"Sicherheit ist das fundamentalste Versprechen, das ein Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern schuldet." Dieser Satz aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 22. Juni 2022 bezog sich auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die als "Zeitenwende" markierte Neuausrichtung deutscher Sicherheitspolitik seit dem 24. Februar 2022. Doch seine Aussagekraft reicht weit darüber hinaus.
Noch vor der russischen Aggression hatte seit 2020 die Coronapandemie das Thema Sicherheit und insbesondere die Spannung zwischen Sicherheit und Freiheit erneut in den Mittelpunkt gesellschaftlicher und politischer Debatten gerückt. In demoskopischen Umfragen der vergangenen Jahre war regelmäßig von einer "Erosion des Sicherheitsgefühls" die Rede. Doch schon seit Jahrzehnten zeigen Parteiprogramme, Regierungserklärungen und Wahlkampfreden, dass Sicherheit und Unsicherheit Themen von erheblicher und, so der Eindruck, zunehmender politischer und gesellschaftlicher Bedeutung sind. Sicherheit sei zum "Goldstandard des Politischen" geworden, konstatierte vor einigen Jahren der Politikwissenschaftler Christopher Daase.
In der Tat kann man den Eindruck gewinnen, dass immer mehr Themenfelder im politischen Raum als Sicherheitsthemen markiert werden: als Gefahren, Bedrohungen oder Quellen von Unsicherheit. Sie werden damit dem expandierenden Politikfeld der Sicherheitspolitik zugeschlagen und den diesem Politikfeld eigenen Handlungslogiken unterworfen. Politisch gehört zum Modus der Sicherheit ein Primat der Exekutive. Dazu gehören Maßnahmen, die durch Verweis auf eine existenzielle Gefährdung oder Bedrohung üblicherweise geltende Normen außer Kraft setzen und dadurch Ausnahmezustände etablieren; und dazu gehören nicht zuletzt Einschränkungen von Freiheit durch Normen und Praktiken der Sicherheit – von Überwachungskameras und Körperscannern bis hin zur Kontrolle und Erfassung von Daten.
Es war diese Erweiterung, zum Teil auch Entgrenzung von Sicherheit, die auch das wissenschaftliche Interesse an den Dynamiken von Sicherheit beziehungsweise Unsicherheit verstärkt hat.
"Sicherheit" als Wertbegriff
Politische Wirkung entfalten kann der Bezug auf Sicherheit respektive Unsicherheit vor allem deswegen, weil "Sicherheit" ein Wertbegriff ist. Als ein Grundbedürfnis des Menschen wird Sicherheit anthropologisch oder psychologisch immer wieder bezeichnet, und Sicherheit rückt damit in die Nähe anderer menschlicher Grundbedürfnisse wie Nahrung, Schlaf oder Sexualität.
Sicherheit in politisch-sozialen Kontexten lässt sich nicht abstrakt definieren – außer vielleicht als tatsächliche oder vermeintliche Abwehr von Gefahr –, sondern wird in Gesellschaften und von Gesellschaften als Orientierungs- und Handlungshorizont immer wieder neu bestimmt, und zwar nicht zuletzt über die Identifizierung von Unsicherheit, von Bedrohungen oder Gefährdungen. Sicherheit respektive Unsicherheit ist gesellschaftlich und kulturell und damit auch im historischen Prozess variabel. Unterschiedliche Gesellschaften weisen höchst unterschiedliche Sicherheits- und Unsicherheitsvorstellungen auf. Aber auch innerhalb einer Gesellschaft können sich Sicherheitsgefühle und Sicherheitswahrnehmungen – Sicherheitskulturen – verändern.
Zwar begegnet uns der Begriff "Sicherheit" sowohl in der Antike als auch im Mittelalter. Zu einem politisch-sozialen Grund- und Wertbegriff wurde er jedoch erst mit der Entstehung des modernen Staates westlicher Prägung.
Unsicherheitserfahrungen in der Moderne
Seit der Frühen Neuzeit ist Sicherheit zu einem Leitbegriff politischen Handelns geworden. Dass sich Sicherheit darüber hinaus zu einem umfassenden sozialkulturellen Orientierungshorizont entwickeln konnte, hat mit fundamentalen individuellen und kollektiven Unsicherheitserfahrungen zu tun, die sich mit der Entfaltung der Moderne verbanden. Unsicherheitserfahrungen wurden in der Wahrnehmung vieler Menschen gleichsam zum Signum der Moderne. Hinter solchen Deutungen steht eine Vorstellung, die in der Moderne beziehungsweise in Prozessen der Modernisierung nicht zuletzt die Auflösung traditionaler, vormoderner Strukturen und den Verlust von Gewissheiten sieht, die feste Ordnungen gestiftet und dadurch handlungsrelevante Sicherheitsfiktionen erzeugt hätten.
Der amerikanische Philosoph John Dewey begann sein einflussreiches, erstmals 1929 erschienenes Buch "The Quest for Certainty" (deutsch: Die Suche nach Gewissheit) mit dem Satz: "In einer Welt der Unsicherheit sucht der Mensch nach Sicherheit." Das bezog sich nicht nur auf die wachsende Komplexität moderner Gesellschaften, ja der modernen Welt insgesamt, sondern auch darauf, dass Sicherheit im Sinne von Gewissheit – certainty – auf der Vorstellung der Existenz unabänderlicher Wahrheiten beruhe, derer man gewiss werden könne. Diese Vorstellung aber sei zusammen mit ihren – nicht zuletzt: religiösen – Legitimationen zusammengebrochen, und so bleibe dem Menschen nurmehr die "Suche nach Sicherheit" in einer kontingenten Welt.
In der Rede von der Offenheit der Zukunft schwingt freilich eine zentrale Ambivalenz der Moderne mit. Lässt sich diese auf der einen Seite mit der Zunahme von Kontingenz und Kontingenzerfahrungen, von Unsicherheit und Unsicherheitswahrnehmungen in Verbindung bringen, so steht auf der anderen Seite ein Bild der Moderne, das von wachsenden Möglichkeiten der Weltaneignung und Zukunftsgestaltung gekennzeichnet ist. Für letztere Deutung steht insbesondere Max Weber mit seiner wirkmächtigen These von der Entwicklung okzidentaler Rationalität, dem Glauben an die Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit der Welt – und damit letztlich auch der Zukunft – als Kernelement der westlichen Moderne und ihres Durchbruchs. Dahinter steht weniger die Vorstellung, dass es möglich sei, die der Moderne inhärente Unsicherheit zu beseitigen. Vielmehr müsse Unsicherheit als Normalität akzeptiert werden, um handhabbar zu sein.
Daran hat später Niklas Luhmann angeschlossen, der Sicherheit als eine "soziale Fiktion" bezeichnet: "Sicherheit gibt es nicht, außer im Moment. Nur Unsicherheit kann als dauerhaft vorgestellt werden." Für Luhmann ist Sicherheit in erster Linie Erwartungssicherheit angesichts einer offenen Zukunft. Die Herstellung von Erwartungssicherheit bedeutet für ihn vor dem Hintergrund der Moderne die Umdefinition von – nicht handhabbarer – Kontingenz in – handhabbare – Komplexität.
Die Temporalität von Sicherheit hat freilich auch andere Dimensionen. Sich verändernde Zeitwahrnehmungen und Zukunftsvorstellungen wirken auf individuelles und kollektives Sicherheitsbewusstsein, Sicherheitsverständnis und Sicherheitshandeln ein. Umgekehrt beeinflussen Wahrnehmungen von Sicherheit oder Unsicherheit Zeitwahrnehmungen oder Zukunftsvorstellungen. In welchem Maße, so lässt sich fragen, führt beispielsweise ein Bewusstsein von Sicherheit zu einer Ausdehnung von Zeit- und Zukunftshorizonten menschlichen Handelns? Und tragen nicht, umgekehrt, Gefühle von Unsicherheit oder Bedrohung zur Wahrnehmung knapper oder knapper werdender Zeit bei und produzieren damit Handlungs- oder Entscheidungsdruck? Bedrohungs- oder Unsicherheitskommunikation zeichnet sich durch das von ihr bewirkte, oftmals auch beabsichtigte Gefühl einer Zeitverknappung aus: "Wir müssen handeln, sonst ist es zu spät." Oder: "Es ist fünf vor zwölf." Gesellschaften geraten unter Stress oder werden unter Stress gebracht.
Unsicherheit und Identität
Dynamiken von Sicherheit und Unsicherheit sind eng verknüpft mit Identitäts- und Gemeinschaftsbildung. Wahrnehmungen von Unsicherheit oder Bedrohung können zur Gemeinschaftsbildung oder zur Herausbildung gruppenbezogener Identität beitragen. Dazu gehört beispielsweise der Zusammenhang beziehungsweise die Wechselwirkung zwischen äußerer Bedrohung (oder deren Beschwörung) und innerer, gruppenbezogener Gemeinschaftsbildung; dazu gehören auch Feindbilder. Dass Sicherheit oder Unsicherheit und Bedrohung in solchen Dynamiken eine wichtige Rolle spielen, zeigt beispielsweise die Nationalismusforschung zum 19. und 20. Jahrhundert. Dynamiken der Sicherheit beziehungsweise Unsicherheit und Dynamiken der Nationsbildung, der Nationalisierung und eines sich steigernden Nationalismus hingen nicht zuletzt im Vorfeld der beiden Weltkriege eng zusammen.
Nicht vergessen werden sollte auch, in welchem Maße autoritäre politische Herrschaft bis hin zu politischer Repression, Gewaltanwendung und Terror bis heute nicht nur mit dem Imperativ von Ruhe und Ordnung gerechtfertigt wird, sondern auch mit dem Versprechen von Sicherheit, verstanden als Überwindung von Unordnung und Unsicherheit.
Man muss aber vorsichtig sein mit dem Argument, Unsicherheit oder Bedrohungen würden stets nur gleichsam herbeigeredet, um Freiheit einzuschränken. So einfach liegen die Dinge nicht. Das zeigen beispielsweise die Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg, als eine Krise der Demokratie nicht nur Deutschland und die junge Weimarer Republik erfasste, sondern das gesamte Europa der Zwischenkriegszeit. Von den seit 1918 entstandenen neuen Demokratien, vor allem in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, existierte eineinhalb Jahrzehnte später keine mehr (mit Ausnahme der Tschechoslowakei). Faschistische und autoritäre Regime traten an ihre Stelle. Überall verdankte sich der Aufstieg antidemokratischer und antiliberaler Strömungen und Regime fundamentalen gesellschaftlichen Verunsicherungen, die zwar zum Teil schon in die Vorkriegszeit zurückreichten und mit den Spannungen und Krisen der Hochmoderne zu erklären sind. Diese Verunsicherungen aber intensivierten sich durch den Krieg und die Nachkriegskrisen noch weiter, erlangten Breitenwirkung und wurden politisch virulent – in den Verliererstaaten des Krieges und den jungen, ungefestigten Demokratien der Zwischenkriegszeit noch stärker als anderswo.
Ein "goldenes Zeitalter der Sicherheit", so hat es Stefan Zweig formuliert, sei mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende gegangen, die Menschen hätten das Wort "Sicherheit" als ein Phantom aus dem Vokabular gestrichen und sich daran gewöhnen müssen, ohne Boden unter den Füßen zu leben.
Das Wegbrechen, die Erosion, zum Teil die Zerstörung traditioneller Gewissheiten – manche sprechen von Identitätsverlust, von Identitätsunsicherheit – führt nicht nur zu individueller und kollektiver Verunsicherung, sondern auch zur Entstehung von Bedrohungswahrnehmungen, ja zu Bedrohungsszenarien, die sich in dem Maße verstärken – und die in dem Maße politisch instrumentalisiert werden können –, in dem sich diese Identitätsunsicherheit mit sozialen Statusängsten, mit Abstiegs- und Deklassierungsängsten verbindet. Für die politische Radikalisierung in der Weimarer Gesellschaft und für den Aufstieg des Nationalsozialismus, wie er sich insbesondere in seinen Wahlerfolgen seit 1930 manifestierte, waren das entscheidende Ursachen.
Erosion der Sicherheit?
Es lässt sich kaum ignorieren, dass Menschen, nicht zuletzt in Deutschland, auch heute in einer Zeit von Identitäts- und Statusunsicherheiten leben, in einer Zeit, in der erneut – wie vermutlich seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr – traditionelle Gewissheiten erodieren und diese Erosion Angst und Verunsicherung erzeugt. Dahinter stehen jenseits aktueller Entwicklungen nicht zuletzt jene komplexen Prozesse, die wir mit der Chiffre "Globalisierung" bezeichnen, was sich auf die Durchsetzung des globalen – und digitalen – Finanzmarktkapitalismus ebenso bezieht wie auf kulturelle Dynamiken und einen revolutionären Wandel von Kommunikationsmöglichkeiten und Kommunikationsformen. Traditionelle Identitäten, für viele immer noch stark im nationalen Rahmen und nationalkulturell ausgeformt, verlieren an Bedeutung beziehungsweise werden herausgefordert, ohne dass stabile neue Identitäten – europäisch oder gar global, aber auch multikulturell – an ihre Stelle getreten wären. Das verstärkt die Beschwörung überschaubarer Identitätsräume oder präziser: die Beschwörung des Rückzugs auf überschaubare, auf vertraute Identitätsräume: die Region, auch in ihrer Wahrnehmung und Darstellung als "Heimat", vor allem aber die Nation. Auch daraus speist sich der gegenwärtige Nationalismus, der die Nation als Schutzraum darstellt, als protektionistische Nation. Es geht dabei auch um Schutz vor Komplexität, der sich verbinden lässt – und vielfach verbunden wird – mit Vorstellungen, und hier schließt sich der Kreis, von Homogenität und der Bedrohung dieser Homogenität durch Fremdes und Anderes, durch Fremde und Andere.
"Sicherheit" ist ein politischer Wertbegriff, dessen Bedeutung sich nicht in der Spannung von Sicherheit und Freiheit erschöpft. Und das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit ist nicht nur und nicht immer ein Verhältnis der Spannung. Das zeigen all jene Überlegungen in der politischen Theorie, die Sicherheit als Bedingung von Freiheit, als Voraussetzung von freiem Handeln ansehen. Sicherheit ist zum Wertbegriff geworden in historischen Prozessen, in denen insbesondere vor dem Horizont der Moderne Unsicherheit beziehungsweise die Wahrnehmung und Erfahrung von Unsicherheit zugenommen hat. Gerade durch den – tatsächlichen oder vermeintlichen – Mangel an Sicherheit wird Sicherheit zum Wert. Der Abschied von der Vorstellung absoluter Sicherheit, der sich untrennbar mit der Moderne verbindet, macht das Streben nach Sicherheit zu einer wichtigen gesellschaftlichen und politischen Kraft, ohne die wir Geschichte und Gegenwart moderner Gesellschaften nicht analysieren und erklären können.