Der geografische Hotspot rechtspopulistischer und rechtsextremer Wahlerfolge ist nicht per se "der Osten", es ist die Peripherie. Die Wahlergebnisse zum Beispiel der "Alternative für Deutschland" (AfD) sind in peripherisierten Regionen besonders hoch, und zwar von Sachsen bis ins Saarland. Welche Karte zu ungleichen Lebensbedingungen in Deutschland man auch immer zu Rate zieht – den "Disparitätenatlas" der Friedrich-Ebert-Stiftung, den "Teilhabeatlas Deutschland" des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, die Karten zur Sozialstruktur des Thünen-Atlas –, es sind immer wieder dieselben Landkreise, in denen die Indikatoren auf unterdurchschnittliche Lebensverhältnisse verweisen, während die Wahlerfolge der AfD hoch sind. Dieses Muster zeigt sich genauso im deindustrialisierten Norden Frankreichs, in "Trump-" und "Brexitland", und auch Viktor Orbáns Wahlerfolge in Ungarn fallen umso deutlicher aus, je höher der Deprivationsindex einer Region ist.
Im Folgenden soll – in notgedrungen raschen Schritten – nachgezeichnet werden, wie diese regionalen sozialräumlichen Ungleichheiten, die letztlich für Gerechtigkeitsdefizite stehen, als demografische Prozesse "naturalisiert" wurden. Sie werden als "naturgegeben" angesehen – und dadurch weitgehend entpolitisiert. Bevölkerungsrückgang, sinkende Steuerkraft und eine rückläufige Versorgung werden zu einem bedauernswerten, aber vermeintlich nicht zu ändernden Schicksal erklärt. Auch die von einer Handvoll Expert:innen engagiert geführte Auseinandersetzung um die im Grundgesetz verankerten gleichwertigen Lebensverhältnisse und die Ergebnisse der gleichnamigen Kommission haben daran nichts geändert.
"Demografisierung" sozialräumlicher Ungleichheit
Es war nicht immer apolitisch, über Bevölkerungsrückgang zu sprechen. Als Ende der 1990er Jahre der Begriff der "schrumpfenden Städte" in den Diskurs um Stadtentwicklung Einzug hielt,
25 Jahre später schrumpfen die Großstädte nicht mehr, stattdessen wird nun ihr erneutes Wachstum untersucht.
Als Komponenten des demografischen Wandels werden in aller Regel Geburtendefizite und Abwanderung genannt. Und hier sitzt das Problem: Denn erstens ist die Geburtenrate auf dem Land sogar höher als in den Städten,
Insbesondere die Wanderungen gehören konzeptionell nicht in den Bereich der Demografie, denn auch wenn demografische Entwicklung nicht ohne Wanderungen gedacht und Prognosen nicht ohne Wanderungssaldi erstellt werden können, sind sie doch immer nur Indikator, nie Erklärung. Werden Wanderungen unter dem Konzept des demografischen Wandels mit erfasst, scheinen sie auch bereits "mit erklärt" zu sein. Dann ist schlicht alles "demografischer Wandel". Dass dem nicht so ist, darauf haben in den vergangenen Jahren unterschiedliche Arbeiten hingewiesen, die sich kritisch mit Begriffen wie "Schrumpfung", "Landflucht", "strukturschwachen Regionen" und ähnlichem auseinandergesetzt haben.
Naturalisierung sozialräumlicher Ungleichheit
Unter dem Schlagwort der "Demografisierung des Gesellschaftlichen" wird explizit die De-Thematisierung gesellschaftlicher Fragen durch ihre Überführung in demografische Kategorien und Analysen kritisiert. "Statt über die Gesellschaft wird immer häufiger von der Bevölkerung gesprochen, statt von gesellschaftlichem Wandel wird immer öfter vom demographischen Wandel berichtet," resümiert etwa die Soziologin Eva Barlösius und betont, dass demografische Analysen nicht neutral sind, da ihre bekannten Schaubilder und Grafiken immer auch einen normativen Gehalt haben: "Sie transportieren ein klares Ergebnis, das nicht kritisch hinterfragt werden kann, weil sein Zustandekommen weitgehend im Dunkeln liegt."
Doch genau dies sind die Kategorien, die häufig zur Erklärung der Verluste ländlicher Räume und kleiner Städte bemüht werden. Wie sehr das den Diskurs prägt, zeigt zum Beispiel eine populärwissenschaftliche Dokumentation,
"Naturalisierung" meint, gesellschaftliche Prozesse in den Bereich des Natürlichen zu verschieben und damit ihre historische Gewordenheit zu überdecken. Wenn etwas "natürlich" ist, wird es normal, unhinterfragbar, unabwendbar. Der Linguist Norman Fairclough sieht Naturalisierung als einen Ausdruck von Machtverhältnissen, die eine bestimmte Auffassung der Realität in Common Sense verwandeln und so verhindern, dass sie angefochten werden.
Wie weit diese Naturalisierung des demografischen Wandels – und damit verknüpfter neoliberaler Argumentationsmuster – in Common Sense übergegangen ist, erkennt man auch vor Ort. Bürgermeister und Stadträte akzeptieren häufig die vermeintliche Schicksalhaftigkeit der Entwicklung und übernehmen dabei Wettbewerbslogiken und das Diktat ökonomischer Effizienz. Den jungen Leuten, so hört man dann, könne man ja nicht zum Vorwurf machen, dass sie sich anders orientieren, zum Studium weggehen und an ihrem Studienort verbleiben, weil sie die Großstadt attraktiver finden. Aber warum ist die Großstadt attraktiver? Eine allgemeine Präferenz für die Großstadt kann jedenfalls nicht der Grund sein, wenn in Umfragen knapp die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland angibt, am liebsten auf dem Land zu wohnen.
Ganz ähnlich sieht es im Bereich der Kommunalfinanzen aus. Weshalb zeigt die Karte zur kommunalen Steuerkraft eine solche Ungleichheit? Nicht, weil manche gut wirtschaften und andere nicht, sondern weil das deutsche System der Kommunalfinanzen so organisiert ist, dass es Kommunen privilegiert, die in Einwohnerzahl und wirtschaftlicher Aktivität wachsen, während schrumpfende Kommunen in einer Spirale der Unterfinanzierung landen.
Macht, Hegemonie, Abhängigkeit
Aber was genau liegt hinter den demografischen Analysen? Was wird durch sie verdeckt? Um dies konzeptionell erfassen zu können, hat sich der Begriff der "Peripherisierung" etabliert. In einem Text aus dem Jahr 2006 konzeptualisiert der Soziologe Karl-Dieter Keim diesen Begriff komplementär zur "Zentralisierung". Nicht statisch, sondern als "einen sozial-räumlichen Prozessbegriff" will er ihn verstehen, der eine "graduelle Schwächung und/oder Abkopplung sozial-räumlicher Entwicklungen gegenüber den dominanten Zentralisierungsvorgängen" zum Ausdruck bringt.
Bereits 2007 hatte Stephan Beetz darauf hingewiesen, dass die starke Fokussierung der Debatte zu schrumpfenden ländlichen Räumen auf demografische Prozesse zu einer "Verengung politischer Perspektiven" führe.
Der Peripherisierungsbegriff hat in der Stadt- und Regionalforschung nie die Aufmerksamkeit bekommen, die er verdient hätte; aus einer gewissen Diskursnische ist er nie herausgekommen. Das könnte auch daran liegen, dass die Beschäftigung mit den Orten, die von diesen Debatten betroffen sind, deutlich weniger attraktiv ist als die Beschäftigung mit sozialräumlichen Verwerfungen in den Großstädten. Es ist etwas anderes, auf einer internationalen Konferenz über Gentrifizierung in Berlin zu berichten als über Peripherisierung in Altenburg. Auch für Journalisten haben die bekannten Großstädte mehr Nachrichtenwert. So hat es die "Gentrifizierung" in den politischen Alltagssprachgebrauch geschafft, die "Peripherisierung" jedoch nicht.
Wer ist der Schurke?
Ich möchte den Vergleich zur Gentrifizierung noch etwas weiter strapazieren, um die fehlende Politisierung dieser schleichenden Schwächung von Orten und Regionen zu erklären. Denn während bei der Gentrifizierung eine klare Vorstellung davon herrscht, wer ihre Akteure sind und wie die Mechanismen der Aufwertung und Verdrängung funktionieren, ist das bei der Peripherisierung deutlich nebulöser. Die Hegemonie der Zentren erscheint abstrakt und akteurslos, es gibt keine klaren "Schurken", keine habgierigen Investoren, die nur ihren Profit maximieren wollen. Dagegen herrscht die Vorstellung von Wirtschaftsakteuren vor, die vermeintlich gar nicht anders können, als der Peripherie den Rücken zuzukehren: Der Discounter schließt, weil der Bevölkerungsrückgang das Betreiben unwirtschaftlich macht; Bus und Bahn können angeblich nicht endlos subventioniert werden. Andere Probleme entstehen aus Mangel an Menschen: Handwerksbetriebe schließen, weil es keinen Nachwuchs gibt, der sie weiterführen will; zudem fehlen die Kundschaft oder die Fachkräfte. Ärztemangel entsteht, weil alle lieber in die Großstadt wollen und sich auch mit Vergünstigungen nicht aufs Land locken lassen.
Oft sind es anonyme Strukturen, die die Macht der Zentren repräsentieren, nicht konkrete Akteure. Es ist "das Haushaltssicherungskonzept", das die selbstbestimmte Verwendung von Geldern verhindert, weniger der Beamte aus der Landeshauptstadt. Gesetze bestimmen, wie sich die Kommunalfinanzen zusammensetzen, die Logik des Marktes führt zu Schließungen. Bei Prozessen der Zentralisierung regiert eine abstrakte rationale Vernunft, die Verwaltungen oder Kultur- und Bildungseinrichtungen in den größeren Städten konzentriert. Post- und Bankfilialen werden geschlossen, weil sie nach heutiger Auffassung keine wohlfahrtsstaatlichen Institutionen mehr sind, sondern wirtschaftlich agierende Dienstleister. Auch der "demografische Wandel" ist ein solcher abstrakter Prozess, den man nicht zur Verantwortung ziehen kann.
Das gelingt am ehesten mit "der" Politik. In sozialen Medien werden Stadträte und Bürgermeister angezählt für die Schließung von Einrichtungen ("Und was macht unser Bürgermeister? – Nichts!"). Die Lokalpolitik wird dabei von zwei Seiten unter Druck gesetzt: einerseits von den Peripherisierungsprozessen selbst, die ihre Handlungsmöglichkeiten einschränken, und andererseits von der aufgestauten Frustration der lokalen Gesellschaft darüber, dass sich nichts bewegt. Mit dem Feindbild der "etablierten Parteien", konkret der "Ampel-Regierung", kann überdies die Leerstelle des "Schurken" gefüllt werden. Mit "die da oben in Berlin" – oder wahlweise in Erfurt, Dresden oder Brüssel – wird ein Narrativ etabliert, das die emotionale Disposition der Peripherisierung abholt, kanalisiert und weiter emotional verstärkt. Es liefert eine vermeintliche Erklärung dafür, warum kein Geld da ist – denn das wird ja für Dinge ausgegeben, deren Relevanz und Priorität infrage gestellt werden, etwa für Geflüchtete oder für Waffenlieferungen an die Ukraine. Oder für Dinge, von denen nur das Zentrum profitiert – wie das Deutschlandticket, das nichts nutzt, wenn kein Bus und keine Bahn mehr fahren. Es ist kein Zufall, dass die Proteste gegen Regierungen aller Art in den vergangenen Jahren eher auf den Straßen und Plätzen der Klein- und Mittelstädte stattfanden. Peripherisierte Orte sind nicht machtlos: Ihre "Verfügungsmacht" ist zwar eingeschränkt, die Macht, zu protestieren oder sich zu verweigern, ist jedoch präsent.
Anderes Framing, andere Lösungen?
Ein naturalisierendes Framing eines Prozesses rahmt und bestimmt auch die Lösungen; es verhindert Kritik und stabilisiert Machtverhältnisse. Hier sind es die Zentrum-Peripherie-Beziehungen, die durch Macht und Abhängigkeit gekennzeichnet sind. Mitunter werden Lösungen in mehr Bürgerbeteiligung vor Ort und in interkommunaler Kooperation gesehen. Doch das kommt einer "Responsibilisierung" der Peripherie gleich – der Aufforderung, dass sich peripherisierte Kommunen doch bitte selbst helfen sollen, indem sie besser kommunizieren und zusammen das Wenige noch effektiver nutzen. Käme jemand ernsthaft auf die Idee, mit Bürgerbeteiligung gegen Gentrifizierung vorzugehen? Warum sollte sie gegen Peripherisierung helfen?
Auch die Debatte um die "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" ist so gesehen Ausdruck dieser falsch gerahmten Sicht. Die vorgeschlagenen Lösungen der gleichnamigen Kommission wurden viel kritisiert für den Mangel an Ambitionen und Klarheit.
Die Peripherisierung und ihre Naturalisierung durch Demografisierung sind zwar nicht kausal "schuld" am politischen Rechtsruck, aber sie haben den emotionalen Boden für ihn bereitet. Der unbestimmte, unkonkrete Frust, die Trauer und der Pessimismus werden nun gezielt von der organisierten Rechten genutzt. Das lässt sich inzwischen kaum mehr durch eine veränderte Regionalpolitik zurückdrehen, denn mittlerweile kommen weitere Faktoren hinzu, die zu einer Ausbreitung und Normalisierung rechter Narrative beitragen: die Bildung von Gemeinschaft im Protest, die nicht völlig zu verhindernde Kooperation mit extrem rechten Parteien auf der lokalen Ebene, die Normalisierung der Zustimmung zu ihnen in der lokalen Gesellschaft – in freundschaftlichen, beruflichen und familiären Netzwerken –, die vereinende Wirkung von externer Stigmatisierung und anderes mehr.
Doch auch wenn es kein Rezept mit Wirkungsgarantie gegen die weitere Ausbreitung von autoritären Parteien und Einstellungen gibt: Dringend erforderlich ist eine Regionalpolitik, die peripherisierte Orte ermächtigt, ihre Akteure selbstbestimmt handlungsfähig macht sowie Ressourcen und Macht vom Zentrum in die Peripherie umverteilt. Förderpolitik ist hier nicht ausreichend, denn sie kommt immer mit dem Gestus der altruistischen Hilfe, mit Bedingungen, Kontrolle und meist auch mit der Idee von "Wettbewerb" daher. Förderpolitik trägt letztlich das Machtgefälle zwischen Zentrum und Peripherie bereits in sich.
Es ist Zeit, Peripherisierung aus einer humanistischen, solidarischen und gerechtigkeitsorientierten Perspektive zu politisieren. Kritische Stimmen in der Wissenschaft gibt es bereits, die Zentralisierung, Infrastrukturrückbau, Desinvestitionen, das kommunale Finanzsystem oder Austeritätspolitik im ländlichen Raum benennen und kritisieren.