Bis ins späte zwanzigste Jahrhundert hinein konnte eine nie dagewesene globale demokratische Revolution beobachtet werden. Doch schon 1991 warnte der Politikwissenschaftler Samuel Huntington, dass diese Demokratisierungswelle nicht ewig anhalten werde.
Dieser Prozess wird in der Politikwissenschaft als democratic backsliding bezeichnet. Zwei der wohl bekanntesten Beispiele sind Ungarn, wo es der Fidesz-Partei gelungen ist, einen "illiberalen Staat" zu etablieren, und Polen, wo die PiS-Partei bis vergangenen Herbst Ähnliches versuchte. Wäre es auch in Deutschland möglich, Demokratie und Rechtsstaat von innen auszuhöhlen? Welche Einfallstore in Verfassung und Gesetzen könnten autoritär-populistische Parteien dafür nutzen? Das "Thüringen-Projekt" des Verfassungsblogs befasst sich mit diesen Fragen. Es analysiert die Möglichkeiten eines formal-legalen Demokratieabbaus auf Länderebene und entwickelt Szenarien für die Fälle, in denen eine autoritär-populistische Partei (APP), hier konkret in Thüringen, stärkste politische Kraft wird oder gar die Regierungsgeschäfte übernimmt.
Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, (verfassungs-)rechtliche Einfallstore zu identifizieren, die APP nutzen können, um Demokratie und Rechtsstaat abzubauen. Solche Einfallstore gibt es in jedem demokratischen Rechtsstaat: Keine Verfassung ist "wasserdicht", also per se immun gegen autoritäre Absichten. Um demokratische Akteur*innen auf diese Einfallstore hinzuweisen und ihnen so die Gelegenheit zu geben, Gefahren für die Demokratie schneller zu erkennen, hat das Thüringen-Projekt unterschiedliche Szenarien erarbeitet, in denen APP staatliche Machtmittel in die Hand bekommen: Was wäre zum Beispiel, wenn eine APP in Thüringen das Bildungsministerium führte? Wie könnte sie dieses nutzen, um die Autoritarisierung der Gesellschaft voranzutreiben? Dieses Szenario wollen wir im Folgenden genauer durchspielen.
Anlass – aber nicht Gegenstand – des Thüringen-Projekts sind die jüngsten Wahlerfolge der "Alternative für Deutschland" (AfD).
Im Folgenden definieren wir kurz den Begriff des autoritären Populismus, anschließend skizzieren wir ein mögliches Szenario für den Fall der Regierungsbeteiligung einer APP nach der Thüringer Landtagswahl am Beispiel der Bildungspolitik.
Autoritärer Populismus
Mit dem Konzept des "autoritären Populismus" beschreiben wir ein aktuelles Phänomen, der Begriff an sich ist allerdings in der Politikwissenschaft und den angrenzenden Disziplinen spätestens seit den 1980er Jahren in Gebrauch. Der Soziologe Stuart Hall beschrieb autoritären Populismus in seiner Untersuchung der Politik der britischen Premierministerin Margaret Thatcher bereits 1985 als eine autoritäre Form von Klassenpolitik, mobilisiert durch populistisch instrumentalisierte Unzufriedenheit.
Zum schrittweisen Abbau von Demokratie und Rechtsstaat und zur Errichtung eines autoritären Regimes bedienen sich APP einer spezifischen Spielart der Politik: des Populismus. Populismus wird heute wahlweise definiert als eine bestimmte Form des politischen Diskurses oder der politischen Performanz, als "dünne" Ideologie, als Bewegung, Strategie oder als Stil. Aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Definitionen gilt "Populismus" daher bis heute als "essentially contested concept".
Populistische Akteur*innen kombinieren die populistische Form der Politik fast immer mit Merkmalen bestimmter Ideologien und Einstellungen.
Der Begriff "Autoritarismus" bezeichnet in der politikwissenschaftlichen Literatur sowohl ein politisches System als auch politische Einstellungen in der Bevölkerung. "Autoritarisierung" beschreibt dabei in seiner ersten Bedeutung die Transformation des politischen Systems und in seiner zweiten Bedeutung eine Verschiebung der politischen Einstellungen in der Bevölkerung. Zentrale Akteur*innen eines populistischen Autoritarismus auf der Systemtransformationsebene sind demokratisch gewählte Parteien und deren Politiker*innen, die ihr Recht, zu regieren, für gesetzt erklären. Ihr Verhältnis zum (Verfassungs-)Recht ist instrumentell: Sie nutzen es, um die Demokratie und den Rechtsstaat von innen, aus den Parlamenten heraus, auszuhöhlen.
Dass eine solche Politik für Teile der Bevölkerung attraktiv ist, lässt sich mit der zunehmenden Autoritarisierung in ihrer zweiten Bedeutung, als Verschiebung der politischen Einstellungen in der Bevölkerung, erklären.
Zur Verbreitung dieser Überzeugungen trägt die AfD als autoritär-populistische Partei einerseits selbst maßgeblich bei.
Szenarien nach der Wahl
Um zu untersuchen, welche rechtlichen Einfallstore autoritär-populistische Parteien nutzen könnten, um Demokratie und Rechtsstaat auszuhöhlen und die Autoritarisierung der Gesellschaft voranzutreiben, entwickelt das Thüringen-Projekt unterschiedliche Szenarien, darunter das "Landtagspräsident*innen-Szenario",
Im Folgenden zeigen wir exemplarisch am Szenario der Bildungs-Instrumentalisierung (kurz "Bildungsszenario"), wie und unter welchen Bedingungen eine autoritär-populistische Partei in Thüringen (verfassungs-)rechtliche Einfallstore formal-legal missbrauchen kann. Wir haben das Bildungsszenario für diesen Beitrag ausgewählt, weil es drei Elemente autoritär-populistischer Politik besonders gut sichtbar macht: erstens den formal-legalen Missbrauch von (verfassungs-)rechtlichen Einfallstoren; zweitens die Umgestaltung demokratischer Institutionen zum Zweck der Autoritarisierung der Gesellschaft; und drittens die Umsetzung populistischer Konstruktionen in die politische und gesellschaftliche Realität.
Bildungspolitik als Vehikel autoritärer Politik
Bildung ist ein Politikbereich, den regierende APP zu instrumentalisieren versuchen, um ihre Regime zu stabilisieren. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán beispielsweise senkte seit seinem Amtsantritt stetig öffentliche Bildungsausgaben, während er Investitionen in private Institutionen wie das seiner Partei nahestehende Mathias-Corvinus-Collegium erhöhte.
Autoritarisierungsprozesse sind schwerer umzusetzen, wenn Bürger*innen kritikfähig sind, wenn sie erkennen, dass bestimmte politische Entscheidungen die liberale Demokratie gefährden, sie dagegen demonstrieren und APP gegebenenfalls wieder abwählen.
Das Bildungsszenario fußt auf einer Analyse der Thüringer Landesverfassung und dem Bildungsrecht sowie auf Hintergrundgesprächen mit Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis. Es zeigt, wie eine APP die (politische) Bildung im Freistaat an ihre autoritär-populistische Politik anpassen könnte: indem sie Lehrpläne ändert, die Landeszentrale für politische Bildung abschafft oder neu organisiert und Lehrkräfte mit Rundschreiben unter Druck setzt, um die Unterrichtsgestaltung zu beeinflussen. Rein formal würde die APP damit keine verfassungsrechtlichen Grenzen überschreiten.
Thüringisches Bildungsszenario
Das Bildungsszenario setzt voraus, dass eine APP Thüringen regiert – entweder allein oder mit einer mehrheitsfähigen Koalition. Prinzipiell könnte das jede beliebige APP sein. Wir benennen die AfD im Folgenden konkret, weil sie derzeit die einzige Partei ist, die sich in Thüringen eindeutig als APP kategorisieren lässt.
Stellen wir uns das Szenario wie folgt vor:
Im Szenario erlässt das Bildungsministerium nach Paragraf 40a Absatz 2 des Schulgesetzes Rechtsverordnungen,
Die AfD beruft sich in diesem Szenario auf die staatliche Aufsicht über die Schulen, um ihre Änderungen im Lehrplan zu rechtfertigen. Bisherige Versuche von demokratischen Regierungen, Konzepte wie sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in den Unterricht zu integrieren – etwa durch den "Bildungsplan bis 18"
Im weiteren Verlauf des Szenarios überlegen einige Eltern, rechtlich gegen den neuen Lehrplan des Bildungsministeriums vorzugehen, aber weder sie noch die Schüler*innen sind in der Lage, bestimmte Schulinhalte einzuklagen.
Bis die neuen Lehrpläne entwickelt sind, dauert es eine Weile. Die AfD kann diesen Prozess im hier diskutierten Szenario aber verkürzen, indem sie zum Beispiel Rechtsverordnungen erlässt, nach denen Expertengremien und Kommissionen nicht mehr in die Entwicklung der Lehrpläne einbezogen werden.
Zur gleichen Zeit entscheidet der neue Ministerpräsident, das Direktorium der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen umzubesetzen. Weil die Landeszentrale nicht parlamentsrechtlich angebunden ist, sondern rechtlich auf einer Anordnung der Landesregierung beruht ("Anordnung der Landesregierung über die Errichtung der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung"), kann der Ministerpräsident allein entscheiden, wer sie leiten soll (Paragraf 5 der Anordnung). Eine Weile spielt er mit dem Gedanken, die Landeszentrale ganz abzuschaffen. Mit dem neuen Direktorium aber wird die Landeszentrale zu einem nützlichen Instrument seiner APP: Sie informiert nun mehr zu Linksextremismus und weniger zu Rechtsextremismus. Bald erscheinen neue Unterrichtsmaterialien zu den "Gefahren für die Demokratie durch Gruppierungen wie die ‚Letzte Generation‘", die weiterhin kostenfrei zur Verfügung stehen. Auf diese Weise werden politische Gegner*innen formal-legal als Antidemokrat*innen diskreditiert – und Informationen über die eigenen demokratiefeindlichen Ziele zurückgehalten.
In den folgenden Monaten schließlich richtet die AfD auf untergesetzlicher Ebene neue "Vorschaltklassen" für geflüchtete Kinder ein und treibt damit die Segregation an Thüringer Schulen voran. Außerdem beschließt sie Investitionen in Förderschulen und untergräbt die bereits unzureichende und schlecht organisierte Inklusion von behinderten Menschen an Gymnasien und Regelschulen. Sie macht ihre populistische Konstruktion vom "wahren Volk", zu dem Geflüchtete und Menschen mit Behinderung nicht gehören, zur politischen und gesellschaftlichen Realität.
Ausblick
Das Bildungsszenario zeigt, dass eine APP in Thüringen – wie auch in anderen Ländern – das Recht instrumentalisieren kann, um Demokratie und Rechtsstaat von innen auszuhöhlen und die Autoritarisierung der Gesellschaft voranzutreiben. Der autoritäre Populismus der AfD ist kein ostdeutsches Phänomen. Die Partei erfährt hier jedoch derzeit deutlich mehr Zuspruch in der Bevölkerung als in Westdeutschland. Demokratische Parteien, gerade im Osten, sollten sich auf Szenarien einer autoritär-populistischen Machtübernahme vorbereiten, um Gefahren für die Demokratie rechtzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Einige (verfassungs-)rechtliche Einfallstore lassen sich schließen, viele andere aber nicht.