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Gefährliche Entpolitisierung | Fokus Ostdeutschland | bpb.de

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Gefährliche Entpolitisierung Warum Peripherisierung der extremen Rechten in die Hände spielt

Katrin Großmann

/ 15 Minuten zu lesen

Dass sich rechtsextremes Gedankengut ausbreitet, hat auch mit der als „natürlich“ hingenommenen Peripherisierung ganzer Landstriche zu tun. Dringend erforderlich ist eine neue Regionalpolitik, die Ressourcen und Macht vom Zentrum in die Peripherie umverteilt.

Der geografische Hotspot rechtspopulistischer und rechtsextremer Wahlerfolge ist nicht per se "der Osten", es ist die Peripherie. Die Wahlergebnisse zum Beispiel der "Alternative für Deutschland" (AfD) sind in peripherisierten Regionen besonders hoch, und zwar von Sachsen bis ins Saarland. Welche Karte zu ungleichen Lebensbedingungen in Deutschland man auch immer zu Rate zieht – den "Disparitätenatlas" der Friedrich-Ebert-Stiftung, den "Teilhabeatlas Deutschland" des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, die Karten zur Sozialstruktur des Thünen-Atlas –, es sind immer wieder dieselben Landkreise, in denen die Indikatoren auf unterdurchschnittliche Lebensverhältnisse verweisen, während die Wahlerfolge der AfD hoch sind. Dieses Muster zeigt sich genauso im deindustrialisierten Norden Frankreichs, in "Trump-" und "Brexitland", und auch Viktor Orbáns Wahlerfolge in Ungarn fallen umso deutlicher aus, je höher der Deprivationsindex einer Region ist. Spannend ist hier der Vergleich der Wahlergebnisse mit der Karte zur kommunalen Steuerkraft im Thünen-Atlas: Sie zeigt, dass gerade jene Landstriche, die am stärksten unter schlechten Lebensbedingungen leiden, die geringsten Mittel haben, sich daraus zu befreien. Aber wer redet im Zusammenhang mit dem Wahlerfolg rechter Parteien schon über kommunale Finanzen?

Im Folgenden soll – in notgedrungen raschen Schritten – nachgezeichnet werden, wie diese regionalen sozialräumlichen Ungleichheiten, die letztlich für Gerechtigkeitsdefizite stehen, als demografische Prozesse "naturalisiert" wurden. Sie werden als "naturgegeben" angesehen – und dadurch weitgehend entpolitisiert. Bevölkerungsrückgang, sinkende Steuerkraft und eine rückläufige Versorgung werden zu einem bedauernswerten, aber vermeintlich nicht zu ändernden Schicksal erklärt. Auch die von einer Handvoll Expert:innen engagiert geführte Auseinandersetzung um die im Grundgesetz verankerten gleichwertigen Lebensverhältnisse und die Ergebnisse der gleichnamigen Kommission haben daran nichts geändert. Zwar gab es in den vergangenen drei Jahrzehnten viele mediale Berichte über die Dramen, die sich im Zuge von Infrastrukturabbau, Geschäftsschließungen, Alterung und Abwanderung in ländlichen Gegenden abgespielt haben, aber eine allgemeine Politisierung des Themas blieb aus – zumindest, bis die rechtsnationalistischen Parteien seine Mobilisierungspotenziale für sich entdeckt haben. Auch das hat Deutschland mit Frankreich, den USA oder Großbritannien gemeinsam: Die autoritär-nationalistischen Parteien können in den ländlichen wie in den innerstädtischen Randgebieten von dieser Naturalisierung der Peripherisierung profitieren. Auf dem Land wirbt zum Beispiel die AfD mit Plakaten gegen Schulschließungen und für Krankenhäuser, in Großwohnsiedlungen wie Leipzig-Grünau mit "Den Stadtrand stärken". Eine emotionale Disposition der Vernachlässigung, der Stigmatisierung und Benachteiligung wird hier – inzwischen recht erfolgreich – genutzt, um gezielt für nationalistische und autoritäre Positionen zu mobilisieren.

"Demografisierung" sozialräumlicher Ungleichheit

Es war nicht immer apolitisch, über Bevölkerungsrückgang zu sprechen. Als Ende der 1990er Jahre der Begriff der "schrumpfenden Städte" in den Diskurs um Stadtentwicklung Einzug hielt, fühlte es sich nach einem Paradigmenwechsel an – und die Stadt-und Regionalforschung war mittendrin. Es gab Widerstand gegen den Begriff, was darauf hindeutete, dass ein empfindlicher Nerv getroffen wurde. In Chemnitz etwa verbot der zuständige Amtsleiter kurzzeitig die Nutzung des Begriffs, weil er ihn als zu negativ empfand. Auch mit den Stadtforscher:innen der TU wollte er nicht über "Chemnitz als schrumpfende Stadt" sprechen. Interviews wurden abgesagt, die Teilnahme an Veranstaltungen verweigert. Nur ein, zwei Jahre später war der Begriff dann fast normal, er wurde zum Transformationsbegriff ("Weniger ist mehr", "Luxus der Leere"). Ihn zu benutzen signalisierte auch, ein Realist am Puls der Zeit zu sein, Klartext zu sprechen, sich vom omnipräsenten Wachstumsparadigma lösen zu können. Auf Fachtagungen und in stadtentwicklungspolitischen Runden begannen Vorträge regelmäßig mit Bildern von Alterspyramiden – die Demografie als unerwarteter Gamechanger in der Stadtentwicklung war entdeckt. Gerade die Wohnungsunternehmen nutzten die demografische Entwicklung als Argument, um für öffentliche Unterstützung bei der Bewältigung von Wohnungsleerständen zu werben.

25 Jahre später schrumpfen die Großstädte nicht mehr, stattdessen wird nun ihr erneutes Wachstum untersucht. Nötig ist aber genauso der Blick auf die weiterhin schrumpfenden Städte, also vor allem die Klein- und Mittelstädte in Regionen, für die sich mittlerweile das Prädikat "strukturschwach" etabliert hat. In Stadtentwicklungsdebatten kommen diese nicht vor, denn sie werden eher unter dem "ländlichen Raum" subsumiert. Als Ursache für ihr Schrumpfen wird auch in jüngeren Publikationen noch angenommen, dass der "demografische Wandel" zentral für die Entwicklung ländlicher Räume sei. Ich hätte es selbst so schreiben können, wir haben uns an diese Formulierung gewöhnt.

Als Komponenten des demografischen Wandels werden in aller Regel Geburtendefizite und Abwanderung genannt. Und hier sitzt das Problem: Denn erstens ist die Geburtenrate auf dem Land sogar höher als in den Städten, und zweitens ist Abwanderung zwar eine Komponente der Bevölkerungsentwicklung von Orten, aber der demografische Wandel selbst ist keine Ursache von etwas, sondern eine Folge gesellschaftlicher Großtrends. Die Theorie des "Ersten Demografischen Übergangs" zeigte, wie im Zuge der Entwicklung des Gesundheitssystems, veränderter Rollenbilder und Werte und dadurch veränderter Lebensverläufe die Weltbevölkerung rasant wuchs. Im "Zweiten Demografischen Übergang" wurde dann – zunächst national – beschrieben, wie die Gesamtbevölkerungszahl wieder zurückgehen kann, wenn die Geburtenraten langfristig unter das "Bestandserhaltungsniveau" sinken. Diese demografietheoretischen Arbeiten kennen jedoch keine kleinräumigen Analysen und operieren räumlich allenfalls auf nationalstaatlicher Ebene. Die "Theorie" darin beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Ursachen der veränderten Geburten- und Sterberaten beziehungsweise der veränderten Formen des Zusammenlebens und der Wirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung im Großen und Ganzen.

Insbesondere die Wanderungen gehören konzeptionell nicht in den Bereich der Demografie, denn auch wenn demografische Entwicklung nicht ohne Wanderungen gedacht und Prognosen nicht ohne Wanderungssaldi erstellt werden können, sind sie doch immer nur Indikator, nie Erklärung. Werden Wanderungen unter dem Konzept des demografischen Wandels mit erfasst, scheinen sie auch bereits "mit erklärt" zu sein. Dann ist schlicht alles "demografischer Wandel". Dass dem nicht so ist, darauf haben in den vergangenen Jahren unterschiedliche Arbeiten hingewiesen, die sich kritisch mit Begriffen wie "Schrumpfung", "Landflucht", "strukturschwachen Regionen" und ähnlichem auseinandergesetzt haben. Eine breite, politisch wirksame Debatte ist daraus jedoch nie entstanden. Sie blieb das Feld derjenigen, die sich intensiv mit der Entwicklung ländlicher, peripherisierter Regionen beschäftigen, ein Feld mehr der Agrar- als der Stadt- und Regionalsoziologie. Kleinstädte wurden lange komplett übersehen, bevor es hier in den vergangenen Jahren zu einem gewissen Aufmerksamkeitsschub kam.

Naturalisierung sozialräumlicher Ungleichheit

Unter dem Schlagwort der "Demografisierung des Gesellschaftlichen" wird explizit die De-Thematisierung gesellschaftlicher Fragen durch ihre Überführung in demografische Kategorien und Analysen kritisiert. "Statt über die Gesellschaft wird immer häufiger von der Bevölkerung gesprochen, statt von gesellschaftlichem Wandel wird immer öfter vom demographischen Wandel berichtet," resümiert etwa die Soziologin Eva Barlösius und betont, dass demografische Analysen nicht neutral sind, da ihre bekannten Schaubilder und Grafiken immer auch einen normativen Gehalt haben: "Sie transportieren ein klares Ergebnis, das nicht kritisch hinterfragt werden kann, weil sein Zustandekommen weitgehend im Dunkeln liegt." Der Soziologe Stephan Beetz wiederum kritisiert, dass Kategorien wie Altersstruktur und Fertilitätsrate eine eigenständige Erklärungskraft bekommen, wenn sie unreflektiert verwendet werden.

Doch genau dies sind die Kategorien, die häufig zur Erklärung der Verluste ländlicher Räume und kleiner Städte bemüht werden. Wie sehr das den Diskurs prägt, zeigt zum Beispiel eine populärwissenschaftliche Dokumentation, in der eine Sozialgeografin und eine Bürgermeisterin aus Baden-Württemberg einhellig den demografischen Wandel als Ursache für Leerstand und "Überalterung" (was auch immer hier das "über" markieren soll) verantwortlich machen: Die Geburtenraten sinken, die jungen Menschen wandern ab in die Großstädte. Daneben wird auch der Strukturwandel in der Landwirtschaft, der Wandel von Lebensstilen und die "Faszination Stadt" erwähnt. Die von der demografischen Schrumpfung erfassten Orte und Regionen sind, so heißt es im Film, "von diesem Phänomen betroffene Regionen" – und solche gebe es auch in West-, vor allem aber in Ostdeutschland. So plausibel und gewohnt das klingt, so falsch ist es: Durch den Rückgriff auf demografische Kategorien und auf Präferenzen von Menschen wird hier ein Phänomen sozialräumlicher Ungleichheit "naturalisiert". Es wird zum unausweichlichen Schicksal erklärt.

"Naturalisierung" meint, gesellschaftliche Prozesse in den Bereich des Natürlichen zu verschieben und damit ihre historische Gewordenheit zu überdecken. Wenn etwas "natürlich" ist, wird es normal, unhinterfragbar, unabwendbar. Der Linguist Norman Fairclough sieht Naturalisierung als einen Ausdruck von Machtverhältnissen, die eine bestimmte Auffassung der Realität in Common Sense verwandeln und so verhindern, dass sie angefochten werden. Das gilt auch für die Peripherisierung von Regionen: Dadurch, dass sie als Folge demografischen Wandels geframt wird, wird sie naturalisiert. Andere Prozesse werden verdeckt und der Kritik entzogen.

Wie weit diese Naturalisierung des demografischen Wandels – und damit verknüpfter neoliberaler Argumentationsmuster – in Common Sense übergegangen ist, erkennt man auch vor Ort. Bürgermeister und Stadträte akzeptieren häufig die vermeintliche Schicksalhaftigkeit der Entwicklung und übernehmen dabei Wettbewerbslogiken und das Diktat ökonomischer Effizienz. Den jungen Leuten, so hört man dann, könne man ja nicht zum Vorwurf machen, dass sie sich anders orientieren, zum Studium weggehen und an ihrem Studienort verbleiben, weil sie die Großstadt attraktiver finden. Aber warum ist die Großstadt attraktiver? Eine allgemeine Präferenz für die Großstadt kann jedenfalls nicht der Grund sein, wenn in Umfragen knapp die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland angibt, am liebsten auf dem Land zu wohnen. Es fehle auch an Arbeitsplätzen, heißt es dann. Auch finanziell könne man eben nicht über die eigenen Verhältnisse leben, die Dinge müssten sich rechnen, man könne die freie Wirtschaft ja nicht zwingen, einen Supermarkt zu eröffnen. Doch "mangelnde Arbeitsplätze" und "schwindende Wirtschaftskraft" sind selbst nur Phänomene und keine Ursachen.

Ganz ähnlich sieht es im Bereich der Kommunalfinanzen aus. Weshalb zeigt die Karte zur kommunalen Steuerkraft eine solche Ungleichheit? Nicht, weil manche gut wirtschaften und andere nicht, sondern weil das deutsche System der Kommunalfinanzen so organisiert ist, dass es Kommunen privilegiert, die in Einwohnerzahl und wirtschaftlicher Aktivität wachsen, während schrumpfende Kommunen in einer Spirale der Unterfinanzierung landen. Lautstarken Protest dagegen gibt es kaum.

Macht, Hegemonie, Abhängigkeit

Aber was genau liegt hinter den demografischen Analysen? Was wird durch sie verdeckt? Um dies konzeptionell erfassen zu können, hat sich der Begriff der "Peripherisierung" etabliert. In einem Text aus dem Jahr 2006 konzeptualisiert der Soziologe Karl-Dieter Keim diesen Begriff komplementär zur "Zentralisierung". Nicht statisch, sondern als "einen sozial-räumlichen Prozessbegriff" will er ihn verstehen, der eine "graduelle Schwächung und/oder Abkopplung sozial-räumlicher Entwicklungen gegenüber den dominanten Zentralisierungsvorgängen" zum Ausdruck bringt.

Bereits 2007 hatte Stephan Beetz darauf hingewiesen, dass die starke Fokussierung der Debatte zu schrumpfenden ländlichen Räumen auf demografische Prozesse zu einer "Verengung politischer Perspektiven" führe. Prägnant wies er darauf hin, dass damit die "politische Legitimität umgekehrt [wird], denn nicht die regionalen Verhältnisse seien zu verändern, sondern die Entwicklungen zu akzeptieren." Beetz dokumentiert, wie sich die Politik statt für eine Unterstützung dieser schrumpfenden ländlichen Räume für eine Förderung der Zentren entschieden hat. Als besonders problematisch stellte sich seinerzeit die Nähe von Politik, Medien und Wissenschaft und ihre teils herablassende Stigmatisierung der betrachteten Orte und Regionen heraus. Deren Zukunftsfähigkeit wurde nach rein demografischen Indikatoren vermessen und anschließend häufig die Empfehlung ausgesprochen, "sich schrittweise aus solchen Regionen zurückzuziehen". Damit wurde eine Verkürzung von Komplexität vorgenommen, die vermeintliche Kausalität ganz simpel zeichnete: Die demografische Entwicklung wurde zur "Basis der wirtschaftlichen Perspektive" gemacht.

Der Peripherisierungsbegriff hat in der Stadt- und Regionalforschung nie die Aufmerksamkeit bekommen, die er verdient hätte; aus einer gewissen Diskursnische ist er nie herausgekommen. Das könnte auch daran liegen, dass die Beschäftigung mit den Orten, die von diesen Debatten betroffen sind, deutlich weniger attraktiv ist als die Beschäftigung mit sozialräumlichen Verwerfungen in den Großstädten. Es ist etwas anderes, auf einer internationalen Konferenz über Gentrifizierung in Berlin zu berichten als über Peripherisierung in Altenburg. Auch für Journalisten haben die bekannten Großstädte mehr Nachrichtenwert. So hat es die "Gentrifizierung" in den politischen Alltagssprachgebrauch geschafft, die "Peripherisierung" jedoch nicht.

Wer ist der Schurke?

Ich möchte den Vergleich zur Gentrifizierung noch etwas weiter strapazieren, um die fehlende Politisierung dieser schleichenden Schwächung von Orten und Regionen zu erklären. Denn während bei der Gentrifizierung eine klare Vorstellung davon herrscht, wer ihre Akteure sind und wie die Mechanismen der Aufwertung und Verdrängung funktionieren, ist das bei der Peripherisierung deutlich nebulöser. Die Hegemonie der Zentren erscheint abstrakt und akteurslos, es gibt keine klaren "Schurken", keine habgierigen Investoren, die nur ihren Profit maximieren wollen. Dagegen herrscht die Vorstellung von Wirtschaftsakteuren vor, die vermeintlich gar nicht anders können, als der Peripherie den Rücken zuzukehren: Der Discounter schließt, weil der Bevölkerungsrückgang das Betreiben unwirtschaftlich macht; Bus und Bahn können angeblich nicht endlos subventioniert werden. Andere Probleme entstehen aus Mangel an Menschen: Handwerksbetriebe schließen, weil es keinen Nachwuchs gibt, der sie weiterführen will; zudem fehlen die Kundschaft oder die Fachkräfte. Ärztemangel entsteht, weil alle lieber in die Großstadt wollen und sich auch mit Vergünstigungen nicht aufs Land locken lassen.

Oft sind es anonyme Strukturen, die die Macht der Zentren repräsentieren, nicht konkrete Akteure. Es ist "das Haushaltssicherungskonzept", das die selbstbestimmte Verwendung von Geldern verhindert, weniger der Beamte aus der Landeshauptstadt. Gesetze bestimmen, wie sich die Kommunalfinanzen zusammensetzen, die Logik des Marktes führt zu Schließungen. Bei Prozessen der Zentralisierung regiert eine abstrakte rationale Vernunft, die Verwaltungen oder Kultur- und Bildungseinrichtungen in den größeren Städten konzentriert. Post- und Bankfilialen werden geschlossen, weil sie nach heutiger Auffassung keine wohlfahrtsstaatlichen Institutionen mehr sind, sondern wirtschaftlich agierende Dienstleister. Auch der "demografische Wandel" ist ein solcher abstrakter Prozess, den man nicht zur Verantwortung ziehen kann.

Das gelingt am ehesten mit "der" Politik. In sozialen Medien werden Stadträte und Bürgermeister angezählt für die Schließung von Einrichtungen ("Und was macht unser Bürgermeister? – Nichts!"). Die Lokalpolitik wird dabei von zwei Seiten unter Druck gesetzt: einerseits von den Peripherisierungsprozessen selbst, die ihre Handlungsmöglichkeiten einschränken, und andererseits von der aufgestauten Frustration der lokalen Gesellschaft darüber, dass sich nichts bewegt. Mit dem Feindbild der "etablierten Parteien", konkret der "Ampel-Regierung", kann überdies die Leerstelle des "Schurken" gefüllt werden. Mit "die da oben in Berlin" – oder wahlweise in Erfurt, Dresden oder Brüssel – wird ein Narrativ etabliert, das die emotionale Disposition der Peripherisierung abholt, kanalisiert und weiter emotional verstärkt. Es liefert eine vermeintliche Erklärung dafür, warum kein Geld da ist – denn das wird ja für Dinge ausgegeben, deren Relevanz und Priorität infrage gestellt werden, etwa für Geflüchtete oder für Waffenlieferungen an die Ukraine. Oder für Dinge, von denen nur das Zentrum profitiert – wie das Deutschlandticket, das nichts nutzt, wenn kein Bus und keine Bahn mehr fahren. Es ist kein Zufall, dass die Proteste gegen Regierungen aller Art in den vergangenen Jahren eher auf den Straßen und Plätzen der Klein- und Mittelstädte stattfanden. Peripherisierte Orte sind nicht machtlos: Ihre "Verfügungsmacht" ist zwar eingeschränkt, die Macht, zu protestieren oder sich zu verweigern, ist jedoch präsent. Und davon wird Gebrauch gemacht.

Anderes Framing, andere Lösungen?

Ein naturalisierendes Framing eines Prozesses rahmt und bestimmt auch die Lösungen; es verhindert Kritik und stabilisiert Machtverhältnisse. Hier sind es die Zentrum-Peripherie-Beziehungen, die durch Macht und Abhängigkeit gekennzeichnet sind. Mitunter werden Lösungen in mehr Bürgerbeteiligung vor Ort und in interkommunaler Kooperation gesehen. Doch das kommt einer "Responsibilisierung" der Peripherie gleich – der Aufforderung, dass sich peripherisierte Kommunen doch bitte selbst helfen sollen, indem sie besser kommunizieren und zusammen das Wenige noch effektiver nutzen. Käme jemand ernsthaft auf die Idee, mit Bürgerbeteiligung gegen Gentrifizierung vorzugehen? Warum sollte sie gegen Peripherisierung helfen?

Auch die Debatte um die "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" ist so gesehen Ausdruck dieser falsch gerahmten Sicht. Die vorgeschlagenen Lösungen der gleichnamigen Kommission wurden viel kritisiert für den Mangel an Ambitionen und Klarheit. Vor allem aber dreht sich diese Debatte um die falschen Fragen. Unter dem Leitbild der "Gleichwertigkeit" geht es praktisch nur um die Verbesserung der Verhältnisse in den "schwächeren" Teilen des Landes, nie um eine Umverteilung aus den Zentren in die Peripherie. Bezeichnend dafür ist die Nähe dieser Diskussion zu jener um die Daseinsvorsorge: Während rhetorisch eine "Angleichung" oder ein "Ausgleich" gesucht wird, geht es faktisch nur um Mindeststandards. Es geht auch nicht um Rechte der peripherisierten Standorte auf Chancen und Ressourcen, sondern lediglich um Hilfe aus dem Zentrum für die (bedürftige) Peripherie in Form von Förderung und Zuschüssen. Aus einer räumlichen Gerechtigkeitsperspektive sind die unambitionierten Lösungen Ausdruck der oben beschriebenen Naturalisierung der Ungleichwertigkeit der Lebensverhältnisse.

Die Peripherisierung und ihre Naturalisierung durch Demografisierung sind zwar nicht kausal "schuld" am politischen Rechtsruck, aber sie haben den emotionalen Boden für ihn bereitet. Der unbestimmte, unkonkrete Frust, die Trauer und der Pessimismus werden nun gezielt von der organisierten Rechten genutzt. Das lässt sich inzwischen kaum mehr durch eine veränderte Regionalpolitik zurückdrehen, denn mittlerweile kommen weitere Faktoren hinzu, die zu einer Ausbreitung und Normalisierung rechter Narrative beitragen: die Bildung von Gemeinschaft im Protest, die nicht völlig zu verhindernde Kooperation mit extrem rechten Parteien auf der lokalen Ebene, die Normalisierung der Zustimmung zu ihnen in der lokalen Gesellschaft – in freundschaftlichen, beruflichen und familiären Netzwerken –, die vereinende Wirkung von externer Stigmatisierung und anderes mehr.

Doch auch wenn es kein Rezept mit Wirkungsgarantie gegen die weitere Ausbreitung von autoritären Parteien und Einstellungen gibt: Dringend erforderlich ist eine Regionalpolitik, die peripherisierte Orte ermächtigt, ihre Akteure selbstbestimmt handlungsfähig macht sowie Ressourcen und Macht vom Zentrum in die Peripherie umverteilt. Förderpolitik ist hier nicht ausreichend, denn sie kommt immer mit dem Gestus der altruistischen Hilfe, mit Bedingungen, Kontrolle und meist auch mit der Idee von "Wettbewerb" daher. Förderpolitik trägt letztlich das Machtgefälle zwischen Zentrum und Peripherie bereits in sich.

Es ist Zeit, Peripherisierung aus einer humanistischen, solidarischen und gerechtigkeitsorientierten Perspektive zu politisieren. Kritische Stimmen in der Wissenschaft gibt es bereits, die Zentralisierung, Infrastrukturrückbau, Desinvestitionen, das kommunale Finanzsystem oder Austeritätspolitik im ländlichen Raum benennen und kritisieren. Was fehlt, sind entsprechende politische Narrative, die Fehlentwicklungen greifbar machen, ohne diese in menschenfeindliche Lösungen zu übersetzen – und die Anerkennung für die Peripherie einfordern, ohne sie den nächsten marginalisierten Gruppen zu verweigern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Sorin Cebotari/Melinda Mihály, Towards a Progressive Local Development Approach. Insights from Local Community Initiatives in Hungary and Romania, in: Thilo Lang/Franziska Görmar (Hrsg.), Regional and Local Development in Times of Polarisation, Singapur 2019, S. 253–285.

  2. Vgl. Patrick Küpper/Jan Cornelius Peters, Entwicklung regionaler Disparitäten hinsichtlich Wirtschaftskraft, sozialer Lage sowie Daseinsvorsorge und Infrastruktur in Deutschland und seinen ländlichen Räumen, Thünen Report 66, Braunschweig 2019, S. 81; Simon Dudek, Die schleichende Krise strukturschwacher Kommunen. Zur Situation der Grundversorgung in ländlichen Räumen, in: Prokla 51/2021, S. 417–434.

  3. Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) (Hrsg.), Unser Plan für Deutschland. Gleichwertige Lebensverhältnisse überall, Berlin 2019.

  4. Wie dies vor Ort erlebt wird und wie die emotionale Disposition der Peripherisierung für rechte Proteste mobilisiert wird, beschreiben Christoph Hedtke et al., Wie werden lokale Konflikte eigentlich "lokal"?, in: Zeitschrift Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit (i.E.); vgl. auch Larissa Deppisch, Die AfD und das "Dornröschenschloss" – über die (Be-)Deutung von Peripherisierung für den Rechtspopulismuszuspruch, in: Daniel Mullis/Judith Miggelbrink (Hrsg.), Lokal extrem Rechts, Bielefeld 2022, S. 103–121.

  5. Der Begriff selbst wurde bereits früher benutzt, entfachte aber keine Debatte. Vgl. Annett Steinführer, "Landflucht" und "sterbende Städte". Räumliche Schrumpfung in Vergangenheit und Gegenwart, in: Geographische Rundschau 9/2015, S. 4–10.

  6. Vgl. Matthias Bernt, "Keine unklugen Leute". Die Durchsetzung des "Stadtumbau Ost", in: sub/urban 5/2017, S. 41–60.

  7. Vgl. Annegret Haase et al., Factors Driving the Regrowth of European Cities and the Role of Local and Contextual Impacts. A Contrasting Analysis of Regrowing and Shrinking Cities, in: Cities 108/2021, 102942.

  8. Kritisch dazu Judith Miggelbrink, Ländliche Räume – strukturschwach, peripher, abgehängt?, in: Christian Krajewski/Claus-Christian Wiegandt (Hrsg.), Land in Sicht. Ländliche Räume in Deutschland zwischen Prosperität und Peripherisierung, Bonn 2021, S. 64–79.

  9. Vgl. Externer Link: http://www.demografie-portal.de/DE/Fakten/zusammengefasste-geburtenziffer-regional.html.

  10. Vgl. Dirk J. van de Kaa, Europe’s Second Demographic Transition, in: Population Bulletin 1/1987, S. 1–59.

  11. Vgl. Steinführer (Anm. 5); Miggelbrink (Anm. 8).

  12. Vgl. Annett Steinführer/Lars Porsche/Martin Sondermann, Kompendium Kleinstadtforschung, Hannover 2021; Nina Gribat et al. (Hrsg.), Kleinstadtforschung. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2022.

  13. Eva Barlösius, Die Demographisierung des Gesellschaftlichen. Zur Bedeutung der Repräsentationspraxis, in: dies./Daniela Schiek (Hrsg.), Demographisierung des Gesellschaftlichen. Analysen und Debatten zur demographischen Zukunft Deutschlands, Wiesbaden 2007, S. 9–34.

  14. Vgl. Stephan Beetz, Die Demographisierung ökonomischer, kultureller und sozialer Veränderungen am Beispiel des ländlichen Raums, in: Barlösius/Schiek (Anm. 13), S. 221–246.

  15. Vgl. Planet Wissen, Landflucht. Warum unsere Dörfer sterben, Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=Yost1u9MOco.

  16. Vgl. Norman Fairclough, Critical Discourse Analysis. The Critical Study of Language, London 20102.

  17. Vgl. Krajewski/Wiegandt (Anm. 8).

  18. Vgl. Dudek (Anm. 2).

  19. Ein solcher Versuch war ein Positionspapier von Bürgermeistern des Erzgebirges im Jahr 2017. Vgl. Externer Link: http://www.regionalspiegel-sachsen.de/wp-content/uploads/2017/11/Positionspapier.pdf.

  20. Karl-Dieter Keim, Peripherisierung ländlicher Räume, in: APuZ 37/2006, S. 3–7, hier S. 4.

  21. Beetz (Anm. 14), S. 237.

  22. Ebd., S. 232ff.

  23. Vgl. Manfred Kühn/Matthias Bernt/Laura Colini, Power, Politics and Peripheralization: Two Eastern German Cities, in: European Urban and Regional Studies 3/2017, S. 258–273.

  24. Vgl. Jens Kersten/Claudia Neu/Berthold Vogel, Gleichwertige Lebensverhältnisse – für eine Politik des Zusammenhalts, in: APuZ 46/2019, S. 4–11.

  25. Vgl. ebd.

  26. Vgl. Bernd Belina et al. (Hrsg.), Ungleiche ländliche Räume. Widersprüche, Konzepte und Perspektiven, Bielefeld 2022.

  27. Vgl. ebd.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Katrin Großmann für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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lehrt Stadt- und Raumsoziologie an der Fachhochschule Erfurt. Sie forscht unter anderem zu sozialen Konflikten und Zuwanderung, Energiegerechtigkeit, schrumpfenden Städten und Kleinstädten. 2023 war sie an der Gründung des "Forschungskollektivs Peripherie und Zentrum" (FPZ) beteiligt, das sie seitdem leitet.