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"Trotzdem Heimat" | Fokus Ostdeutschland | bpb.de

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"Trotzdem Heimat" Ostdeutsche Identitäten zwischen Trotz und Aufbruch

Uta Bretschneider

/ 15 Minuten zu lesen

„Die“ Ostdeutschen gibt es ebenso wenig wie „den“ Osten. Trotzdem steht außer Frage, dass das Ende der DDR und die für viele schwierigen Transformationsprozesse bis heute die Menschen prägen. Helfen könnte ein aufgeschlossenes, reflektiertes „Ostbewusstsein“.

"DDR: Heute noch ein Thema?" lautet eine Frage an die Besucherinnen und Besucher im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. Die Frage animiert, darunter finden sich Zettel mit vielfältigen Ansichten. Eine vom Mai 2024, die ins Auge fällt, lautet: "Es war trotzdem unsere Heimat." Trotzdem Heimat: Obwohl die DDR eine Diktatur war; obwohl viele Menschen finden, dass die DDR heute kein Thema mehr sein sollte – und das Gefühl besteht, dass man sich für eine Heimat DDR in der Gegenwart irgendwie rechtfertigen müsse. Fünf Worte, mit Bleistift auf einen kleinen Zettel geschrieben, die darauf hindeuten, dass Erfahrungen in und mit der DDR auch 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution identitätsstiftend sind. Vielleicht ließe sich aber auch formulieren, dass sie in der Gegenwart gerade deshalb ein wichtiger Identitätsbaustein sind, weil es fast dreieinhalb Jahrzehnte Deutsche Einheit und spezifische Erfahrungen im Kontext der Transformations- und Umbruchsprozesse gibt.

Ostdeutsche Identitäten sind in vielerlei Hinsicht Resultat des deutsch-deutschen Zusammenwachsens in seiner langen Dauer. Thomas Krüger, Jahrgang 1959 und heute Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, fasste es vor einigen Jahren so zusammen: "Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir uns zu DDR-Zeiten als Ostdeutsche definiert haben. Im Gegenteil: Wir haben uns immer als Deutsche verstanden. Eine ostdeutsche Identität gab es erst nach der DDR." Ganz ähnlich beschrieb es die ausgerechnet im Jahr 1990 geborene Autorin Valerie Schönian und spitzte sogar noch zu: "Aber je länger die Mauer nicht mehr steht, desto ostdeutscher fühle ich mich. In einer Zeit, in der die meisten Menschen, denen ich mich ideell verbunden fühle, davon sprechen, Europäer oder Weltbürgerinnen zu sein, fühle ich mich zuallererst als Ostdeutsche."

Woher kommt diese Fokussierung? Und warum wird sie gerade bei "Nachwendekindern" immer wirkmächtiger? Die Ursachen und Folgen sind vermutlich so komplex wie die Umbrüche der vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte selbst. Fehlstellen, Frustrationen sowie Trotz spielen dabei wohl eine gewichtigere Rolle als ein Gefühl von Stolz auf das Erreichte. Ein wachsendes "Ostbewusstsein" resultiert so vor allem aus der Erfahrung von fortbestehenden Unterschieden. Ostdeutsche liegen zum Beispiel beim Gehalt, beim Erben oder bei der Besetzung von Führungspositionen immer noch deutlich hinter den Menschen aus dem Westteil des Landes.

Mit dem Ende des SED-Staates hatte die meisten Menschen in Ostdeutschland zunächst ein großes Gefühl von Freude, von Aufbruch und Neugier geeint. Doch bald sollte sich zeigen, dass all die neu gewonnenen Freiheiten nicht selten in Enttäuschungsszenarien unterschiedlicher Schattierungen mündeten. Aufbruch und Zusammenbruch, Hoffnung und Ernüchterung, Mut und Wut lagen nach dem Ende der DDR nah beieinander. Genau diese Erfahrungen wurden bisher zu selten gehört – und wirken bis heute nach.

"Bau ab, bau auf": Identitätsmarker

"Bau auf! Bau ab!" lautete der Titel eines an sieben Abenden im Berliner Humboldt-Forum aufgeführten Theaterspektakels im Rahmenprogramm zur Ausstellung "Hin und Weg. Der Palast der Republik ist Gegenwart" (17. Mai 2024 bis 16. Februar 2025). Im Stück ging es um jenen vielschichtigen Ort, der in vielerlei Hinsicht als Symbol für das Thema ostdeutsche Identitäten gelten kann: den Palast der Republik, "Erichs Lampenladen", den Ort, an dem der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschlossen wurde. Jene Ruine, die ab 2008 Platz machen musste. Platz für das Neue, das in Gestalt des Alten daherkam: das bis heute umstrittene Humboldt-Forum. 1976 wurde der Palast der Republik als "Haus des Volkes" und Sitz der Volkskammer eingeweiht, 1990 endete diese Phase ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als das dort beheimatete ostdeutsche Parlament erstmals aus einer vollwertigen demokratischen Wahl hervorgegangen war. Es folgten Asbestsanierung, künstlerische Zwischennutzungen und schließlich der Abriss. Der Phantomschmerz ist indes geblieben: Längst ist der Bau in seiner allgegenwärtigen Abwesenheit Identifikationsfigur eines Gefühls der Entwertung und der Beseitigung des Bewährten. Im Schauspiel wurden Palasterinnerungen vom Keller bis zum Dach des Humboldt-Forums getragen und die Aussage von Generalintendant Hartmut Dorgerloh, der Palast sei Teil der DNA des Humboldt-Forums, in einer inszenatorischen Raumaneignung sichtbar gemacht.

Die klaffende Wunde, die der Palast mit seinem Verschwinden hinterlassen hat, steht sinnbildlich für Verluste, die viele Menschen in Ostdeutschland zu einem trotzigen "Ostbewusstsein" führten. Auf Betriebsschließungen folgte Massenarbeitslosigkeit, die wiederum eine massenhafte Abwanderung in die Städte und gen Westen mit sich brachte – nach "Vielbesserland", wie man hoffte. Wandel war die dominante Erfahrung, in allen Lebensbereichen. Auch für die, die blieben, änderte sich alles. Vielleicht gingen manche Menschen daraus sogar mit einer Art Transformationsresilienz hervor? Man könnte den Titel der Theaterinszenierung entsprechend zu "Bau ab! Bau auf!" modifizieren. Sie schöpften Mut aus der Situation, begannen Neues und reüssierten in zahlreichen Fällen. Andere scheiterten und blicken heute mit Trauer und Wut auf die Jahre des Umbruchs. Wenn man unbedingt nach dem Verbindenden suchen möchte, könnte es ein Bündel von Eigenschaften sein, das Ostdeutschsein ausmacht: Krise als Chance betrachten, Ambiguitätstoleranz, Wandel gestalten, Unsicherheiten aushalten, Neuanfänge wagen, Adaptionsfähigkeit.

"Die Identität einer Person kann letztendlich nur aus deren Lebenslauf und den in der Lebensspanne aufgeschichteten Erfahrungen begriffen werden (…): Sie ist also kein statisches Konstrukt, sondern Ergebnis immer neuer Erfahrungs- und Verarbeitungsprozesse." Identitäten, so verstanden als sich verändernde Konstrukte, tragen dazu bei, sich selbst in der Welt zu verorten und handlungsfähig zu sein. Zugleich bilden sie sich "stets in einem Aushandlungsprozeß des Subjekts mit seiner gesellschaftlichen Umwelt" heraus. Bausteine, aus denen sich Identitäten zusammensetzen, wandeln sich und verändern ihren jeweiligen Stellenwert im Laufe eines Lebens oder im Verlauf gesellschaftlicher Umbrüche – und bilden zugleich die Grundmuster biografischer Erzählungen und Bezüge.

Neben den Erfahrungen, die während der Transformationszeit in ihrer langen Dauer gemacht wurden, sind es auch Identitätsmarker wie Arbeit, Kultur, (lokale) Geschichte, politische Einstellungen, aber auch wirtschaftliche Erfolge oder Sport, die ostdeutsche Identitäten (mit) prägen. Insgesamt hängt die Selbstbeschreibung als ostdeutsch stark vom Alter und den Erfahrungshorizonten im Kontext der Wiedervereinigung ab, aber auch vom Geschlecht, der Sozialisation, dem Mobilitätsverhalten oder der Herkunftsregion. Der Soziologe Steffen Mau versucht eine Minimaldefinition: "Ostdeutsche Identität bezieht sich auf den Osten als spezifischen Erfahrungs-, Sozial- und Kulturraum, der als subjektiv erlebter und gedeuteter kollektiver Zusammenhang zum Thema wird. Die Ostdeutschen sind durch Gemeinsamkeiten verbunden, die sie mit anderen – den Westdeutschen zum Beispiel – nicht teilen. Das muss nicht bedeuten, dass damit eine Selbstidentifikation oder ein Selbstkonzept als Ostdeutscher einhergeht (dass man sich also selbst aktiv zum Ostdeutschen macht), aber doch, dass es ein Merkmal gibt, das einen von anderen unterscheidet." Laut ARD-Deutschlandtrend sagten 2019 80 Prozent der Menschen in Westdeutschland, dass sie sich zuallererst als "Deutsche" sehen; nur 16 Prozent beschrieben sich primär als "Westdeutsche". Im Ostteil des Landes sah das anders aus: 59 Prozent der Befragten gaben an, sich als Deutsche zu fühlen, 36 Prozent fanden, "Ostdeutsche" sei die passendste Selbstverortung.

Ein Problem aller Identitätszuschreibungen ist die damit einhergehende "Vermassung": Die Ostdeutschen gibt es genauso wenig wie die Westdeutschen, die Bayern oder die Sachsen. Aber derartige gruppenbezogene Zuschreibungen, die oft in Stereotype münden ("Jammer-Ossi" und "Besser-Wessi" gehören sicher zu den trivialeren), machen es uns im Alltag oft so schön leicht, gerade im deutsch-deutschen Miteinander. Denn nicht zuletzt bedürfen Definitionen des Eigenen eines Anderen als Grenze, als Referenz und als Folie. Das Andere meint in diesem Fall natürlich "den Westen", obschon es ihn genauso wenig gibt wie "den Osten". Realer scheint da schon eine zugeschriebene oder tatsächliche Ignoranz "des Westens": Menschen in Stuttgart oder Mainz, in München oder Hamburg haben mit 1989 weitaus weniger Veränderungen durchlebt und Adaptionsleistungen vollbringen müssen als die Menschen auf dem Gebiet der vormaligen DDR. Für sie sind daher viele Diskurse und Verletzungen bis heute schwer nachvollziehbar. Zugleich, bei wenig Wandel im eigenen Umfeld, sahen sie vielfach keine Veranlassung, sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen und das andere Deutschland zu bereisen. So gaben 2019 17 Prozent der Westdeutschen an, noch nie im Osten gewesen zu sein. Auch wenn diese Zahl mittlerweile kleiner geworden sein dürfte: Der Eindruck des Desinteresses ist geblieben. Zum Vergleich: Nur zwei Prozent der Ostdeutschen waren bis 2019 noch nie im Westteil des Landes.

Ostdeutsch! Ostdeutsch?

Bei alledem steht immer auch die Frage im Raum, was und vor allem wen "ostdeutsch" eigentlich meint. Kann sich als ostdeutsch definieren, wer in der DDR oder in einem der sogenannten neuen Bundesländer geboren wurde? Oder ist auch ostdeutsch, wer lange (wie lange?) in Ostdeutschland gelebt hat? Kann man sich bewusst als Ostdeutsche oder Ostdeutscher verorten, ohne derartige biografische Bezüge zu haben? Und welche Rolle spielt die narrative Weitergabe zwischen den Generationen? Die Fragen zeigen: Ostdeutsch zu sein, ist eine Konstruktion und zugleich ein hoch emotional besetztes Themenfeld. Pointiert ausgedrückt kann man "bio-ostdeutsch" sein (qua Geburt), "geo-ostdeutsch" (qua Wohnort), "sozio-ostdeutsch" (qua Sozialisation) oder auch "emo-ostdeutsch" (qua emotionaler Selbstverortung).

Die Integrationsforscherin Naika Foroutan versucht darüber hinaus, Verknüpfungen zwischen migrantischen und ostdeutschen Erfahrungswelten herzustellen. Menschen mit eigenen oder familiären Migrationserfahrungen sind in den Debatten um ostdeutsche Identitäten bislang zu wenig gehört worden. Die Historikerin Maren Möhring regt sogar dazu an, "die Geschichte der Vereinigungsgesellschaft und insbesondere der frühen 1990er-Jahre auch als ‚deutsch-deutsche (…) Gewaltgeschichte‘ zu schreiben, als eine Geschichte rassistischer Übergriffe und damit als eine Geschichte massiver Angst und eingeschränkter Bewegungsfreiheit für Migrant:innen (oder Menschen, die als solche wahrgenommen wurden). Denn friedlich waren die revolutionären Umwälzungen 1989 und die darauffolgenden Jahre für sie nicht; viele erlebten diese Jahre als ‚Pogrom-Zeit, Gewalt-Zeit, Zeit der Brandanschläge und des Rassismus‘, kurzum: als ‚rassistischen Wendepunkt‘ nicht nur im eigenen Leben, sondern auch in der Geschichte Deutschlands. Die Vereinigung hat neue Inklusions-, aber eben auch massive Exklusionsprozesse in Gang gesetzt, die es in ihren Ausprägungen, Abfolgen und Verschränkungen historiografisch noch weit genauer zu beleuchten gilt." Projekte wie "Chemnitz Untold", "Einheit interkulturell" oder das Netzwerk "Neue Deutsche Organisationen" machen (post-)migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit und die auf sie folgenden Jahrzehnte sowie die spezifischen Erfahrungs- und Erinnerungswelten endlich sichtbar – aber sie sind kaum mehr als ein Anfang. Viele Geschichten sind noch immer unerzählt.

Die jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament haben die Ost-West-Debatten erneut befördert, denn es war wieder einmal so schön einfach, "den Osten" als "rechts" abzustempeln, weil die "Alternative für Deutschland" (AfD) fast flächendeckend auf rund 30 Prozent der Stimmen kam. Dabei wurde, gerade in den hitzigen Debatten auf "X" (vormals "Twitter"), selten bis nie erwähnt, dass die übergroße Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland keineswegs rechtspopulistisch, sondern liberal-demokratisch gewählt hat. Nichtsdestotrotz zeigen die Wahlergebnisse, dass in den ostdeutschen Bundesländern größere Teile der Bevölkerung andere Vorstellungen von der Zukunft Deutschlands und Europas haben als im Rest des Landes. Im September werden diese Vorstellungen auch die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg prägen. Zeit, sich daran zu erinnern, dass Ostdeutschland, aus der Außenperspektive gerne als "Dunkeldeutschland" verschrien, viel Helles vorzuweisen hat – und dass trotzige Abgrenzung kein guter Ratgeber bei Wahlentscheidungen ist.

Ein Indikator für die offenbar stetig steigende Relevanz der Befassung mit einem wie auch immer gearteten "Ostdeutschsein" und der Dichotomie zwischen West und Ost ist die kontinuierlich wachsende Zahl an Kinofilmen, Dokumentationen und Publikationen zum Thema – sei es im Genre des Sachbuchs oder in der Belletristik. Steffen Maus "Ungleich vereint" schlägt dabei einen anderen, objektiveren Ton an, als es 2023 der Germanistikprofessor Dirk Oschmann tat. Oschmann trat mit seinem Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" bittere Debatten zur Benachteiligung von Ostdeutschen und zum ost-west-deutschen Verhältnis los, die, oft von Wut geprägt, einen unguten und unversöhnlichen Verlauf nahmen. Das deutsch-deutsche Binnenverhältnis der Gegenwart beschrieb Oschmann mit drastischen Worten: "Auf der privaten Ebene mag die Differenz zwischen Westen und Osten nur noch selten relevant sein oder gar keine Rolle mehr spielen. Aber öffentlich und allgemein bewusstseinsgeschichtlich hat sich an der Spaltung nichts geändert, genauer noch: gar nichts. Dabei begreift sich der Westen als Norm und sieht den Osten als Abweichung, als Abnormalität, Abnormität. Der Osten erscheint als Geschwür am Körper des Westens, das ihm dauerhaft Schmerzen bereitet und das er nicht wieder loswird. Darum stört es den westdeutschen Wohlfühl- und Diskurskonsens in der Regel besonders, wenn das Geschwür sich regt, weil jemand aus dem ‚Osten‘ spricht." Mit Formulierungen wie diesen trägt Dirk Oschmann wenig zu Dialog und Begegnung bei. Anders Nicole Zepter in ihrem Buch "Wer lacht noch über Zonen-Gaby? Ein Vorschlag zur Versöhnung". Die Journalistin entschuldigt sich darin für ihre eigene westdeutsche Ignoranz gegenüber Ostdeutschen, ihrer Geschichte und ihren Geschichten. Sie lädt zugleich zur Begegnung auf Augenhöhe ein. Ein Buch, das Brücken baut und das in diesen Tagen mehr denn je gebraucht wird.

Ostdeutsches Selbstbewusstsein

Ein wichtiger Punkt in der Debatte um ostdeutsche Identitäten scheint das Thema der Anerkennung von Lebensleistungen zu sein. Entwertungserfahrungen in Hinblick auf Ausbildung, Wissensbestände und Berufswege waren Begleiterscheinung der Massenarbeitslosigkeit der 1990er Jahre. Die Negierung von Erfahrungen, Gegenständen, Architekturen und Alltäglichkeiten mit DDR-Bezug in der unmittelbaren Nachwendezeit ging jedoch vielfach von Ostdeutschen selbst aus: Die neuen Freiheiten, Warenwelten und Möglichkeiten schienen meist verlockender als das Altbekannte.

Sogenannte Ostprodukte wollte zum Beispiel zunächst niemand mehr haben. Der Nuss-Nougat-Creme "Nudossi" etwa begegnete man erst Jahre später wieder mit Begeisterung. Nachdem die Produktion in Dresden 1991 eingestellt worden war, gibt es "Nudossi" erst seit 2005 wieder, jetzt hergestellt in Radebeul. Auch andere DDR-Produkte, wie die (fast) unzerbrechlichen "Superfest"-Gläser aus der Westlausitz, die zwischen 1980 und 1990 im VEB Sachsenglas Schwepnitz hergestellt wurden, erfreuen sich erst seit einigen Jahren wieder größerer Beliebtheit. Ihre Produktion wurde nicht wieder aufgenommen, sie sind aber inzwischen zu so etwas wie Designikonen der Nachhaltigkeit geworden, für die auf einschlägigen Portalen hohe Preise gezahlt werden. Plattenbauten, um ein drittes alltagskulturelles Beispiel herauszugreifen, waren in der Zeit der DDR begehrte Wohnorte, standen nach dem Ende des Arbeiter- und Bauernstaates aber massenhaft leer. Sie wurden nur selten durch Rückbau in neue Architekturen überführt, wie etwa in Leinefelde-Worbis, Hohenmölsen oder in Wolfen-Nord, sondern oft wurden ganze Straßenzüge abgerissen, wie in Cottbus, Leipzig-Grünau oder Eisenhüttenstadt. Erst seit wenigen Jahren wächst neben dem Sinn für Nachhaltigkeit auch das Bewusstsein für den Denkmalwert ostmoderner Architektur und baubezogener Kunst der DDR. Mit dem Generationswechsel ging auch ein Perspektivwechsel einher.

Ein solcher Perspektivwechsel gelingt auch durch Projekte wie das seit 2022 in Bitterfeld-Wolfen stattfindende "OSTEN Festival" oder Initiativen wie das 2010 gegründete Netzwerk "3te Generation Ost", den 2013 ins Leben gerufenen Verein "Perspektive3" oder das 2022 entstandene Netzwerk "Keinheit". Diese Projekte beschreiten einen Weg, der wegführt vom trotzigen Ostdeutschsein, hin zu einem neuen ostdeutschen Selbstbewusstsein.

So lautet der Ansatz des Wolfener Festivals: "Es erforscht und feiert ‚den Osten‘ als Landschaft der Veränderungen für Mensch, Natur und Zusammenleben." Die "3te Generation Ost", deren Akteurinnen und Akteure zwischen 1975 und 1985 geboren wurden, beschreibt sich wie folgt: "Wir hinterfragen Selbstverständlichkeiten unserer Sozialisation und Herkunft, thematisieren Kompetenzen und Umbruchserfahrungen sowie deren gesellschaftliches Potenzial. Auch generationsübergreifend und interdisziplinär. Mit dem Einbringen dieser Stärken und unserer Werte gestalten wir gemeinsam den Wandel hin zu einer gerechten und lebenswerten Zukunft." Die Initiative "Keinheit" wiederum erkundet das Ostdeutschsein der zwischen 1997 und 2012 Geborenen: "Obwohl die Generation Z (…) nur ein vereintes Deutschland kennt, ist sie weiterhin geprägt von den Umwälzungen vor über 30 Jahren. Die Lebensbiografien junger ostdeutscher Menschen sind bis heute von strukturellen Unterschieden zwischen Ost und West sowie faktischen Differenzen gesellschaftlicher Anerkennung und Repräsentation geprägt. In Begegnungen mit Gleichaltrigen aus den alten Bundesländern treffen oftmals unterschiedliche Lebensrealitäten aufeinander. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen – ostdeutschen – Identität beginnt." Ein ost-west-deutsches, gemeinsames Projekt ist hingegen der Verein "Perspektive³": "Wir beschäftigen uns mit den Sichtweisen der so genannten Dritten Generation Ostdeutschland auf vergangene, gegenwärtige und zukünftige gesellschaftliche Fragen. Dazu nehmen wir Bilder, Erfahrungen und Wissen von und über diese Generation in der gesamtdeutschen Gesellschaft in den Blick. Perspektive3 möchte diese Diskussionen mit und um Menschen der Dritten Generation Ostdeutschland öffentlich sichtbar machen und sie vertiefen."

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass auch jüngere Menschen, die die DDR kaum mehr oder gar nicht aus eigenem Erleben kennen, das Bedürfnis haben, über Ostdeutschland zu sprechen. Mit derartigen identitätsbezogenen – oder besser: identitätsstiftenden – Aneignungsprozessen der jüngeren Generationen rücken neue Fragestellungen in den Fokus. Dabei werden auch die fortbestehenden Missstände und Ungleichheiten thematisiert, jedoch ohne eigene Verletztheit oder Wut.

Von der Ostidentität zum "Ostbewusstsein"

Auch auf längere Sicht ist ein Ende der Befassung Ostdeutscher mit ihrem Ostdeutschsein, mit ihren ostdeutschen Identitäten nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Menschen wie der Rapper Hendrik Bolz, 1988 in Leipzig geboren, betonen den weiterhin großen, ja wachsenden Bedarf an Austausch zum Thema "Ostdeutschsein": "Mittlerweile war auch in der Breite klar geworden, dass im Osten Verstimmtheiten bestehen, die sich nicht lösen lassen, indem man nur immer wieder feststellt, dass es mit dem Thema doch jetzt mal gut sei. Mittlerweile war mir klar geworden, dass es einen riesigen Diskursstau gibt und man, um gemeinsam vorwärtszukommen, endlich miteinander ins Gespräch kommen muss. Und dass man dafür die eigenen Geschichten erzählen muss."

Objektive Benachteiligungen und Ungleichheiten müssen angegangen werden, doch vor allem die kulturellen Unterschiede werden noch eine Zeitlang bleiben, und sie sind wichtig. In den Worten Steffen Maus: "Der Osten wird nicht nur durch gewisse westdeutsche Medien ‚verandert‘, er ist auch anders." Mit dieser Erkenntnis kann aus Trotz Stolz werden. Darüber hinaus lohnt es sich, endlich auch andere Grenzziehungen in den Blick zu nehmen, etwa die zwischen Nord und Süd oder zwischen Stadt und Land. Mit einer solchen Erweiterung des Blickfeldes, einer Akzeptanz unterschiedlicher Erfahrungsschätze, einer Neugier auf Begegnung und mit dem Wissen um das, was uns an Aufgaben im deutsch-deutschen Miteinander noch bevorsteht, lässt sich produktiv umgehen mit fragmentierten und nicht selten sperrigen, oft widersprüchlichen ostdeutschen Identitäten.

Begrifflich sollten wir einen Schritt zurücktreten. Denn auch wenn der Erfahrungsrahmen – zumindest in bestimmten Alterskohorten – ähnlich sein mag: Eine kollektive ostdeutsche Identität ist daraus nicht hervorgegangen. "Ostdeutschsein" ist nur eine Identitätsverortung neben anderen, ganz im Sinne der Theorie der "hybriden Identitäten". Der Plural "Identitäten" ist für eine heterogene Gruppe von Menschen mehr als angemessen: Die Ostdeutschen gibt es genauso wenig wie den Osten – und also auch nicht die eine, von allen Menschen in Ostdeutschland geteilte Identität. Vielleicht passt der Begriff "Ostbewusstsein" besser zur Selbstverortung – ein Ostbewusstsein, das sich im Lichte der Erlebnisse und Erfahrungen der vergangenen 35 Jahre beständig gewandelt hat und weiter wandeln wird.

Im besten Fall kann dieses Ostbewusstsein weniger trotzig sein, jedenfalls ab dem Punkt, an dem die DDR nicht mehr "trotzdem" als Heimat verhandelt werden muss, sondern Erfahrungshorizonte und Möglichkeitsräume der Menschen in Ostdeutschland sichtbar und Dialoge möglich werden – und ab dem wir uns im Zustand von "ungleich vereint" gleichwohl weitgehend wut- und vorurteilsfrei begegnen können. Ostdeutschsein wäre dann nicht mehr als negatives Attribut zu lesen, sondern – im Sinne von Empowerment – als positives Merkmal, dem viel Aufbruch innewohnt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach Jörg Ganzenmüller, Ostdeutsche Identitäten. Selbst- und Fremdbilder zwischen Transformationserfahrung und DDR-Vergangenheit, in: Deutschland Archiv, 24.4.2020, Externer Link: http://www.bpb.de/308016.

  2. Valerie Schönian, Ostbewusstsein. Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die Deutsche Einheit bedeutet, München 2020, S. 25.

  3. Johannes Nichelmann, Nachwendekinder. Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen, Berlin 2019.

  4. Schönian (Anm. 2).

  5. Vgl. z.B. Zum Stand der Deutschen Einheit. Bericht der Bundesregierung 2023, Berlin 2023, S. 22ff., Externer Link: http://www.publikationen-bundesregierung.de/-2226088.

  6. Siehe dazu auch Marcus Böick, Jammertal statt Wirtschaftswunder? Der ostdeutsche Wirtschaftsumbau und seine Folgen in sieben Schlaglichtern, in: Michael Hofmann (Hrsg.), Umbruchserfahrungen. Geschichten des deutschen Wandels von 1990 bis 2020, erzählt von ostdeutschen Sachverständigen, Münster 2020, S. 120–136.

  7. Liedtitel auf der Kinder-LP "Schlapps und Schlumbo" von Reinhard Lakomy und Monika Ehrhardt, Ostberlin 1986.

  8. Birgit Griese/Martina Schiebel, Vom Kollektiv, zum Individuum, zum Kollektiv …: Das soziale Erbe in zwei Generationen Vertriebener, in: Birgit Griese/Hedwig Rosa Griesehop/Martina Schiebel (Hrsg.), Perspektiven qualitativer Sozialforschung. Beiträge des 1. und 2. Bremer Workshops, Bremen 2004, S. 133–165, hier S. 136; zur Kritik am Identitätsbegriff sowie zu seiner Entwicklung siehe Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000.

  9. Heiner Keupp et al., Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 2006, S. 198.

  10. Verstanden als Nebeneinander von Veränderungsprozessen infolge der Friedlichen Revolution, die bis in die Gegenwart wirken und nicht etwa Ende der 1990er Jahre abgeschlossen waren. Siehe dazu auch Kerstin Brückweh/Clemens Villinger/Kathrin Zöller (Hrsg.), Die lange Geschichte der "Wende". Geschichtswissenschaft im Dialog, Berlin 2020.

  11. Steffen Mau, Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt, Berlin 2024, S. 72.

  12. Vgl. Infratest Dimap, ARD Deutschlandtrend, November 2019, Externer Link: http://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend-1863.pdf. Seit 2019 wurde nicht erneut nach Ost-West-Verortungen gefragt.

  13. Vgl. ebd.

  14. Vgl. Naika Foroutan/Mara Simon/Sabrina Zajak, Wer ist hier eigentlich ostdeutsch, und wenn ja, wie viele? Zur Konstruktion, Wirkungsmacht und Implikation von Ostidentitäten, Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, DeZIM Research Notes 15/2023, S. 5f.

  15. Vgl. z.B. Naika Foroutan/Jana Hensel, Die Gesellschaft der Anderen, Berlin 2020.

  16. Maren Möhring, Umkämpfte Zugehörigkeiten. Migrations- und Identitätspolitiken in der Vereinigungsgesellschaft, in: Marcus Böick/Constantin Goschler/Ralph Jessen (Hrsg.), Jahrbuch Deutsche Einheit 2023, Berlin 2023, S. 21–37, hier S. 23.

  17. Siehe Externer Link: http://chemnitz-untold.de; Externer Link: https://einheit-interkulturell.de; Externer Link: https://neuedeutsche.org; Dossier Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit, 12.3.2021, Externer Link: http://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/migrantische-perspektiven.

  18. Vgl. Mau (Anm. 11).

  19. Vgl. Dirk Oschmann, Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Berlin 2023.

  20. Ebd., S. 22f. (Hervorhebung im Original).

  21. Vgl. Nicole Zepter, Wer lacht noch über Zonen-Gaby? Ein Vorschlag zur Versöhnung, Stuttgart 2022.

  22. Hierzu bietet das Jahrbuch Deutsche Einheit 2023 einen umfassenden Überblick. Vgl. Böick/Goschler/Jessen (Anm. 16).

  23. Vgl. Externer Link: https://osten-festival.de; Externer Link: https://netzwerk.dritte-generation-ost.de/netzwerk; Externer Link: https://perspektive-hoch-drei.de; Externer Link: https://www.keinheit.de.

  24. Externer Link: https://osten-festival.de/festival/idee.

  25. Externer Link: https://netzwerk.dritte-generation-ost.de.

  26. Externer Link: https://www.keinheit.de.

  27. Externer Link: https://perspektive-hoch-drei.de/verein.

  28. Hendrik Bolz, Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften, Köln 2022, S. 15f.

  29. Mau (Anm. 11), S. 71.

  30. Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. Mitunter wird auch die Verwendung des Begriffs "Zugehörigkeiten" präferiert. Vgl. Böick/Goschler/Jessen (Anm. 16), S. 9–20.

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ist promovierte Kulturwissenschaftlerin und Soziologin und Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig, das zur Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gehört.