"DDR: Heute noch ein Thema?" lautet eine Frage an die Besucherinnen und Besucher im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. Die Frage animiert, darunter finden sich Zettel mit vielfältigen Ansichten. Eine vom Mai 2024, die ins Auge fällt, lautet: "Es war trotzdem unsere Heimat." Trotzdem Heimat: Obwohl die DDR eine Diktatur war; obwohl viele Menschen finden, dass die DDR heute kein Thema mehr sein sollte – und das Gefühl besteht, dass man sich für eine Heimat DDR in der Gegenwart irgendwie rechtfertigen müsse. Fünf Worte, mit Bleistift auf einen kleinen Zettel geschrieben, die darauf hindeuten, dass Erfahrungen in und mit der DDR auch 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution identitätsstiftend sind. Vielleicht ließe sich aber auch formulieren, dass sie in der Gegenwart gerade deshalb ein wichtiger Identitätsbaustein sind, weil es fast dreieinhalb Jahrzehnte Deutsche Einheit und spezifische Erfahrungen im Kontext der Transformations- und Umbruchsprozesse gibt.
Ostdeutsche Identitäten sind in vielerlei Hinsicht Resultat des deutsch-deutschen Zusammenwachsens in seiner langen Dauer. Thomas Krüger, Jahrgang 1959 und heute Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, fasste es vor einigen Jahren so zusammen: "Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir uns zu DDR-Zeiten als Ostdeutsche definiert haben. Im Gegenteil: Wir haben uns immer als Deutsche verstanden. Eine ostdeutsche Identität gab es erst nach der DDR."
Woher kommt diese Fokussierung? Und warum wird sie gerade bei "Nachwendekindern"
Mit dem Ende des SED-Staates hatte die meisten Menschen in Ostdeutschland zunächst ein großes Gefühl von Freude, von Aufbruch und Neugier geeint. Doch bald sollte sich zeigen, dass all die neu gewonnenen Freiheiten nicht selten in Enttäuschungsszenarien unterschiedlicher Schattierungen mündeten. Aufbruch und Zusammenbruch, Hoffnung und Ernüchterung, Mut und Wut lagen nach dem Ende der DDR nah beieinander. Genau diese Erfahrungen wurden bisher zu selten gehört – und wirken bis heute nach.
"Bau ab, bau auf": Identitätsmarker
"Bau auf! Bau ab!" lautete der Titel eines an sieben Abenden im Berliner Humboldt-Forum aufgeführten Theaterspektakels im Rahmenprogramm zur Ausstellung "Hin und Weg. Der Palast der Republik ist Gegenwart" (17. Mai 2024 bis 16. Februar 2025). Im Stück ging es um jenen vielschichtigen Ort, der in vielerlei Hinsicht als Symbol für das Thema ostdeutsche Identitäten gelten kann: den Palast der Republik, "Erichs Lampenladen", den Ort, an dem der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschlossen wurde. Jene Ruine, die ab 2008 Platz machen musste. Platz für das Neue, das in Gestalt des Alten daherkam: das bis heute umstrittene Humboldt-Forum. 1976 wurde der Palast der Republik als "Haus des Volkes" und Sitz der Volkskammer eingeweiht, 1990 endete diese Phase ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als das dort beheimatete ostdeutsche Parlament erstmals aus einer vollwertigen demokratischen Wahl hervorgegangen war. Es folgten Asbestsanierung, künstlerische Zwischennutzungen und schließlich der Abriss. Der Phantomschmerz ist indes geblieben: Längst ist der Bau in seiner allgegenwärtigen Abwesenheit Identifikationsfigur eines Gefühls der Entwertung und der Beseitigung des Bewährten. Im Schauspiel wurden Palasterinnerungen vom Keller bis zum Dach des Humboldt-Forums getragen und die Aussage von Generalintendant Hartmut Dorgerloh, der Palast sei Teil der DNA des Humboldt-Forums, in einer inszenatorischen Raumaneignung sichtbar gemacht.
Die klaffende Wunde, die der Palast mit seinem Verschwinden hinterlassen hat, steht sinnbildlich für Verluste, die viele Menschen in Ostdeutschland zu einem trotzigen "Ostbewusstsein" führten. Auf Betriebsschließungen folgte Massenarbeitslosigkeit, die wiederum eine massenhafte Abwanderung in die Städte und gen Westen mit sich brachte – nach "Vielbesserland",
"Die Identität einer Person kann letztendlich nur aus deren Lebenslauf und den in der Lebensspanne aufgeschichteten Erfahrungen begriffen werden (…): Sie ist also kein statisches Konstrukt, sondern Ergebnis immer neuer Erfahrungs- und Verarbeitungsprozesse."
Neben den Erfahrungen, die während der Transformationszeit in ihrer langen Dauer
Ein Problem aller Identitätszuschreibungen ist die damit einhergehende "Vermassung": Die Ostdeutschen gibt es genauso wenig wie die Westdeutschen, die Bayern oder die Sachsen. Aber derartige gruppenbezogene Zuschreibungen, die oft in Stereotype münden ("Jammer-Ossi" und "Besser-Wessi" gehören sicher zu den trivialeren), machen es uns im Alltag oft so schön leicht, gerade im deutsch-deutschen Miteinander. Denn nicht zuletzt bedürfen Definitionen des Eigenen eines Anderen als Grenze, als Referenz und als Folie. Das Andere meint in diesem Fall natürlich "den Westen", obschon es ihn genauso wenig gibt wie "den Osten". Realer scheint da schon eine zugeschriebene oder tatsächliche Ignoranz "des Westens": Menschen in Stuttgart oder Mainz, in München oder Hamburg haben mit 1989 weitaus weniger Veränderungen durchlebt und Adaptionsleistungen vollbringen müssen als die Menschen auf dem Gebiet der vormaligen DDR. Für sie sind daher viele Diskurse und Verletzungen bis heute schwer nachvollziehbar. Zugleich, bei wenig Wandel im eigenen Umfeld, sahen sie vielfach keine Veranlassung, sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen und das andere Deutschland zu bereisen. So gaben 2019 17 Prozent der Westdeutschen an, noch nie im Osten gewesen zu sein. Auch wenn diese Zahl mittlerweile kleiner geworden sein dürfte: Der Eindruck des Desinteresses ist geblieben. Zum Vergleich: Nur zwei Prozent der Ostdeutschen waren bis 2019 noch nie im Westteil des Landes.
Ostdeutsch! Ostdeutsch?
Bei alledem steht immer auch die Frage im Raum, was und vor allem wen "ostdeutsch" eigentlich meint. Kann sich als ostdeutsch definieren, wer in der DDR oder in einem der sogenannten neuen Bundesländer geboren wurde? Oder ist auch ostdeutsch, wer lange (wie lange?) in Ostdeutschland gelebt hat? Kann man sich bewusst als Ostdeutsche oder Ostdeutscher verorten, ohne derartige biografische Bezüge zu haben? Und welche Rolle spielt die narrative Weitergabe zwischen den Generationen? Die Fragen zeigen: Ostdeutsch zu sein, ist eine Konstruktion und zugleich ein hoch emotional besetztes Themenfeld. Pointiert ausgedrückt kann man "bio-ostdeutsch" sein (qua Geburt), "geo-ostdeutsch" (qua Wohnort), "sozio-ostdeutsch" (qua Sozialisation) oder auch "emo-ostdeutsch" (qua emotionaler Selbstverortung).
Die Integrationsforscherin Naika Foroutan versucht darüber hinaus, Verknüpfungen zwischen migrantischen und ostdeutschen Erfahrungswelten herzustellen.
Die jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament haben die Ost-West-Debatten erneut befördert, denn es war wieder einmal so schön einfach, "den Osten" als "rechts" abzustempeln, weil die "Alternative für Deutschland" (AfD) fast flächendeckend auf rund 30 Prozent der Stimmen kam. Dabei wurde, gerade in den hitzigen Debatten auf "X" (vormals "Twitter"), selten bis nie erwähnt, dass die übergroße Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland keineswegs rechtspopulistisch, sondern liberal-demokratisch gewählt hat. Nichtsdestotrotz zeigen die Wahlergebnisse, dass in den ostdeutschen Bundesländern größere Teile der Bevölkerung andere Vorstellungen von der Zukunft Deutschlands und Europas haben als im Rest des Landes. Im September werden diese Vorstellungen auch die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg prägen. Zeit, sich daran zu erinnern, dass Ostdeutschland, aus der Außenperspektive gerne als "Dunkeldeutschland" verschrien, viel Helles vorzuweisen hat – und dass trotzige Abgrenzung kein guter Ratgeber bei Wahlentscheidungen ist.
Ein Indikator für die offenbar stetig steigende Relevanz der Befassung mit einem wie auch immer gearteten "Ostdeutschsein" und der Dichotomie zwischen West und Ost ist die kontinuierlich wachsende Zahl an Kinofilmen, Dokumentationen und Publikationen zum Thema – sei es im Genre des Sachbuchs oder in der Belletristik. Steffen Maus "Ungleich vereint"
Ostdeutsches Selbstbewusstsein
Ein wichtiger Punkt in der Debatte um ostdeutsche Identitäten scheint das Thema der Anerkennung von Lebensleistungen zu sein.
Sogenannte Ostprodukte wollte zum Beispiel zunächst niemand mehr haben. Der Nuss-Nougat-Creme "Nudossi" etwa begegnete man erst Jahre später wieder mit Begeisterung. Nachdem die Produktion in Dresden 1991 eingestellt worden war, gibt es "Nudossi" erst seit 2005 wieder, jetzt hergestellt in Radebeul. Auch andere DDR-Produkte, wie die (fast) unzerbrechlichen "Superfest"-Gläser aus der Westlausitz, die zwischen 1980 und 1990 im VEB Sachsenglas Schwepnitz hergestellt wurden, erfreuen sich erst seit einigen Jahren wieder größerer Beliebtheit. Ihre Produktion wurde nicht wieder aufgenommen, sie sind aber inzwischen zu so etwas wie Designikonen der Nachhaltigkeit geworden, für die auf einschlägigen Portalen hohe Preise gezahlt werden. Plattenbauten, um ein drittes alltagskulturelles Beispiel herauszugreifen, waren in der Zeit der DDR begehrte Wohnorte, standen nach dem Ende des Arbeiter- und Bauernstaates aber massenhaft leer. Sie wurden nur selten durch Rückbau in neue Architekturen überführt, wie etwa in Leinefelde-Worbis, Hohenmölsen oder in Wolfen-Nord, sondern oft wurden ganze Straßenzüge abgerissen, wie in Cottbus, Leipzig-Grünau oder Eisenhüttenstadt. Erst seit wenigen Jahren wächst neben dem Sinn für Nachhaltigkeit auch das Bewusstsein für den Denkmalwert ostmoderner Architektur und baubezogener Kunst der DDR. Mit dem Generationswechsel ging auch ein Perspektivwechsel einher.
Ein solcher Perspektivwechsel gelingt auch durch Projekte wie das seit 2022 in Bitterfeld-Wolfen stattfindende "OSTEN Festival" oder Initiativen wie das 2010 gegründete Netzwerk "3te Generation Ost", den 2013 ins Leben gerufenen Verein "Perspektive3" oder das 2022 entstandene Netzwerk "Keinheit". Diese Projekte beschreiten einen Weg, der wegführt vom trotzigen Ostdeutschsein, hin zu einem neuen ostdeutschen Selbstbewusstsein.
So lautet der Ansatz des Wolfener Festivals: "Es erforscht und feiert ‚den Osten‘ als Landschaft der Veränderungen für Mensch, Natur und Zusammenleben."
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass auch jüngere Menschen, die die DDR kaum mehr oder gar nicht aus eigenem Erleben kennen, das Bedürfnis haben, über Ostdeutschland zu sprechen. Mit derartigen identitätsbezogenen – oder besser: identitätsstiftenden – Aneignungsprozessen der jüngeren Generationen rücken neue Fragestellungen in den Fokus. Dabei werden auch die fortbestehenden Missstände und Ungleichheiten thematisiert, jedoch ohne eigene Verletztheit oder Wut.
Von der Ostidentität zum "Ostbewusstsein"
Auch auf längere Sicht ist ein Ende der Befassung Ostdeutscher mit ihrem Ostdeutschsein, mit ihren ostdeutschen Identitäten nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Menschen wie der Rapper Hendrik Bolz, 1988 in Leipzig geboren, betonen den weiterhin großen, ja wachsenden Bedarf an Austausch zum Thema "Ostdeutschsein": "Mittlerweile war auch in der Breite klar geworden, dass im Osten Verstimmtheiten bestehen, die sich nicht lösen lassen, indem man nur immer wieder feststellt, dass es mit dem Thema doch jetzt mal gut sei. Mittlerweile war mir klar geworden, dass es einen riesigen Diskursstau gibt und man, um gemeinsam vorwärtszukommen, endlich miteinander ins Gespräch kommen muss. Und dass man dafür die eigenen Geschichten erzählen muss."
Objektive Benachteiligungen und Ungleichheiten müssen angegangen werden, doch vor allem die kulturellen Unterschiede werden noch eine Zeitlang bleiben, und sie sind wichtig. In den Worten Steffen Maus: "Der Osten wird nicht nur durch gewisse westdeutsche Medien ‚verandert‘, er ist auch anders."
Begrifflich sollten wir einen Schritt zurücktreten. Denn auch wenn der Erfahrungsrahmen – zumindest in bestimmten Alterskohorten – ähnlich sein mag: Eine kollektive ostdeutsche Identität ist daraus nicht hervorgegangen. "Ostdeutschsein" ist nur eine Identitätsverortung neben anderen, ganz im Sinne der Theorie der "hybriden Identitäten".
Im besten Fall kann dieses Ostbewusstsein weniger trotzig sein, jedenfalls ab dem Punkt, an dem die DDR nicht mehr "trotzdem" als Heimat verhandelt werden muss, sondern Erfahrungshorizonte und Möglichkeitsräume der Menschen in Ostdeutschland sichtbar und Dialoge möglich werden – und ab dem wir uns im Zustand von "ungleich vereint" gleichwohl weitgehend wut- und vorurteilsfrei begegnen können. Ostdeutschsein wäre dann nicht mehr als negatives Attribut zu lesen, sondern – im Sinne von Empowerment – als positives Merkmal, dem viel Aufbruch innewohnt.