Die jüngsten Europawahlen demonstrierten nicht nur die flächendeckende Stärke der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) im Osten; sie haben zugleich die anhaltende Differenz, viele formulieren: die Kluft der gesellschaftspolitischen Landschaft zwischen Ost und West, unterstrichen. Bei der Erklärung dieser Differenz und der scheinbar verfestigten Entfremdung Ostdeutscher von den Institutionen und Eliten der bundesdeutschen Demokratie in der Größenordnung von 30 bis 50 Prozent der erwachsenen Wohnbevölkerung
Auch wenn Oschmann keineswegs der Erste ist, der diesen mutmaßlichen Zusammenhang thematisiert,
Ostdeutsche in den Eliten seit 1990
Unter "Eliten" in modernen Gesellschaften verstehen wir eine Gruppe von Menschen, die in jeweils bestimmten Sektoren (wie Wirtschaft, Politik oder Recht) aufgrund ihrer materiellen oder symbolischen Macht die wesentlichen Regeln setzt, Ressourcen verteilt und Entscheidungen mit (tendenziell) gesamtgesellschaftlicher Reichweite trifft. Grundsätzlich lassen sich vier Idealtypen der Elitenzirkulation, also der typischen Art des Aufstiegs und des Austausches von Personen auf elitären Positionen, unterscheiden: erstens Karriere- oder Ernennungseliten, bei denen die höchsten Positionen qua Kooptierung vergeben werden und oft formalisierte Laufbahnen existieren – zum Beispiel in der Verwaltung oder im Militär; zweitens Delegations- oder demokratische Wahleliten, bei denen Elitenangehörige von einem externen Kreis Berechtigter ausgewählt und vielfach auf Zeit in die Position entsandt werden, worunter klassischerweise aus Wahlen hervorgehende Mandatsträger wie Parteivorsitzende oder Führungspositionen in Parlamenten fallen; drittens marktgenerierte Besitzeliten wie Unternehmereigentümer von marktbeherrschenden Großunternehmen; sowie viertens informelle Reputationseliten, deren Karriere stark von den personengebundenen symbolischen Machtressourcen abhängig ist, wie etwa bei Intellektuellen oder Influencern.
Fragt man, welche Führungspositionen in den unterschiedlichen Sektoren zu den elitären gezählt werden,
Exkurs: Wer ist Ostdeutsche/r?
Wer über den Anteil Ostdeutscher in den Eliten sprechen will, muss vorher klären, wer im vorliegenden Zusammenhang als solche/r verstanden wird. Zu dieser keineswegs trivialen Frage hat sich eine von uns entwickelte Bestimmung weitgehend durchgesetzt, die unter Ostdeutschen all jene Menschen fasst, die entweder in der DDR oder nach 1990 in den fünf neuen Ländern (einschließlich Ostberlin) von ehemaligen DDR-Bürger/-innen geboren wurden und dort wesentlich, das heißt mindestens bis zum 14. Lebensjahr, aufgewachsen sind.
Wird diese Bestimmung der Ostdeutschen zugrunde gelegt, beträgt deren Anteil an der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung zwischen 17 und maximal 20 Prozent.
Die vorliegenden Forschungen zum Anteil Ostdeutscher in den sektoralen Eliten seit 1990 können in drei Befunden resümiert werden (Abbildung):
(1) Der Gesamtanteil Ostdeutscher in den Eliten betrug Mitte der 1990er Jahre 5 bis 7 Prozent,
(2) Mit Blick auf die unterschiedlichen Sektoren und deren Dynamiken fällt zweierlei auf: Zum einen unterscheiden sich die Anteile der Sektoren substanziell; sie reichen von 0 (Militär) bis über 20 Prozent in der Politik (eine frühe Messung 1995 identifizierte hier sogar über 30 Prozent). Niveaus und Verläufe der ostdeutschen Anteile lassen sich dabei drei Clustern zuordnen: In Gruppe 1 (Politik, Zivilgesellschaft) finden sich Sektoren der demokratischen Wahleliten, in denen der Anteil schon früh relativ hoch war und auch heute noch hoch ist, das heißt über 10 und bis zu 20 Prozent. In Cluster 2 (Verwaltung, Wissenschaft, Medien) dominieren Aufstiegsprozesse des Karriere- und Ernennungstyps. Die Werte der Sektoren variieren zwar erheblich, der übergreifende Trend eines leichten Anstiegs mündete zuletzt in Anteile zwischen 5 und 10 Prozent – in der Verwaltung auch darüber. Cluster 3 wird von den klassischen Laufbahnsektoren der Judikative (höchste Richter) sowie des Militärs (Generalität) gebildet; dazu gehört auch die Managerelite als wichtige Teilgruppe im Wirtschaftssektor. Hier verharren die Werte bis heute auf niedrigstem Niveau zwischen annähernd 0 und unter 5 Prozent.
Zum anderen soll noch einmal der Sektor der politischen Repräsentationseliten – Regierung, Parlament und Parteien – hervorgehoben werden, weil es hier schon seit Mitte der 1990er Jahre eine weitgehend angemessene Repräsentation Ostdeutscher gab. Unter den im Sektor der Verwaltung beschäftigten elitären Führungskräften (Staatssekretär/-innen, Abteilungsleiter/-innen) waren 2023 bei den obersten Bundesbehörden (von Ministerien und Bundesämtern bis zum Bundespräsidialamt) 5 Prozent Ostdeutsche, unter Erweiterung auf alle elitären Verwaltungspositionen (auch der Länder) betrug der Anteil Ostdeutscher 2022 sogar 14 Prozent.
(3) Schaut man auf Ostdeutschland selbst, so beträgt der Anteil Ostdeutscher an den regionalen (Sub-)Eliten in den neuen Ländern heute (2022) etwa 25 Prozent, bei einem Bevölkerungsanteil von rund 80 Prozent. Selbst in der eigenen Region sind damit die Ostdeutschen in den Eliten und hohen Führungspositionen deutlich mindervertreten. Dabei zeigt sich ein mit der Bundesebene vergleichbares Verteilungsmuster: eine geringere Unterrepräsentation in der Politik, eine drastische in der Judikative.
Ursachen der ostdeutschen Unterrepräsentation
Die deskriptive oder personelle Unterrepräsentation von bestimmten Bevölkerungsgruppen (wie ethnischen Minderheiten, Frauen, Menschen mit Behinderung) in Eliten moderner Massengesellschaften ist ein komplex verursachtes Phänomen. Für den Fall der Ostdeutschen beschränken wir uns auf vier im vorliegenden Zusammenhang besonders relevante Faktorenbündel:
(1) Die staatssozialistische Herrschaft und der beitrittsfundierte Vereinigungsprozess repräsentieren langzeitig wirkende Gründe. Der Staatssozialismus trieb nicht nur große Teile der bürgerlichen Ober- und Führungsschichten bis 1961 aus dem Land, sondern bekämpfte konsequent jede Ausformung elitärer Praktiken – außerhalb der Politbürokratie und ihres Apparates. Das hatte sozialstrukturelle und kulturelle Folgen. Die Vereinigung auf dem Wege des "Beitritts" nach Artikel 23 des alten Grundgesetzes bedeutete die Übernahme der Legalinstitutionen und organisierten Akteure (Parteien, Verbände, Behörden) der alten Bundesrepublik. Für deren Führungspersonal kamen Ostdeutsche zunächst nur selten infrage. Sie verfügten weder über das notwendige Fachwissen und die formalen Qualifikationen noch über adäquate Berufs- und Laufbahnerfahrungen, um zum Beispiel Bundesverfassungsrichter/-in oder Vorstandsvorsitzende/r eines Wirtschaftskonzerns zu werden. Daher war der massive Elitentransfer in den 1990er Jahren mit dem Modus des Beitritts gesetzt. Er wurde zusätzlich durch eine machtkonservierende Grundorientierung weiter Teile der westdeutschen Eliten getragen: Gerade in den Kernbereichen der Herrschaftsordnung – Exekutive, Judikative, Wirtschaft, Massenmedien – bestand in den 1990er Jahren kaum Interesse an einer breiten Teilung der Macht mit Ostdeutschen. Angesichts des damaligen Überschusses fachlich geeigneter und vertrauenswürdiger westdeutscher Kandidat/-innen selbst noch für regionale ostdeutsche Führungspositionen (von Polizeipräsident/-innen über Universitätsrektor/-innen bis hin zu Intendant/-innen der Rundfunkanstalten) war diese Orientierung jenseits des politischen Sektors auch umsetzbar.
(2) Ein weiterer Grund liegt in den Logiken der Reproduktion elitärer Macht. Diese organisiert sich in hohem Maße – und zwar insbesondere bei den Ernennungs- oder Karriereeliten – über wechselseitiges Anerkennen sowie Vertrauensbeziehungen, die wiederum wesentlich auf sozialstrukturell, sozialisatorisch und biografisch bedingter Ähnlichkeit der Interessen, Ideen und Leidenschaften fußen, kurz: auf einem kollektiv geteilten und oligopolen sozialen Kapital. Dabei ist die Verfügung über soziales Kapital nicht nur in der Einstiegs-, sondern auch in der finalen Karrierephase hoch relevant. Von uns im Rahmen der Forschungsprojekte interviewte Elitenangehörige berichteten nahezu ausnahmslos von einem Modus des Geholt- und Gefragtwerdens. Man bewerbe sich nicht mehr um solche Positionen, sondern werde von Vorgesetzten und Delegierenden angesprochen oder auch deutlich zur Bewerbung aufgefordert. Diese Adressierung setzt jedoch voraus, dass potenzielle Kandidat/-innen den Auswählenden über längere Zeiträume bekannt sind und sich in deren Augen bewähren und auszeichnen konnten.
(3) Nach 1990 fand eine sozialstrukturelle Überschichtung der ostdeutschen Gesellschaft durch Westdeutsche statt. Die sozialen Oberschichten in der Bundesrepublik stammen bis heute fast ausschließlich aus Westdeutschland. Da sich Eliten – abgesehen von den Sektoren der Politik, der Zivilgesellschaft und der Kirchen – überproportional aus Familien der oberen Mittel- und Oberschicht rekrutieren, besitzen Ostdeutsche systematisch geringere Chancen, in die Eliten aufzusteigen. Das liegt nicht nur am geringeren ökonomischen Kapital (mit Blick auf die Wirtschaftseliten und generell auf die Bildungsförderung) sowie am Mangel sozialen Kapitals, sondern auch an Nachteilen im kulturellen Kapitalbesitz. Dieses Kapital – im Sinne passender Bildungsabschlüsse oder auch der Beherrschung elitärer kultureller Praktiken – stellt eine weitere zentrale Aufstiegsressource dar.
Dabei unterscheiden sich bis heute die typischen Bildungs- und Berufsprofile (potenzieller) ostdeutscher Elitenangehöriger von typisch westdeutschen. Ostdeutsche sind durchschnittlich etwas weniger akademisch gebildet und weisen stärker technisch orientierte Bildungs- und Berufsprofile auf. Ihre westdeutschen Pendants besitzen demgegenüber mehr rechts- sowie wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Abschlüsse und sind in ihrer Karriere eher in Berufen mit Managementaufgaben, personenbezogenen Dienstleistungen und Politiknähe tätig. Diese Differenz verdankt sich sowohl dem DDR-Erbe als auch den Umbrüchen nach 1989/90, wobei auch die geringeren finanziellen Ressourcen Ostdeutscher eine Rolle spielen, die wegen einer vermeintlich größeren Erwerbssicherheit zur Präferierung technischer Bildungs- und Berufskarrieren beitrugen.
(4) Schließlich ist auf Mechanismen kultureller Fremd- und Selbstmarginalisierung hinzuweisen. Die soziokulturelle Fremdmarginalisierung verdankte sich sowohl der untergegangenen DDR mit ihrer arbeiterlichen Sozialstruktur und Kultur als auch der sozialen Abwertung Ostdeutscher nach 1990. Ostdeutschen haftete als sozialer Gruppe ein Verlierer-Stigma an, das die Zuschreibung eines Sieger-Prestiges und die Formierung eines elitären Habitus behinderte. Diese Konstellation wird ergänzt durch Formen kultureller Selbstmarginalisierung. Der radikale ostdeutsche Umbruch zwischen 1989 und 1991 verursachte massive soziale Verunsicherungen und Zukunftsängste, auch in den für die Elitenrekrutierung so zentralen bildungsaffinen sozialen Milieus, sodass risikoreiche Bildungs- und Aufstiegspfade – auch für die eigenen Kinder – gemieden und stattdessen familienorientierte Lebensführungen und sichere Erwerbsbiografien präferiert wurden. Zugleich hat der jahrelang geringe Anteil ostdeutscher Elitenangehöriger die Möglichkeiten Jugendlicher, sich an ostdeutschen role models zu orientieren, zusätzlich reduziert.
Entfremdung und Radikalismus als Folge?
Über die Folgen der Unterrepräsentation Ostdeutscher wird seit etwa zehn Jahren intensiver geforscht und gestritten. Dabei beansprucht – neben Fragen demokratischer Normverletzungen und möglicher Defizite in der ostdeutschen Ideen- und Interessenvermittlung – das Verhältnis von personeller Unterrepräsentation in den Eliten und schwindender Legitimität der politischen Ordnung heute die größte Aufmerksamkeit. Das reicht – wie auch Oschmanns Thesen belegen – bis hin zur Frage nach dem Zusammenhang von Unterrepräsentation und dem Aufstieg und Erfolg populistischer und rechtsradikaler Bewegungen und Parteien in Ostdeutschland.
Was sagen diesbezüglich unsere bisherigen Forschungsergebnisse? In einer repräsentativen Umfrage von 2019 nahmen 64 Prozent der ostdeutschen Befragten eine Unterrepräsentation ihrer Bevölkerungsgruppe in den Eliten der Bundesrepublik wahr, während über 20 Prozent eine angemessene Repräsentation oder sogar eine Überrepräsentation erkannten. Dabei variierten die Werte aller Befragten für die angenommene (Unter-)Repräsentation in wichtigen Sektoren kaum: Zwischen Politik (16 Prozent), Wirtschaft (13 Prozent) und Verwaltung (12 Prozent) lagen nur wenige Prozentpunkte, wobei zwar das Gesamtniveau (knapp 13 Prozent) realistisch eingeschätzt wurde, die sektoralen Differenzen offenkundig aber kaum. In der Bewertung der Unterrepräsentation sahen fast 75 Prozent aller Befragten ein Problem für die Vertretung ostdeutscher Interessen und zwischen 61 und 65 Prozent Probleme für die Anerkennung Ostdeutscher, ihrer Wahrnehmung einer gerechten Ordnung und für das Verwerten ostdeutscher Erfahrungen.
Die statistische Analyse eines möglichen Zusammenhangs von wahrgenommener Unterrepräsentation durch die Ostdeutschen einerseits und politischer Unterstützung des demokratischen Systems in der Bundesrepublik andererseits erbrachte allerdings keine wirklich belastbaren Ergebnisse. Ein signifikanter Zusammenhang bestand nur zwischen einer geringen politischen Unterstützung und der Einschätzung der Unterrepräsentation als ernsthaftes Problem von Legitimität und kollektiver Zurücksetzung Ostdeutscher.
Unter Einbezug weiterer Studien ließe sich daher formulieren, dass eine Mehrheit der Ostdeutschen die Unterrepräsentation der eigenen Bevölkerungsgruppe in den Eliten zwar grundsätzlich, aber eher undifferenziert wahrnimmt und sie überwiegend kritisch beurteilt. Eine substanzielle Wirkung dieser Unterrepräsentation auf die Grundorientierungen und Einstellungen gegenüber dem politischen System und seinen Verantwortungsträgern ist aber bisher nicht erkennbar.
Für diese These eines bestenfalls losen Wirkungszusammenhangs sprechen nicht nur die skizzierten Umfragedaten unseres Projekts. Auch der Umstand, dass die Unterrepräsentation in den vergangenen zehn Jahren signifikant reduziert wurde, demgegenüber aber Distanz und Entfremdung großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung deutlich zunahmen, plausibilisiert, dass es hier keine monokausale Wirkungsbeziehung gibt.
Wichtiger erscheinen insofern kulturell und (partei-)politisch vermittelte Muster der Wahrnehmung und der Urteilsbildung gegenüber der Unterrepräsentation – und zwar weitgehend unabhängig von den faktischen Verhältnissen. Hier wird erkennbar, dass von rechts-, teils aber auch von linkspopulistischen Funktionären und Ideologen – wie es sich ähnlich bei Oschmann findet – gerade die Unterrepräsentation im engeren politisch-administrativen Feld wütend angeprangert wird, obwohl es sie kaum gibt, wohingegen die weitaus dramatischeren Verhältnisse zum Beispiel in der Wirtschaft, beim Militär oder in der Judikative wenig oder gar nicht problematisiert werden. Zum anderen erfahren herausgehobene Elitenangehörige spannende "Re-Ethnifizierungen" entlang (partei-)politischer Inklusions- beziehungsweise Exklusionsbedürfnisse. Während etwa die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel durch rechtspopulistische Protestmilieus "verwestdeutscht" wurde, fand gegenüber Galionsfiguren der AfD wie Alexander Gauland oder Björn Höcke eine stille ostdeutsche Eingemeindung statt. Auf diese Weise kann die AfD gegen die "westdeutsche Elite" – gemeint ist fast immer: die politische Elite – wettern, vermeintlich ostdeutsche Interessen und Ideen gegen diese in Stellung bringen und für eine "Wende 2.0" werben, ohne den großen Anteil eigener Führungskräfte mit westdeutscher Herkunft auch nur zu thematisieren.
Wir sehen daher einerseits eher eine kognitive und normative Anschlussfähigkeit der öffentlichen Unterrepräsentationsdebatte an die (rechts-)populistische Einschätzung einer allgemeinen Schlechterstellung und Abwertung der Ostdeutschen im Verhältnis zu Westdeutschen. Andererseits wird sie mit der konsolidierten Überzeugung verwoben, dass die bundesdeutsche Demokratie vor allem deswegen nicht funktioniert, weil die "fernen Eliten" in Berlin (und Brüssel) weder wissen noch umsetzen (wollen), was im Interesse der Mehrheit der (ost-)deutschen Bevölkerung ist. Diese Ferne der "westdeutsch" etikettierten Eliten wird dem verbreiteten Narrativ der ostdeutschen Entmächtigung mit und nach der Vereinigung (und daher: der Entschuldung eigenen Handelns) ebenso gerecht wie der parallelen Überweisung der Verantwortung für Transformation und Vereinigungsfolgen an die "westdeutsch" kodierte politisch-administrative Klasse. Mehr noch, die gegenwärtige "Krise" zwischen Migration, Krieg, Wirtschaftseinbruch und "linker Gesellschaftspolitik" erscheint als weitere, gesteigerte, ja vollendete Distanzierung der westdeutschen Eliten vom (ost-)deutschen "Volk".
Die Entfaltung dieses durch eine beachtliche Bevölkerungsgruppe in Ostdeutschland getragenen Narrativs wird durch die staatssozialistischen Sedimente ihrer politischen Kultur sowie durch die Erfahrungsaufschichtung in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten plausibel und rekonstruierbar.
Wie weiter?
Was folgt nun daraus für die zukünftige Debatte? Drei verdichtete Folgerungen und Vorschläge sollen die Diskussion anregen.
Erstens: Ostdeutsche haben gerade in den ersten Jahren des Vereinigungsprozesses eine deutliche Marginalisierung in der Elitenrekrutierung erfahren. Tatsächliche Exklusion fand aber nur in kleineren Sektoren (wie den obersten Gerichten oder der Militärführung) statt. Diese Geschichte und Gegenwart braucht weiter Aufklärung. Das schließt ausdrücklich die Kritik an Strategien westdeutscher, aber auch ostdeutscher "Entschuldung" gegenüber der personellen Unterrepräsentation Ostdeutscher ein. Einiges war unvermeidlich, vieles aber war und ist anhaltend politisch alternativ gestaltbar. Ein schnelles Auswachsen jeder ostdeutschen Mindervertretung wird es aber nicht geben. Insofern braucht es weiter politische Aufmerksamkeit und Unterstützung – auch für andere Minderheiten, die, wie etwa Menschen mit Migrationshintergrund, teils deutlich stärker unterrepräsentiert sind.
Zweitens: Wir benötigen ein Verständnis für die komplexe Verursachung des ostdeutschen Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus. Die Reduktion auf einzelne Faktoren wie das Erbe der DDR, ökonomische Ausbeutung und Deprivation, Unterrepräsentation in den Eliten oder soziale Missachtung durch Westdeutsche bleibt defizitär. Nur wenn die Komplexität anerkannt und analytisch eingeholt wird, kann es auch angemessene gesellschaftspolitische Antworten und Gegenpolitiken geben.
Drittens: Misstrauen gegenüber und sogar Ablehnung von demokratischen Institutionen, harsche Elitenkritik und Rechtspopulismus sind offenkundig nicht nur ein ostdeutsches Phänomen. Wir haben es vielmehr mit Symptomen und Folgen weltgesellschaftlicher Transformationen zu tun, die weit über das Thema der deutschen Vereinigung hinausreichen. Wenn sich die Subjekte der demokratischen Gegenwartsgesellschaften, darunter die Eliten, mit diesen Transformationsherausforderungen – auch hinsichtlich der demokratischen Institutionen selbst – nicht angemessen auseinandersetzen und Umgestaltungsinitiativen ergreifen, könnte langfristig die demokratische Konstitution unseres politischen Gemeinwesens zur Disposition stehen.