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Was wäre, wenn …? Zur Verwundbarkeit der Demokratie in Thüringen

Hannah Katinka Beck Etienne Hanelt Vanessa Wintermantel

/ 15 Minuten zu lesen

Weltweit gefährden autoritär-populistische Parteien Demokratie und Rechtsstaat. Das Thüringen-Projekt untersucht, inwiefern ein solches Szenario nach den kommenden Landtagswahlen auch in Thüringen drohen könnte, diskutiert am Beispiel der Bildungspolitik.

Bis ins späte zwanzigste Jahrhundert hinein konnte eine nie dagewesene globale demokratische Revolution beobachtet werden. Doch schon 1991 warnte der Politikwissenschaftler Samuel Huntington, dass diese Demokratisierungswelle nicht ewig anhalten werde. Er hat recht behalten: Einige Länder entwickelten sich nicht wie erwartet von geschlossenen Autokratien zu liberalen Demokratien, sondern zu hybriden Regimen, "illiberalen Demokratien" oder "kompetitiven autoritären Regimen". In diesen Regimen finden zwar Wahlen statt, doch sind diese meist weder frei noch fair. Für ihren Machterhalt setzen die Regierungen hybrider Regime weniger auf gewaltsame Repression als auf formal-legale Mittel sowie Desinformation und Propaganda; ihre autoritäre Vorgehensweise kaschieren sie mit einer demokratischen und rechtsstaatlichen Fassade. Heute sind solche hybriden Regime längst nicht mehr nur eine Folge "gescheiterter" Demokratisierung, sondern auch Ergebnis einer Regression liberal verfasster Demokratien.

Dieser Prozess wird in der Politikwissenschaft als democratic backsliding bezeichnet. Zwei der wohl bekanntesten Beispiele sind Ungarn, wo es der Fidesz-Partei gelungen ist, einen "illiberalen Staat" zu etablieren, und Polen, wo die PiS-Partei bis vergangenen Herbst Ähnliches versuchte. Wäre es auch in Deutschland möglich, Demokratie und Rechtsstaat von innen auszuhöhlen? Welche Einfallstore in Verfassung und Gesetzen könnten autoritär-populistische Parteien dafür nutzen? Das "Thüringen-Projekt" des Verfassungsblogs befasst sich mit diesen Fragen. Es analysiert die Möglichkeiten eines formal-legalen Demokratieabbaus auf Länderebene und entwickelt Szenarien für die Fälle, in denen eine autoritär-populistische Partei (APP), hier konkret in Thüringen, stärkste politische Kraft wird oder gar die Regierungsgeschäfte übernimmt.

Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, (verfassungs-)rechtliche Einfallstore zu identifizieren, die APP nutzen können, um Demokratie und Rechtsstaat abzubauen. Solche Einfallstore gibt es in jedem demokratischen Rechtsstaat: Keine Verfassung ist "wasserdicht", also per se immun gegen autoritäre Absichten. Um demokratische Akteur*innen auf diese Einfallstore hinzuweisen und ihnen so die Gelegenheit zu geben, Gefahren für die Demokratie schneller zu erkennen, hat das Thüringen-Projekt unterschiedliche Szenarien erarbeitet, in denen APP staatliche Machtmittel in die Hand bekommen: Was wäre zum Beispiel, wenn eine APP in Thüringen das Bildungsministerium führte? Wie könnte sie dieses nutzen, um die Autoritarisierung der Gesellschaft voranzutreiben? Dieses Szenario wollen wir im Folgenden genauer durchspielen.

Anlass – aber nicht Gegenstand – des Thüringen-Projekts sind die jüngsten Wahlerfolge der "Alternative für Deutschland" (AfD). Obwohl das gute Abschneiden der AfD bei der Europawahl in Ostdeutschland nicht überraschend kam, hat das Ergebnis viele Menschen alarmiert. In Thüringen kam die AfD auf 30,7 Prozent der Stimmen, deutlich vor der CDU mit gut 23 und dem "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW) mit 15 Prozent. Umfragen zu den Thüringischen Landtagswahlen am 1. September 2024 zeichnen ein heterogenes und dynamisches Stimmungsbild, das nach der Wahl eine schwierige Regierungsbildung erwarten lässt. Thüringen steht damit nicht allein. Ähnliches ist auch in Sachsen und Brandenburg zu erwarten.

Im Folgenden definieren wir kurz den Begriff des autoritären Populismus, anschließend skizzieren wir ein mögliches Szenario für den Fall der Regierungsbeteiligung einer APP nach der Thüringer Landtagswahl am Beispiel der Bildungspolitik.

Autoritärer Populismus

Mit dem Konzept des "autoritären Populismus" beschreiben wir ein aktuelles Phänomen, der Begriff an sich ist allerdings in der Politikwissenschaft und den angrenzenden Disziplinen spätestens seit den 1980er Jahren in Gebrauch. Der Soziologe Stuart Hall beschrieb autoritären Populismus in seiner Untersuchung der Politik der britischen Premierministerin Margaret Thatcher bereits 1985 als eine autoritäre Form von Klassenpolitik, mobilisiert durch populistisch instrumentalisierte Unzufriedenheit. Mit dem Aufkommen des Phänomens des democratic backsliding erlebte das Konzept als Kategorie für neurechte Parteien eine neue Konjunktur, allerdings steht die Arbeit an einer umfassenden Definition, die vergleichende empirische Analysen ermöglicht, noch aus. Wir argumentieren, dass APP heute am besten als Parteien zu verstehen sind, die eine populistische Form der Politik nutzen, um die liberale Demokratie mithilfe des bestehenden Rechtssystems formal-legal auszuhöhlen und ein System zu schaffen, in dem ihre Abwahl erheblich erschwert oder gar unmöglich wird.

Zum schrittweisen Abbau von Demokratie und Rechtsstaat und zur Errichtung eines autoritären Regimes bedienen sich APP einer spezifischen Spielart der Politik: des Populismus. Populismus wird heute wahlweise definiert als eine bestimmte Form des politischen Diskurses oder der politischen Performanz, als "dünne" Ideologie, als Bewegung, Strategie oder als Stil. Aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Definitionen gilt "Populismus" daher bis heute als "essentially contested concept". In Anlehnung an die einflussreichsten Arbeiten zum Populismus der vergangenen Jahre verstehen wir Populismus als diskursive und performative Politikform, also als eine bestimmte Art und Weise, Politik zu kommunizieren und zu gestalten beziehungsweise Politik zu machen. Populismus als Politikform umfasst in diesem Verständnis mindestens drei diskursive und performative Elemente: erstens die Spaltung der Gesellschaft in ein homogenes, moralisch reines Volk und eine korrupte Elite; zweitens die Konstruktion eines idealisierten, bisweilen ausgrenzenden Begriffs des "wahren" Volkes; und drittens einen dezidiert antipluralistischen Alleinvertretungsanspruch dieses Volkes und seines Willens.

Populistische Akteur*innen kombinieren die populistische Form der Politik fast immer mit Merkmalen bestimmter Ideologien und Einstellungen. Dies betrifft im Falle des Rechtspopulismus vor allem Nationalismus, Autoritarismus, Nativismus oder Rechtsextremismus. Während in der Literatur bisweilen auch emanzipatorische und demokratieförderliche Aspekte des (dann vor allem linken) Populismus diskutiert werden, sind es diese demokratiefeindlichen Ideologien und Einstellungen, die den Rechtspopulismus, neben seinem inhärenten Antipluralismus, zu einer besonderen Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat machen.

Der Begriff "Autoritarismus" bezeichnet in der politikwissenschaftlichen Literatur sowohl ein politisches System als auch politische Einstellungen in der Bevölkerung. "Autoritarisierung" beschreibt dabei in seiner ersten Bedeutung die Transformation des politischen Systems und in seiner zweiten Bedeutung eine Verschiebung der politischen Einstellungen in der Bevölkerung. Zentrale Akteur*innen eines populistischen Autoritarismus auf der Systemtransformationsebene sind demokratisch gewählte Parteien und deren Politiker*innen, die ihr Recht, zu regieren, für gesetzt erklären. Ihr Verhältnis zum (Verfassungs-)Recht ist instrumentell: Sie nutzen es, um die Demokratie und den Rechtsstaat von innen, aus den Parlamenten heraus, auszuhöhlen. Sie arbeiten in demokratischen Institutionen gegen diese Institutionen. Dass diese Autoritarisierungsprozesse vergleichsweise langsam verlaufen, macht es so schwer, democratic backsliding und den Zerfall des demokratischen Systems als solchen zu erkennen: Für sich genommen verursachen einzelne autoritäre Politiken noch nicht den Zerfall der Demokratie, oft brechen sie nicht einmal mit geltendem Recht. Im Zusammenspiel aber entfalten sie ihr vollständiges autoritäres Potenzial – da sie meist auch die ungeschriebenen Regeln missachten, die als "demokratische Leitplanken" notwendig für das Funktionieren der Demokratie sind.

Dass eine solche Politik für Teile der Bevölkerung attraktiv ist, lässt sich mit der zunehmenden Autoritarisierung in ihrer zweiten Bedeutung, als Verschiebung der politischen Einstellungen in der Bevölkerung, erklären. Seit Jahren schon zeigt sich in entsprechenden Studien wie der "Leipziger Autoritarismus Studie" oder den "Mitte-Studien" eine Zunahme autoritärer und rechtsextremer Überzeugungen in der Bevölkerung. Im Freistaat Thüringen werden die Einstellungen seit dem Jahr 2000 im jährlichen "Thüringen-Monitor" der Universität Jena untersucht. In der jüngsten Erhebung konstatiert der Thüringen-Monitor zwar eine hohe generelle Demokratieunterstützung (88 Prozent), aber nur eine geringe Demokratiezufriedenheit (45 Prozent). Autoritäre, ethnozentristische Einstellungen zeigen sich bei 35 Prozent der Befragten.

Zur Verbreitung dieser Überzeugungen trägt die AfD als autoritär-populistische Partei einerseits selbst maßgeblich bei. Andererseits sichert ihr gerade die zunehmende Verbreitung dieser Einstellungen die Unterstützung für künftige, potenziell demokratiegefährdende Politiken. Dabei benötigt der heutige Autoritarismus keine Autoritätsfigur mehr, sondern fokussiert auf das Individuum und dessen persönliche Freiheit – in libertärer Lesart. Fühlt sich das Individuum in seiner Freiheit eingeschränkt – wie etwa zu Pandemiezeiten durch eine Maskenpflicht oder durch gendergerechte Sprache –, führt dies potenziell zu einer Abwendung von demokratischen und einer Hinwendung zu autoritär-populistischen Politikangeboten.

Szenarien nach der Wahl

Um zu untersuchen, welche rechtlichen Einfallstore autoritär-populistische Parteien nutzen könnten, um Demokratie und Rechtsstaat auszuhöhlen und die Autoritarisierung der Gesellschaft voranzutreiben, entwickelt das Thüringen-Projekt unterschiedliche Szenarien, darunter das "Landtagspräsident*innen-Szenario", das "Volksbefragungs-Szenario" und das "Medienstaatsvertrags-Szenario". All diese Szenarien sind politisch und juristisch plausibel, das heißt, sie sind unter dem geltenden Thüringer Verfassungsrecht realisierbar – abhängig von den staatlichen Machtmitteln, die eine APP in Thüringen in die Hand bekommt. Wer solche Machtmittel erhält, bestimmen in einer liberalen Demokratie die Bürger*innen in Wahlen. Je mehr Stimmen eine Partei mobilisieren kann, desto mehr Machtmittel beziehungsweise parlamentarische Befugnisse stehen ihr für die Dauer einer Legislaturperiode zur Verfügung. Erhält eine Partei beispielsweise ein Drittel der Sitze, hat sie eine Sperrminorität und kann im Parlament Zweidrittelmehrheitsentscheidungen, zum Beispiel Verfassungsänderungen, blockieren. Eine APP in der Regierung und mit parlamentarischer Mehrheit hätte noch deutlich mehr Möglichkeiten, autoritär-populistische Politiken umzusetzen.

Im Folgenden zeigen wir exemplarisch am Szenario der Bildungs-Instrumentalisierung (kurz "Bildungsszenario"), wie und unter welchen Bedingungen eine autoritär-populistische Partei in Thüringen (verfassungs-)rechtliche Einfallstore formal-legal missbrauchen kann. Wir haben das Bildungsszenario für diesen Beitrag ausgewählt, weil es drei Elemente autoritär-populistischer Politik besonders gut sichtbar macht: erstens den formal-legalen Missbrauch von (verfassungs-)rechtlichen Einfallstoren; zweitens die Umgestaltung demokratischer Institutionen zum Zweck der Autoritarisierung der Gesellschaft; und drittens die Umsetzung populistischer Konstruktionen in die politische und gesellschaftliche Realität.

Bildungspolitik als Vehikel autoritärer Politik

Bildung ist ein Politikbereich, den regierende APP zu instrumentalisieren versuchen, um ihre Regime zu stabilisieren. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán beispielsweise senkte seit seinem Amtsantritt stetig öffentliche Bildungsausgaben, während er Investitionen in private Institutionen wie das seiner Partei nahestehende Mathias-Corvinus-Collegium erhöhte. Gleichzeitig zentralisierte er das Bildungssystem: Das staatliche Klebelsberg-Institut, gegründet 2013, beaufsichtigt, wer als Lehrer*in eingestellt und wer entlassen wird. Der ungarische Bildungsminister bestimmt zudem, welche Schulbücher im Unterricht verwendet werden dürfen.

Autoritarisierungsprozesse sind schwerer umzusetzen, wenn Bürger*innen kritikfähig sind, wenn sie erkennen, dass bestimmte politische Entscheidungen die liberale Demokratie gefährden, sie dagegen demonstrieren und APP gegebenenfalls wieder abwählen. Gleichzeitig gilt: Eine APP wie Fidesz ist auf eine Gesellschaft angewiesen, die nicht gegen ihre demokratieverkürzende Politik aufbegehrt. Mehr noch: Sie ist auf die Zustimmung der wahlberechtigten Bürger*innen angewiesen – jedenfalls so lange, bis sie aus der liberalen Demokratie ein hybrides Regime gemacht hat. APP schaffen (politische) Bildungsangebote deswegen nicht einfach ab, sondern missbrauchen sie unter dem Deckmantel formaler Rechtmäßigkeit.

Das Bildungsszenario fußt auf einer Analyse der Thüringer Landesverfassung und dem Bildungsrecht sowie auf Hintergrundgesprächen mit Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis. Es zeigt, wie eine APP die (politische) Bildung im Freistaat an ihre autoritär-populistische Politik anpassen könnte: indem sie Lehrpläne ändert, die Landeszentrale für politische Bildung abschafft oder neu organisiert und Lehrkräfte mit Rundschreiben unter Druck setzt, um die Unterrichtsgestaltung zu beeinflussen. Rein formal würde die APP damit keine verfassungsrechtlichen Grenzen überschreiten.

Thüringisches Bildungsszenario

Das Bildungsszenario setzt voraus, dass eine APP Thüringen regiert – entweder allein oder mit einer mehrheitsfähigen Koalition. Prinzipiell könnte das jede beliebige APP sein. Wir benennen die AfD im Folgenden konkret, weil sie derzeit die einzige Partei ist, die sich in Thüringen eindeutig als APP kategorisieren lässt.

Stellen wir uns das Szenario wie folgt vor: Die Thüringer Bürger*innen wählen ein neues Parlament, und die AfD wird nicht nur stärkste Kraft, sondern sie erhält auch die absolute Mehrheit der Sitze im Erfurter Landtag. Wenig später wählen die Abgeordneten den AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke zum Ministerpräsidenten. Weil die AfD den Freistaat allein regiert, leitet sie alle Ministerien – auch das Bildungsministerium. Bildung ist in Deutschland Ländersache. Das Schulwesen untersteht der staatlichen Aufsicht (Artikel 7 Absatz 1 Grundgesetz), wegen der Kompetenzverteilung (Artikel 30, 70ff. GG) übernehmen die Länder diese staatliche Aufgabe selbst.

Im Szenario erlässt das Bildungsministerium nach Paragraf 40a Absatz 2 des Schulgesetzes Rechtsverordnungen, die die Aufgaben des "Instituts für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien" so beschränken, dass das Ministerium die Lehrpläne des Landes in Zukunft allein gestalten kann. Es setzt sich alsbald an einen neuen Entwurf. Eltern und Lehrer*innen protestieren, als die Änderungen öffentlich bekannt werden: Der Sexualkundeunterricht wird bis zur Oberstufe ersatzlos aus dem Lehrplan gestrichen, die Schwerpunktsetzung im Geschichtsunterricht verschoben. Das Bildungsministerium entscheidet, dass sich die Schüler*innen mehr mit dem Kaiserreich und weniger mit dem Holocaust beschäftigen sollen. Es lässt neurechte Interpretationen deutscher Geschichte zu und treibt so die Autoritarisierung der Gesellschaft voran.

Die AfD beruft sich in diesem Szenario auf die staatliche Aufsicht über die Schulen, um ihre Änderungen im Lehrplan zu rechtfertigen. Bisherige Versuche von demokratischen Regierungen, Konzepte wie sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in den Unterricht zu integrieren – etwa durch den "Bildungsplan bis 18" –, delegitimiert die AfD als "[p]olitisch motivierte Programme", die "an den Schulen nichts verloren" haben. Sie kommuniziert populistisch, indem sie die Spaltung der Gesellschaft in ein "wahres" Volk und eine Elite konstruiert, die bisher dysfunktional regiert habe und dieses "Volk" nicht angemessen vertrete.

Im weiteren Verlauf des Szenarios überlegen einige Eltern, rechtlich gegen den neuen Lehrplan des Bildungsministeriums vorzugehen, aber weder sie noch die Schüler*innen sind in der Lage, bestimmte Schulinhalte einzuklagen. Außerdem ist der Lehrplan verfassungskonform – er erfüllt formal die Erziehungsziele, die in Artikel 22 der Thüringer Verfassung festgelegt sind.

Bis die neuen Lehrpläne entwickelt sind, dauert es eine Weile. Die AfD kann diesen Prozess im hier diskutierten Szenario aber verkürzen, indem sie zum Beispiel Rechtsverordnungen erlässt, nach denen Expertengremien und Kommissionen nicht mehr in die Entwicklung der Lehrpläne einbezogen werden. Währenddessen schickt das Bildungsministerium über das Thüringer Schulportal Rundmails an die Schulleitungen staatlicher Schulen, um sie und die Lehrkräfte an ihr Mäßigungs- und Neutralitätsgebot zu erinnern, das im Beamtenstatusgesetz (Paragraf 33 Absatz 2 BeamtStG) festgeschrieben ist. "Jede Meinungskundgabe, die den Unterricht stört, ist zu unterlassen", schreibt das Ministerium. Obwohl es gar kein Gebot vollständiger Neutralität gibt, lösen die Rundschreiben Unruhe in den Kollegien aus – die Anweisung von oben setzt viele Lehrer*innen unter Druck. Sie werden vorsichtiger und äußern sich im Unterricht kaum noch zu politischen Fragen.

Zur gleichen Zeit entscheidet der neue Ministerpräsident, das Direktorium der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen umzubesetzen. Weil die Landeszentrale nicht parlamentsrechtlich angebunden ist, sondern rechtlich auf einer Anordnung der Landesregierung beruht ("Anordnung der Landesregierung über die Errichtung der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung"), kann der Ministerpräsident allein entscheiden, wer sie leiten soll (Paragraf 5 der Anordnung). Eine Weile spielt er mit dem Gedanken, die Landeszentrale ganz abzuschaffen. Mit dem neuen Direktorium aber wird die Landeszentrale zu einem nützlichen Instrument seiner APP: Sie informiert nun mehr zu Linksextremismus und weniger zu Rechtsextremismus. Bald erscheinen neue Unterrichtsmaterialien zu den "Gefahren für die Demokratie durch Gruppierungen wie die ‚Letzte Generation‘", die weiterhin kostenfrei zur Verfügung stehen. Auf diese Weise werden politische Gegner*innen formal-legal als Antidemokrat*innen diskreditiert – und Informationen über die eigenen demokratiefeindlichen Ziele zurückgehalten.

In den folgenden Monaten schließlich richtet die AfD auf untergesetzlicher Ebene neue "Vorschaltklassen" für geflüchtete Kinder ein und treibt damit die Segregation an Thüringer Schulen voran. Außerdem beschließt sie Investitionen in Förderschulen und untergräbt die bereits unzureichende und schlecht organisierte Inklusion von behinderten Menschen an Gymnasien und Regelschulen. Sie macht ihre populistische Konstruktion vom "wahren Volk", zu dem Geflüchtete und Menschen mit Behinderung nicht gehören, zur politischen und gesellschaftlichen Realität.

Ausblick

Das Bildungsszenario zeigt, dass eine APP in Thüringen – wie auch in anderen Ländern – das Recht instrumentalisieren kann, um Demokratie und Rechtsstaat von innen auszuhöhlen und die Autoritarisierung der Gesellschaft voranzutreiben. Der autoritäre Populismus der AfD ist kein ostdeutsches Phänomen. Die Partei erfährt hier jedoch derzeit deutlich mehr Zuspruch in der Bevölkerung als in Westdeutschland. Demokratische Parteien, gerade im Osten, sollten sich auf Szenarien einer autoritär-populistischen Machtübernahme vorbereiten, um Gefahren für die Demokratie rechtzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Einige (verfassungs-)rechtliche Einfallstore lassen sich schließen, viele andere aber nicht. Bekäme eine APP bei der kommenden Thüringer Landtagswahl mehr als ein Drittel der Sitze im Parlament, ließen sich zum Beispiel Verfassungsänderungen zum Schutz der Demokratie nicht mehr durchsetzen. So oder so braucht es einen zivilen Verfassungsschutz: Der Schutz unserer liberalen Demokratie ist ebenso Aufgabe der Bürger*innen wie der Politik.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave, Norman, OK 1991, S. 315.

  2. Vgl. Fareed Zakaria, The Rise of Illiberal Democracy, in: Foreign Affairs 6/1997, S. 22–43.

  3. Vgl. Steven Levitsky/Lucan A. Way, Competitive Authoritarianism. Hybrid Regimes After the Cold War, Cambridge 2010.

  4. Ebd., S. 5.

  5. Vgl. Kim Lane Scheppele, Autocratic Legalism, in: The University of Chicago Law Review 2/2018, S. 545–583.

  6. Vgl. Sergei Guriev/Daniel Treisman, Spin Dictators. The Changing Face of Tyranny in the 21st Century, Princeton 2022.

  7. Vgl. Hans-Joachim Lauth, Legitimation autoritärer Regime durch Recht, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 2/2017, S. 247–273.

  8. Für eine ausführliche Einordnung der AfD als APP vgl. z.B. Alexander Häusler, Die AfD: Partei des völkisch-autoritären Populismus, in: ders. (Hrsg.), Völkisch-autoritärer Populismus, Hamburg 2018, S. 9–19.

  9. Vgl. Stuart Hall, Authoritarian Populism: A Reply, in: New Left Review 1/1985, S. 115–124.

  10. Für eine erste, aber noch zu konkretisierende und erweiternde Definition siehe Michael Zürn, Die regulative Idee der Wahrheit und demokratische Regression, in: Leviathan, Sonderband 40/2023, S. 54–82.

  11. Vgl. Cas Mudde, Populism: An Ideational Approach, in: Cristóbal Rovira Kaltwasser et al. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Populism, Oxford 2017, S. 27–47, hier S. 27.

  12. Vgl. ebd.; Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Bonn 2016; ders., Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit: Wie schafft man Demokratie?, Bonn 2022.

  13. Vgl. Benjamin Moffitt, The Performative Turn in the Comparative Study of Populism, in: Comparative Politics Newsletter 2/2016, S. 52–58; Müller, Was ist Populismus? (Anm. 12).

  14. Vgl. Cristóbal Rovira Kaltwasser et al., Populism: An Overview of the Concept and the State of the Art, in: dies. (Anm. 11), S. 1–24, hier S. 17.

  15. Vgl. Ernesto Laclau, On Populist Reason, London–New York 2005; Chantal Mouffe, Für einen linken Populismus, Berlin 2018.

  16. Vgl. Scheppele (Anm. 5); Andrea L.P. Pirro/Ben Stanley, Forging, Bending, and Breaking: Enacting the "Illiberal Playbook" in Hungary and Poland, in: Perspectives on Politics 1/2022, S. 86–101.

  17. Vgl. Stephan Haggard/Robert Kaufman, Backsliding: Democratic Regress in the Contemporary World, Cambridge 2021.

  18. Vgl. Kim Lane Scheppele, The Rule of Law and the Frankenstate. Why Governance Checklists Do Not Work, in: Governance 4/2013, S. 559–562.

  19. Vgl. Steven Levitsky/Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben, München 2018; Katarína Šipulová/David Kosař, Decay or Erosion? The Role of Informal Institutions in Challenges Faced by Democratic Judiciaries, in: German Law Journal, Special Issue 8/2023, S. 1577–1595; Attila Vincze, Schrödinger’s Judiciary. Formality at the Service of Informality in Hungary, in: ebd., S. 1432–1448.

  20. Vgl. Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin 2022.

  21. Vgl. Marion Reiser et al., Politische Kultur im Freistaat Thüringen. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2023, Jena 2024.

  22. Vgl. Teresa Völker/Daniel Saldivia Gonzatti, Discourse Networks of the Far Right. How Far-Right Actors Become Mainstream in Public Debates, in: Political Communication 3/2024, S. 353–372.

  23. Vgl. Amlinger/Nachtwey (Anm. 20).

  24. Vgl. Jelena von Achenbach/Maximilian Steinbeis, Warum die Machtübernahme durch die AfD schon früher beginnen könnte, als viele glauben, 1.12.2023, Externer Link: https://verfassungsblog.de/warum-die-machtubernahme-durch-die-afd-schon-fruher-beginnen-konnte-als-viele-glauben.

  25. Vgl. Hermann Heußner/Arne Pautsch/Maximilian Steinbeis, Wenn Björn Höcke sein Volk befragt, 17.11.2023, Externer Link: https://verfassungsblog.de/wenn-bjorn-hocke-sein-volk-befragt.

  26. Vgl. Maximilian Steinbeis, Die verwundbare Demokratie. Strategien gegen die populistische Übernahme, München 2024, S. 146ff.

  27. Um Sand ins Getriebe der demokratischen Institutionen zu streuen, um Prozesse zu obstruieren und demokratische Akteur*innen zu delegitimieren, braucht eine APP keine Mehrheiten; siehe hierzu z.B. Regieren ohne zu regieren: Autoritärer Populismus und parlamentarische Obstruktion, Externer Link: https://verfassungsblog.de/category/debates/regieren-ohne-zu-regieren-autoritarer-populismus-und-parlamentarische-obstruktion.

  28. Vgl. Jonas Frey, Proteste gegen Orbán: Blockbildung in Ungarn, 6.7.2023, Externer Link: https://taz.de/!5944563; Dariusz Kalan, Rejuvenating Fidesz, 29.12.2020, Externer Link: https://balkaninsight.com/2020/12/29/rejuvenating-fidesz.

  29. Zoltán Rónay, Centralizations and Autonomies: The Delimitation of Education by the Hungarian Government, in: Nikolay Popov et al. (Hrsg.), Education in Modern Society, Sofia 2018, S. 177–182; András Semjén, (Re)Centralisation of Education Governance in Hungary: Its Causes, Declared Goals, Motives and Some Potential Hidden Goals, in: Podstawy Edukacji 16/2023, S. 199–219.

  30. Vgl. Semjén (Anm. 29).

  31. Vgl. Jürgen Oelkers, Autoritarismus und liberale öffentliche Bildung, in: Zeitschrift für Pädagogik 6/2018, S. 728–748.

  32. Zum Populismus des BSW vgl. J. Philipp Thomeczek, Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW): Left-Wing Authoritarian – and Populist? An Empirical Analysis, in: Politische Vierteljahresschrift 2024, Externer Link: https://doi.org/10.1007/s11615-024-00544-z. Weitere Studien, die eine empirisch fundierte Einordnung in die Kategorie "autoritär" zuließen, stehen noch aus.

  33. Wir konzentrieren uns hier auf die wichtigsten Teile des Szenarios – "auserzählt" ist es damit nicht.

  34. Wir beziehen uns hier und im Folgenden auf die bis zum 30. Juni 2024 gültige Fassung des Thüringer Schulgesetzes; die Änderungen in der neuen Fassung haben keinen Einfluss auf das hier beschriebene Szenario.

  35. Vgl. Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.), Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre, Weimar 2019.

  36. AfD Thüringen, Wahlprogramm zur Landtagswahl 2024, 27.4.2024, S. 35.

  37. Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Ersten Senats vom 19.11.2021 – Bundesnotbremse II (Schulschließungen), Rn. 52.

  38. Weil Lehrpläne Verwaltungsvorschriften sind, ist die Beteiligung von Expert*innen eine politische und pädagogische, aber keine rechtlich zwingende Entscheidung.

  39. Vgl. Michael Wrase, Wie politisch dürfen Lehrkräfte sein?, in: APuZ 14–15/2020, S. 10–15, hier S. 11.

  40. Vgl. Hannah Beck et al., Rechtsstaatliche Resilienz in Thüringen stärken. Handlungsempfehlungen aus der Szenarioanalyse des Thüringen-Projekts, Externer Link: https://verfassungsblog.de/wp-content/uploads/2024/04/240417_Verfassungsblog-PolicyPaper.pdf.

  41. Vgl. Marie Müller-Elmau/Friedrich Zillessen, Für einen zivilen Verfassungsschutz, 9.2.2024, Externer Link: https://verfassungsblog.de/fur-einen-zivilen-verfassungsschutz.

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ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im "Thüringen-Projekt" des Verfassungsblogs. Sie hat Ethnologie und Politikwissenschaft in Leipzig und Global Politics in Malmö studiert.

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