staatsverständnis, das zugleich Spiegelbild des gesellschaftlichen Selbstverständnisses ist, liegt das größte Risiko eines krisenbedingten Umbaus des freiheitlichen Verfassungsstaates. So sehr wir die Unbefangenheit unseres gesellschaftlichen Miteinanders schrittweise ablegen und mehr und mehr dazu neigen, uns nicht mit anderen zu versammeln, uns nicht zu Vereinigungen zusammenzuschließen, nicht im Kollektiv den eigenen Glaubensüberzeugungen gemäß zu handeln oder – schlichter – uns nicht mehr die Hand zu geben, so sehr schwindet unser Bewusstsein für das Verhältnis von Normalität und Ausnahme.
Exekutivprimat als Entgrenzungstendenz
Krisenzeiten erzeugen Entscheidungsdruck. Nichtentscheiden, weil die Entscheidungsgrundlagen unsicher oder die Entscheidungsfolgen unabsehbar sind, ist keine Option – weder für die gesetzgebenden noch für die ausführenden oder die rechtsprechenden Organe. Gerade in Anbetracht hochkomplexer, dynamisch verlaufender und selbst von Expertinnen und Experten nur schwer prognostizierbarer Bedrohungsszenarien handelt es sich dabei freilich um Entscheidungen unter Unsicherheit und unter den Bedingungen des Nicht-Wissens. Wenn bei Eintritt der Krise unter erheblichem Zeitdruck und mit großem Pragmatismus gehandelt werden muss, scheint auch die parlamentarische Demokratie an ihre Grenzen zu stoßen. So akzeptiert das Leitbild des demokratischen, gewaltenteiligen Verfassungsstaats in Normalzeiten sein mag, so sehr scheinen die betreffenden Entscheidungsprozesse und -strukturen in kritischen Zeiten zu langsam, umständlich und behäbig zu sein und damit einer effizienten Krisenbewältigung letztlich nur im Wege zu stehen. In der Stunde der Not schlägt – scheinbar unausweichlich – die "Stunde der Exekutive".
In diesem Sinne ist die "Stunde der Exekutive" auch immer die Stunde der öffentlichkeitsscheuen Rechtsverordnungen und administrativen Maßnahmen hinter verschlossenen Türen, der verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Krisenstäbe und intuitiv irritierenden Podcasts aus dem Kanzleramt. Um sowohl Verschärfungen als auch Lockerungen der Covid-19-Beschränkungen bundesweit besser koordinieren zu können, trafen sich die Bundeskanzlerin und die Chefinnen und Chefs der 16 Landesregierungen zur organisationsrechtlich opaken Ministerpräsidentenkonferenz. Bei dieser handelt es sich nicht um ein Verfassungsorgan, sondern um ein nicht öffentlich tagendes, informelles und von parlamentarischen Mehrheiten entkoppeltes Gremium der Selbstkoordination der Regierungen. Mit dieser Informalisierung rechtlicher Strukturen und Prozesse schlagen in der "Stunde der Exekutive" zugleich die Stunden der Entparlamentarisierung, der Entnormativierung sowie der Entjustizialisierung. Eine Krise mit der von ihr ausgelösten Konzentration und Zentralisierung staatlicher Macht ist somit gleich in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung des gewaltenteiligen Verfassungsstaates: zum einen der horizontalen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, zum anderen der vertikalen Gewaltenteilung durch die föderale Staatsgliederung in Bund und Länder.
Parlamentsvorbehalt als Politikvorbehalt
Einer solchen autoritären Sehnsucht setzt das Grundgesetz auch und gerade in kritischen Zeiten seinen Normativitätsanspruch und die ihm eigentümliche Verknüpfung von Rechtsstaatlichkeit und parlamentarischer Demokratie entgegen. Das Rechtsstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 3 GG und das in Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 GG niedergelegte Demokratieprinzip verpflichten den Gesetzgeber, insbesondere in grundrechtsrelevanten Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und nicht Regierung oder Verwaltung zu überlassen (sogenannte Wesentlichkeitslehre). Dies gilt ohne Abstriche und nicht zuletzt in Krisenzeiten und Notlagen. Das Grundgesetz erkennt das Bedürfnis nach flexiblen Reaktionsmöglichkeiten für die Exekutive zwar durchaus an, trifft jedoch zugleich Vorsorge dagegen, dass sich das Parlament seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft entäußert oder sich die exekutive Verordnungsrechtsetzung entgrenzend verselbstständigt.
Der Parlamentsvorbehalt ist damit zugleich ein Vorbehalt zugunsten der politischen Diskussion und Auseinandersetzung. Als Politikvorbehalt verlangt der Parlamentsvorbehalt nach einem öffentlichen Forum zur Erörterung all derjenigen Tätigkeiten, Gegenstände und Fragestellungen, die das Gemeinwesen – die Polis – betreffen. Er verlangt nach einer öffentlichen Diskussion und Debatte über den Regelungs- oder Beratungsgegenstand unter Einbeziehung der parlamentarischen Opposition. Öffentlichkeit verschafft Legitimität, gerade in Zeiten der Zwangsprivatheit.
Die Frage, wer über die Corona-Beschränkungen entscheidet, ist mit der Wesentlichkeitslehre indes eindeutig und unmissverständlich zugunsten des Parlaments beantwortet. Allenfalls vorübergehend, also für einen gewissen Erstreaktionszeitraum, lässt das Grundgesetz Ausnahmen von dieser Regel zu, um auf neue, außergewöhnliche und unvorhergesehene Gefahrenlagen auch mit im Grunde näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig reagieren zu können. Unabhängig davon, ob die Coronakrise tatsächlich unvorhersehbar war – Warnungen dahingehend, dass sich Rechtsordnung und Verwaltung auf regionale und globale Pandemien einzustellen haben, gab es im Vorfeld auch hierzulande genügend –,
Ein derart beschleunigtes, unter Zeitdruck stehendes Gesetzgebungsverfahren, in dessen Rahmen drei Verfassungsorgane an einem Tag entscheiden, ist in Normalzeiten verfassungspolitisch nicht wünschenswert, da es eine geringere Gewähr für rationale und nachhaltige Entscheidungen bietet. Ein "motorisierter" und gelegentlich zu Geschwindigkeitsübertretungen neigender Gesetzgeber ist ein Wesensmerkmal des "nervösen Staates". Die Möglichkeit der Eilgesetzgebung kann jedoch in Krisenfällen dafür sorgen, dass das Parlament das Heft des Handelns in der Hand behält. Abseits dessen müssen die Trennung der Gewalten sowie deren Aufgaben und Funktionen in der Krise weitestgehend unangetastet bleiben. Das Grundgesetz sperrt sich vehement gegen jede Form der Entnormativierung und Entparlamentarisierung zum Zwecke der Krisenbewältigung. Speziell dort, wo die Befugnisse der Bundesregierung für den Krisenfall ausdrücklich erweitert werden (siehe Artikel 115f Absatz 1 GG), zeugen die spärlichen Regelungen von der prinzipiellen Skepsis der Verfassung gegenüber einer exekutiven Machtkonzentration. Auf dem Ziffernblatt des Grundgesetzes gibt es mit anderen Worten keine "Stunde der Exekutive", nach seiner Uhr ist "auch die Stunde der Not die Stunde des Rechts und des Parlaments".
Vulnerabilität als Verfassungsmerkmal
In einem Verfassungsstaat bedarf die Bewältigung von Krisen verfassungsrechtlicher Grundlagen und Grenzen. Die vielstimmig eingeforderte "Solidarität" ist demgegenüber prinzipiell schrankenlos, ihr moralisierender Anspruch kennt kein Maß. Das Grundgesetz ist eine Verfassung, die für Normal- und für Krisenzeiten gleichermaßen und weithin unterschiedslos gilt. Sie eröffnet für Notzeiten keine Notausgänge, jedenfalls keine solchen, die es erlauben würden, von ihren grundlegenden Struktur- und Wertentscheidungen – und sei es auch nur temporär – abzuweichen. Stattdessen geht das Grundgesetz den Weg der verregelnden Normalisierung, es folgt – in den Worten US-amerikanischer Verfassungsjuristen – einem sogenannten Business-as-usual-Modell.
In der historischen Skepsis des Grundgesetzes gegenüber jeder Form von Ausnahmezustand oder Staatsnotstand und dem beharrlichen Festhalten am verfassungsstaatlichen Normalfall liegt indes ein blinder Fleck. Hier zeigt sich die Vulnerabilität einer Verfassungsordnung, die zumindest auf den ersten Blick keine klare Trennlinie zwischen Normallage und Ausnahmesituation einzieht und damit auch der Vermischung beider Zustände wenig entgegenzusetzen hat.
Misst man die von ihm ergriffenen außerordentlichen Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen, Schulschließungen oder Quarantäneanordnungen an der Elle des Normalen, droht die Gefahr einer Normalisierung des Außergewöhnlichen. Dies zeigt sich besonders deutlich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Wo hochrangige Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit auf dem Spiel stehen, verliert die Rationalität des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit der ihm eigenen Zweck-Mittel-Relation ihre steuernde und begrenzende Kraft. Dies hat sich bereits im Kontext der Terrorismusbekämpfung abgezeichnet und wurde in der Pandemie auf neuerliche und besonders eindrucksvolle Weise bestätigt. Dem Trugschluss, dass man außergewöhnliche Maßnahmen sachgerecht an den normalitätsorientierten Vorgaben des Grundgesetzes messen könnte, ist auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Doppelbeschluss zur sogenannten Bundesnotbremse vom 19. November 2021
Resilienz als Rechtskonzept
In Krisenzeiten werden grundlegende verfassungsrechtliche, staatstheoretische bis hin zu rechtsphilosophischen Fragen aufgeworfen, die – notgedrungen – neu gedacht, anders gewendet und gegebenenfalls abweichend beantwortet werden müssen, als dies in Normalzeiten der Fall wäre. Auf diese Weise sorgt die Verschiebung von Normalität und Ausnahme in Krisenzeiten jedoch zugleich für eine kontrafaktische Stabilisierung der Normallage.