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Ausgebremste Demokratisierung | Fokus Ostdeutschland | bpb.de

Fokus Ostdeutschland Editorial Vom "Wir" zum "Ich". Plädoyer für ein Ende pauschaler Ostdeutschland-Debatten Ausgebremste Demokratisierung Von der Exklusion zur Entfremdung? Realitäten und Folgen der Unterrepräsentation Ostdeutscher in den Eliten seit 1990 "Trotzdem Heimat". Ostdeutsche Identitäten zwischen Trotz und Aufbruch Was wäre, wenn …? Zur Verwundbarkeit der Demokratie in Thüringen Gefährliche Entpolitisierung. Warum Peripherisierung der extremen Rechten in die Hände spielt Weltoffenes Sachsen. Rechtspopulismus als Herausforderung für die Wirtschaft

Ausgebremste Demokratisierung

Steffen Mau

/ 15 Minuten zu lesen

Genau in dem Moment, als sich die Ostdeutschen als politische Subjekte erfanden und Foren der Aushandlung gesellschaftlicher Verhältnisse entstanden, setzte mit der Weichenstellung in Richtung Wiedervereinigung eine starke Entpolitisierung ein. Das wirkt bis heute nach.

Die DDR war ein gängelndes und kontrollierendes Regime, das nicht über die Grundausstattung demokratischer Gesellschaften verfügte und seinen Bürgern wesentliche Mitwirkungsmöglichkeiten vorenthielt. Daher konnte sich – wenig überraschend – auch kein gelebtes Repertoire der demokratischen Beteiligung ausbilden. Erst in der Phase seines Ablebens emanzipierten sich die Bürger vom bevormundenden Staat und forderten auf der Straße Meinungsfreiheit und Demokratisierung ein, was schließlich in die erste und letzte freie Wahl der Volkskammer am 18. März 1990 mündete. Schon diese Wahl stand unter starkem Einfluss der Bonner Parteizentralen, die wie im Zeitraffer enge Verbindungen zu Alt- und Neuparteien der DDR aufbauten und diese durch Wahlkampfhilfe massiv förderten. Der erdrutschartige Sieg der von Helmut Kohl unterstützten Allianz für Deutschland – ein Bündnis der Ost-CDU, der Deutschen Sozialen Union (DSU) und des Demokratischen Aufbruchs (DA) in der rechten Mitte des Parteienspektrums – stattete die letzte Regierung der DDR mit einem starken Mandat aus, um die Weichen in Richtung Wiedervereinigung zu stellen.

Allerdings haben die eklatanten ökonomischen und politischen Schwächen der dem Untergang geweihten DDR dazu geführt, dass ihre Repräsentanten als Sachverwalter der Interessen der ostdeutschen Bevölkerung nur wenig Einfluss auf die weitere Entwicklung nehmen konnten. Hatte die DDR-Gesellschaft eben noch "in großer Vielfalt, Kreativität und Unübersichtlichkeit [über] ihre zukünftige Demokratie" verhandelt und erfreuten sich basisdemokratische Vorstellungen großer Beliebtheit, kam dieser Aufbruch bald an ein abruptes Ende. Die Volkskammerwahl im März 1990 war dadurch weniger eine politische Willensbekundung in der DDR als vielmehr eine gegen die DDR.

Diese Willensbekundung zur schnellen Einheit führte jede weiter gehende, auf die Neugestaltung politischer Strukturen gerichtete Form der kollektiven Selbstregierung ad absurdum, weil die Entscheidungsspielräume der Akteure dramatisch schrumpften – wofür auch die massenhafte Abwanderung und die tiefe ökonomische Krise der DDR sorgten. Außerdem wurden entsprechende Versuche von den Imperativen des Wiedervereinigungssogs überlagert. Der Soziologe Claus Offe hat einmal sehr anschaulich von der "Selbstauslieferung der realsozialistischen Konkursmasse" gesprochen. In diesem Bild übernehmen die Bundesrepublik und ihr Spitzenpersonal die Rolle der Konkursverwalter, die Ostdeutschen sind die bedürftigen Empfänger von Hilfe und Zuwendung, die selbst nur noch begrenzte Entscheidungsmacht ausüben. Der Einigungsvertrag mag aus Sicht der Verhandlungsführer das Beste gewesen sein, was man in der damaligen Situation und unter dem Druck der zeitlichen Abläufe bewerkstelligen konnte. Dennoch entlässt einen eine solche Feststellung nicht aus der Verantwortung, die Effekte der Art und Weise der Wiedervereinigung für die spätere Entwicklung in Ostdeutschland zu reflektieren.

Man kann den Übergang von der friedlichen Revolution zur deutschen Einheit als ausgebremste Demokratisierung interpretieren: Genau in jenem Moment, als sich die Ostdeutschen als politische Subjekte erfanden, in dem Foren der Aushandlung gesellschaftlicher Verhältnisse entstanden und sich eine Sprache herausbildete, mit der Interessen sich ausdrücken sowie formieren ließen, setzte mit der Weichenstellung in Richtung Wiedervereinigung eine starke Entpolitisierung ein. Hier ergab sich eine Verriegelungssituation, die alternative Optionen von vornherein ausschloss. Weder mutete man der alten Bundesrepublik zu, über die eigenen Gewissheiten sowie Besitzstände Rechenschaft abzulegen und im Einigungsprozess ebenfalls zu einem neuen politischen Bewusstsein zu kommen, noch gab man den Ostdeutschen zu verstehen, es handele sich um mehr als einen Beitritt zum institutionellen sowie rechtlichen Regelwerk der BRD und auch ihre Vorstellungen über das Wie der neuen Gemeinschaft seien gefragt. Trotz des Aufbruchs der friedlichen Revolution und trotz der Schaffung demokratischer Strukturen im letzten Jahr der DDR blieben ostdeutsche Impulse zu einer gesamtdeutschen Weiterentwicklung der Demokratie letztlich äußerst begrenzt. Es mangelte damals sowohl am politischen Willen als auch an der sozialen Fantasie, sich den "Aufbau Ost" anders denn als einen "Nachbau West" vorzustellen.

Dementsprechend weitete sich die Bundesrepublik in der Fläche aus und inkorporierte die DDR, ohne größere Berücksichtigung der dort gewachsenen Strukturen und Mentalitäten. Manche sprechen recht drastisch von einer "Übernahme", angemessener ist vielleicht der Ausdruck eines "ready-made state", der in den Osten transferiert wurde. Beide Begriffe implizieren einen politischen Subjektverlust, da die Eigenleistungen der lokalen Akteure nur noch insoweit gefragt waren, als es darum ging, im Osten das im Westen bereits Vorhandene und Erprobte umzusetzen. Die Bundesrepublik – besser: die dortigen Parteien und das politisch-administrative System – bemühte sich, basisdemokratische Experimente oder neue (unkonventionelle) Formen der Partizipation wie etwa die Runden Tische zurückzudrängen. Sie galten schlichtweg als nicht kompatibel und dysfunktional, als störende Fremdkörper, um die es nicht weiter schade sei. Die Angst vor Eigen- oder Sonderstrukturen oder vor möglichen Rückwirkungen auf die Bundesrepublik-West war erheblich.

Zwischen Ohnmachtsgefühl und Autopilot

Die primäre ostdeutsche Erfahrung der damaligen Zeit bestand darin, dass die politisch Mächtigen, diskursiv Einflussreichen und ökonomisch Potenten plötzlich nicht mehr in Ostberlin, sondern im Westen der Republik saßen. Der Schwerpunkt der Einflussmacht verlagerte sich, was im Osten zu einem Gefühl der Verohnmächtigung führte, ja führen musste, das sich über die Zeit verfestigt hat. Die Art und Weise, wie alle Anläufe, den Einigungsvertrag in Teilen noch einmal aufzuschnüren oder gesamtdeutsche institutionelle Lernprozesse zu ermöglichen, abgeschmettert wurden, spricht hier Bände. Mit Abschluss des Einigungsvertrages vollzog sich der weitere Prozess im Autopilotmodus. Die einmal getroffenen Regelungen galten als sakrosankt – auch noch im Rückblick irritierend, wenn man bedenkt, wie stark die Politik heutzutage auf die Straße reagiert, etwa auf Forderungen nach einer Verschärfung der Migrationspolitik oder auf Proteste von Landwirten. Die Massenkundgebungen gegen die Treuhand, die 35000 Werftarbeiter, die im Februar 1991 auf den Rostocker Straßen demonstrierten, oder der wochenlange Hungerstreik der Kali-Kumpel in Bischofferode 1993 hatten jedenfalls keine vergleichbaren Wirkungen. Der Eindruck, überrollt oder übernommen zu werden und an Handlungsmacht einzubüßen, stellte sich bei vielen ein, interessanterweise auch bei jenen, die im Herbst 1989 nach den Jahren der Stagnation und Unmündigkeit euphorisch aufgesprungen und zu neuen Ufern aufgebrochen waren.

Bei manchen gipfelte dies im an den Westen gerichteten Vorwurf einer Kolonialisierung des Ostens, der bei näherem Hinsehen aber nicht weit trägt, weil die Ostdeutschen sich mit dem Schritt in die Wiedervereinigung freiwillig und sehenden Auges ihrer Entscheidungsautonomie beraubt und sich auch demografisch zu einer Minderheit in einem größeren Ganzen mit eigenen Spielregeln, anderen handelnden Personen und "fremden" institutionellen Arrangements gemacht hatten. Man kann dies als Form der Selbstentmachtung in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Selbstermächtigung im Herbst 1989 interpretieren, mit weitreichenden und damals noch nicht vollständig absehbaren Folgen für das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen sowie für Erfahrungen politischer Selbstwirksamkeit.

Häufig wird für die Zeit nach 1989 der Vergleich mit der Neubegründung der Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945 gezogen, mit der von den Amerikanern "geschenkten" liberalen Ordnung, die sich bis heute als erfolgreich und stabil erweist. Man vergisst dabei oft, dass sich die DDR-Gesellschaft vom Herbst 1989 bis zur Wiedervereinigung ein Jahr später im Inneren bereits demokratisiert hatte, ehe sie das Politikmodell der Bundesrepublik übernahm. Noch entscheidender aber ist: Die Demokratisierung der BRD wurde ab den frühen 1950er Jahren von einem unerwarteten und rapiden ökonomischen Aufschwung begleitet – dem sogenannten Wirtschaftswunder –, welcher die Menschen gewissermaßen in die Demokratie "hineinkaufte". Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR erweiterten sich zwar die Konsummöglichkeiten, gleichzeitig machten jedoch große Teile der Bevölkerung die Erfahrung von Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung und beruflicher Deklassierung. So sind diese zwei politischen Wege in die Demokratie bei näherem Hinsehen mit zwei ungleichen wirtschaftlichen Flugbahnen verknüpft. Wir wissen nicht, ob die Demokratisierung auch in der alten Bundesrepublik einen so erfolgreichen Verlauf genommen hätte, wäre sie nicht durch eine sehr positive wirtschaftliche Entwicklung flankiert und gestützt worden.

Die Aufwallung patriotischer Gefühle im Zuge der Wiedervereinigung kann in gewisser Hinsicht als Ersatzlegitimierung angesehen werden. Es kam, wie ich an anderer Stelle geschrieben habe, zu einer "Unternutzung des demokratischen Potenzials der friedlichen Protestbewegung" und zu einer "Übernutzung des nationalen Potenzials politischer Mobilisierung". Viel zu wenig haben die Verantwortlichen damals daran gedacht, dass man den Einsatz und die Selbstwirksamkeitserfahrungen der Ostdeutschen selbst braucht, um die Demokratie mit Leben zu füllen. Die Beweggründe dafür sind auch aus heutiger Sicht noch teilweise nachvollziehbar: Einerseits traute das politische Establishment des Westens den Akteuren vor Ort oft nicht den notwendigen Veränderungswillen zu und sah starke Beharrungskräfte am Werk, etwa in Form alter Seilschaften. Andererseits galt es, die Institutionen und Organisationen – Hochschulen, das Justizwesen und anderes mehr – auf bundesrepublikanische Standards zu trimmen.

Sozialstrukturell hingegen fand die angesprochene Überschichtung der ostdeutschen Gesellschaft durch westdeutsches Führungspersonal statt. Die Ostdeutschen waren Lernende und Anfänger in Sachen Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft, daher schien es angemessen, wichtige Stellen (Verwaltungsleiter, Gerichtspräsidenten, Universitätsrektoren, Manager, Filialleiter) mit Transfereliten zu füllen, die das Ruder übernehmen konnten. In der Summe bezogen mehrere zehntausend (vorwiegend männliche) Personen herausgehobene Positionen im Osten. Damit waren diese Westdeutschen die zentralen Akteure des Wandels, und alle Folgeprobleme konnten ihnen überantwortet werden. Jürgen Habermas hat zu Recht angemerkt, dass den Ostdeutschen so die Möglichkeit entzogen wurde, "eigene Fehler zu machen und aus diesen Fehlern zu lernen". Denn ohne sozialkognitive Lernprozesse, ohne eine Aneignung struktureller Veränderungen bleibt eine große innere Distanz. Letztlich ist es unabdingbar, bei Transformationen auch einen "sense of ownership" zu ermöglichen, indem Menschen an Veränderungsprojekten beteiligt werden.

Die oft gestellte Frage, ob die Ostdeutschen die Führungspositionen überhaupt hätten ausfüllen können, dürfte sich mit einem Blick auf andere postsozialistische Staaten in Ostmitteleuropa eigentlich erledigen. Dort waren es in der Regel sehr junge Nachrückeliten, die quasi über Nacht auf Spitzenposten gelangten und sich dort – learning by doing – recht schnell die Kompetenzen und das notwendige Know-how aneigneten. Sicher, das war nicht immer ein Spaziergang, aber es war eben nicht unmöglich, was man auch an den raren ostdeutschen Aufsteigern sehen kann, deren Erfolg sich sehr wahrscheinlich weniger überlegenen Fähigkeiten verdankt als schlicht dem Umstand, dass sich ihnen Chancen boten, die andere nicht hatten.

Die schon in der DDR gängige Elitenkritik übertrug sich in der Folge auf eine neue Führungsschicht, die Logik des "Die da oben, wir hier unten" blieb als wichtiges Deutungsmuster erhalten. Die Transformation Ostdeutschlands war so spätestens mit der Festlegung eines konkreten Wegs zum Beitritt von einer selbst- zu einer fremdbestimmten geworden – und das in dreifacher Hinsicht: Es kam zu einem Institutionentransfer, die westdeutschen Transfereliten besetzten in den neuen Bundesländern zentrale Positionen, und die Finanztransfers flossen von West nach Ost. Das drängte die sich gerade emanzipierenden und zu einem öffentlich wirksamen politischen Bewusstsein gekommenen Ostdeutschen in eine Rolle des Sich-Einfügens, Unterordnens und Lernens. Zugleich entstand daraus ein ungutes, fast vormundschaftliches Verhältnis, in dem die eine Seite sagte, wo es langzugehen hat, und die andere folgen musste. Eine solche Gemengelage birgt großes Unmutspotenzial. Wann immer sich Versprechen nicht erfüllen ("blühende Landschaften") oder Hoffnungen enttäuscht werden, lässt sich die Verantwortung leicht in eine Richtung schieben. Der Prozess erwies sich einerseits als sehr enttäuschungsanfällig, andererseits waren die "Verursacher" der Lage leicht auszumachen.

In gewisser Weise hat diese Asymmetrie die deutsch-deutschen Verhältnisse lange bestimmt (und sie wirkt bis heute fort). Ostdeutschland fehlte ein über den Herbst 1989 hinausweisendes emanzipatorisches Projekt mit eigenen Begriffen, Bewusstseinsformen und politischen Zielen. Die psychologischen Nachteile einer auf Nachahmung angelegten Transformation haben der Politikwissenschaftler Ivan Krastev und der Jurist Stephen Holmes in ihrem Buch "Das Licht, das erlosch" sehr gut erläutert. Wenn Menschen sich an von außen kommende Anforderungen anpassen müssen, geraten sie kollektiv unter Stress und fürchten, dass ihre Leistungen, Traditionen und Gewohnheiten unter die Räder kommen. Fragen von Anerkennung und sozialer Geltung werden im Verhältnis von Nachzuahmenden und Nachahmern prekär. Was einst als erstrebenswert galt, kann in ein notorisches Insuffizienzgefühl und Verbitterung umschlagen, wenn man sich fortwährend mit Umstellungsanforderungen konfrontiert sieht.

Parteienskepsis und Partizipationsbedürfnisse

Es gibt weitere Weichenstellungen, die bis heute fortwirken. Für die Demokratie spielen Parteien eine zentrale Rolle – auch wenn das Wort "Parteiendemokratie" oft abwertend verwendet wird, ist es sachlich angemessen. Parteien stellen nicht nur die Mandatsträger und das politische Personal, sie organisieren auch die demokratische Willensbildung. Technisch gesprochen, üben sie eine "Interessenaggregationsfunktion" aus: Sie bündeln die Forderungen ihrer Mitglieder und Wählerschaften und bringen sie in den parlamentarischen Prozess ein. Um diese Funktion zu erfüllen, müssen sie auf der lokalen Ebene gut verwurzelt sein; ohne aktive Ortsverbände wären sie reine Wahlplattformen und von der gesellschaftlichen Basis weitgehend entkoppelt. Doch genau das ist in Ostdeutschland häufig der Fall, die Bedeutung der Parteien für die lokale politische Kultur ist aus historischen Gründen überschaubar.

In der DDR gab es zwar Parteien, aber die Führungsrolle der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) war festgeschrieben. Die übrigen Parteien hatten lediglich die Funktion von Steigbügelhaltern, als Instanzen der Willensbildung kamen sie nicht in Betracht (in der Volkskammer waren übrigens nicht nur Parteien nach einem vorab festgelegten Schlüssel vertreten, sondern auch Repräsentanten von Massenorganisationen wie dem Kulturbund oder der Freien Deutschen Jugend, FDJ). Beim Aufbruch im Herbst 1989 – der demokratischen Urerfahrung der Ostdeutschen – spielten Parteien ebenfalls nur eine untergeordnete Rolle. Entscheidend sei vielmehr die "straßendemokratische Emanzipationserfahrung" gewesen, schreibt die Historikerin Christina Morina in ihrem Buch "Tausend Aufbrüche". Sprechchöre, Spaziergänge und Demonstrationen waren die Mittel, um den "Oberen" Zugeständnisse abzuringen. "Sich Gehör verschaffen" lautete die damals inflationär verwendete Formel. Bezeichnenderweise war seitens der zivilgesellschaftlichen Akteure des Reformherbstes immer wieder Kritik am "Parteienstaat" zu hören, der den souveränen Willen des Volkes zu stark beschränke. Man war skeptisch, wo es darum ging, die Macht an von Parteien ausgewählte und in allgemeinen Wahlen bestimmte Vertreter zu delegieren. Stattdessen dominierte der Wunsch, Dinge durch breite Bürgerbeteiligung, etwa über Volksentscheide, unmittelbar zu gestalten. In diese Richtung zielte auch die Präferenz für dialogorientierte Formate wie Runde Tische, an denen man unterschiedliche Standpunkte einbringen und öffentlich verhandeln konnte. Der letzte Verfassungsentwurf der DDR, der maßgeblich durch eine Arbeitsgruppe im Auftrag des Runden Tisches ausformuliert wurde, enthielt dementsprechend plebiszitäre Elemente, die deutlich über die im Grundgesetz vorgesehenen Möglichkeiten hinausgingen, dann aber nicht weiterverfolgt wurden.

Christina Morina weist auf einen weiteren interessanten Punkt hin, nämlich auf ein eigenes – allerdings weitgehend gedeckeltes – Partizipationsverständnis, das sich bereits in der DDR ausgebildet hatte. So gab es trotz aller Versuche, jede Kritik zu unterdrücken, ein reges Eingaben- und Beschwerdebriefwesen, das nicht so recht zum Bild einer völlig "widerspruchsfreien Gesellschaft" passt. Diese Bürgerpost an staatliche Stellen war nicht nur bittend und im Ton zurückgenommen, sondern durchaus fordernd. Konkrete Vorschläge zur Verbesserung des Sozialismus insgesamt sowie einzelner Aspekte des täglichen Lebens wurden ebenso vorgebracht wie an "Partei und Regierung" gerichtete Vorwürfe. So entwickelten sich begrenzte und stark auf die staatliche Administration und die Funktionsträger orientierte Formen der nichtinstitutionalisierten Willensbekundung. In diesen Briefen findet sich jedenfalls weitaus mehr Kritik, als man sie in der DDR auf politischen Veranstaltungen zu hören bekam, in den Zeitungen lesen konnte oder in der Schule äußern durfte.

In Ostdeutschland sind die Parteien nach 1989 mitgliedermäßig nie zu der Blüte aufgestiegen, die sie in der Nachkriegsbundesrepublik erlebten: Jenseits der PDS/Die Linke handelte es sich oft um elektorale Scheinriesen, als Mitgliedschaftsorganisationen waren und sind sie bis heute nicht wirklich bedeutsam. Die Schwäche der Parteien im Osten hat zwei Ursachen. Durch die Rolle der "Partei" (SED) und die vielfach erzwungene Mitgliedschaft in den Massenorganisationen war ein tiefes Misstrauen gegenüber verbandsförmiger Interessenorganisation entstanden. Und anders als in der alten Bundesrepublik gab es eben keine durch Volksparteien getragene Demokratisierung. Die nach 1989 vor allem auf Ausdehnung in der Fläche setzenden "Westparteien" waren zwar bei Wahlen erfolgreich, konnten aber keine breiteren gesellschaftlichen Trägerschichten an sich binden oder übernahmen einfach das, was ihnen zum Vorteil gereichte. Die DDR-"Blockflötenparteien" CDU, DBD (Demokratische Bauernpartei Deutschlands), NDPD (National-Demokratische Partei Deutschlands) und LDPD (Liberal-Demokratische Partei Deutschlands) vereinigten sich umstandslos mit bundesdeutschen Partnerorganisationen, erstere zwei mit der West-CDU, letztere mit der FDP. Eine Aufarbeitung der Parteiengeschichte – die NDPD war beispielsweise mit dem Ziel gegründet worden, ehemalige NSDAP-Mitglieder und Wehrmachtsoffiziere in den Sozialismus zu integrieren – blieb weitgehend aus, ihre Steigbügelhalterrolle in der DDR wurde verschämt versteckt. Bündnis 90 und Die Grünen bemühten sich zwar um ein Zusammengehen auf Augenhöhe, doch die Bürgerrechtspartei hatte keine Massenbasis und wurde letztendlich ebenfalls von der größeren Schwester aus dem Westen majorisiert, nur wenige Figuren aus der Übergangszeit erlangten größere Bedeutung. Bei der SPD war es ähnlich. Die PDS/Die Linke startete als starke Organisation, schrumpfte dann aber durch zahlreiche Austritte und die natürliche Mortalität eines überalterten Mitgliederstamms. Andere Parteien hatten mangels finanzieller Ressourcen und organisationaler Kapazitäten kaum Chancen, sich angesichts der Dominanz der westdeutschen Konkurrenz als ernsthafte Mitbewerber zu etablieren.

Hinzu trat in den 1990er Jahren ein eher präsidentieller Politikstil einzelner Ostdeutscher (wie Manfred Stolpe in Brandenburg), vor allem aber aus dem Westen gekommener reaktivierter Granden des Politikbetriebs wie Kurt Biedenkopf ("König Kurt") in Sachsen oder Bernhard Vogel in Thüringen. Sie gaben sich als überparteiliche Landesväter und verhinderten somit eine klare parteipolitische Profilbildung. Ihre Aufgabe sahen sie eher im Mitnehmen und in der Konsensstiftung, sodass viele notwendige Auseinandersetzungen unterblieben, etwa mit der Diktaturerfahrung oder mit dem erstarkenden Rechtsradikalismus, den wir heute unter dem Stichwort "Baseballschlägerjahre" diskutieren. Die rassistische und rechte Gewalt der Nachwendejahre wurde lange Zeit verharmlost und ist erst in den vergangenen Jahren Bestandteil der Erinnerungspolitik geworden. Unvergessen: Kurt Biedenkopf stellte "seinen" Sachsen noch im Jahr 2000 sogar eine Unbedenklichkeitsbescheinigung in Sachen Rechtsradikalismus aus und erklärte sie politisch für immun, obwohl die Einwurzelung rechter Netzwerke schon damals mehr als offensichtlich war.

Von erheblichem Gewicht für die Fernwirkung der damaligen Situation ist das Gelegenheitsfenster, das sich nach 1989 für rechtsextreme Akteure aufgetan hat. Man darf nicht vergessen: In der DDR gab es keine politische Öffentlichkeit, keine Zivilgesellschaft, die Sphäre zwischen den Bürgern und dem Staat war durch parteinahe Massenorganisationen oder die volkseigenen Betriebe besetzt. Diese intermediären Strukturen verschwanden buchstäblich über Nacht, zurück blieb eine Art Vakuum, das die aus dem Boden schießenden Initiativen und Graswurzelbewegungen der friedlichen Revolution nur unvollständig füllen konnten. Viele verschwanden nach kurzer Blüte rasch wieder. Anders als im Westen existierte kein dichter Kranz an zivilgesellschaftlichen Initiativen, pfadfinderischer Jugendarbeit oder Vereinen. Kirchen spielten in einem stark säkularisierten Umfeld nur eine untergeordnete Rolle, die Gewerkschaften haben erst in den vergangenen Jahren an Profil gewonnen, dünn besiedelt ist auch die Landkarte privater Stiftungen. Für Ostdeutschland lässt sich auch heute noch eine zivilgesellschaftliche Formschwäche konstatieren. Erwartungsgemäß fällt die sogenannte Engagementquote – also der Anteil derjenigen, die zum Beispiel in Sportvereinen, in der Bildungsarbeit oder im Umwelt- und Naturschutz aktiv sind – niedriger aus als in Westdeutschland. Vereine sind in Ostdeutschland häufig auf Freizeitaktivitäten und Geselligkeit ausgerichtet; sie treten seltener mit einem gesellschaftsgestaltenden Anspruch an, auch ihre durchschnittliche Ressourcenausstattung ist geringer.

Einwurzelung rechter Strukturen

In diesen damals relativ verwaisten Raum sind rechte politische Akteure sehr bewusst hineingegangen. Etliche von ihnen kamen aus dem Westen, weil sie im Osten mehr "Beinfreiheit" für ihre nationalistischen und völkischen Ziele und Botschaften hatten und weil sie außerdem an die nationalistischen und ausländerfeindlichen Stimmungen anknüpfen konnten, die es bereits in der DDR gegeben hatte und die in einer verunsicherten Gesellschaft nun verstärkt an die Oberfläche traten. Die Pulverisierung des alten ideologischen Überbaus, die dadurch hervorgerufene ideelle Orientierungslosigkeit und die im Einigungsprozess forcierte Aufwallung nationaler Gemeinschaftsgefühle taten ein Übriges, um den Boden für rechte Akteure und dann später die AfD zu bereiten. Kirchen, Gewerkschaften, Vereine und soziale Bewegungen waren zu schwach, um ihnen etwas entgegenzusetzen, sodass diese Strukturen und Netzwerke nunmehr auch zivilgesellschaftliche Funktionen übernommen haben. Personen mit völkischen und rechtsnationalen Überzeugungen sind selbst zu Funktionsträgern in Einrichtungen wie der Freiwilligen Feuerwehr oder der Handwerkskammer geworden; "Infiltration" ist eine bekannte Strategie der Unterwanderung durch rechtsextreme Kräfte. Sie drängen massiv in die Ehrenämter, sodass sich ein weit über Wahlerfolge hinausgehender Anhaftungseffekt ergeben hat; zuweilen hört man hinter vorgehaltener Hand sogar den unschönen, aber womöglich treffenden Begriff der "angebräunten Zivilgesellschaft". Man kann wohl von einer strukturellen Langfristigkeit dieser Einwurzelungen ausgehen und damit von einer Entwicklung, die sich nicht ohne Weiteres und schon gar nicht schnell wieder zurückdrehen lässt. Hier haben frühe Weichenstellungen zu nur schwer zu durchbrechenden Pfadabhängigkeiten geführt.

Der vorliegende Text ist eine leicht überarbeitete Fassung des zweiten Kapitels aus dem Buch „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“. © Suhrkamp Verlag AG, Berlin 2024

Fussnoten

Fußnoten

  1. Christina Morina, Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren, München 2023, S. 146.

  2. Claus Offe, Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten, Frankfurt/M. 1994, S. 47.

  3. Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019.

  4. Richard Rose/Christian Haerpfer, The Impact of a Ready-Made State. East Germans in Comparative Perspective, in: German Politics 1/1997, S. 100–121.

  5. Steffen Mau, Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin 2019, S. 149.

  6. Zit. nach Claudia Czingon/Aletta Diefenbach/Victor Kempf, Moralischer Universalismus in Zeiten politischer Regression. Jürgen Habermas im Gespräch über die Gegenwart und sein Lebenswerk, in: Leviathan 1/2020, S. 7–28, hier S. 15.

  7. Vgl. Vom Einheitsrausch zum AfD-Kater? Steffen Mau und Claus Offe im Gespräch mit Claudia Czingon über 30 Jahre deutsche Einheit, in: Leviathan 3/2020, S. 358–380, hier S. 360f.

  8. Vgl. Ivan Krastev/Stephen Holmes, Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung, Berlin 2019.

  9. Vgl. Morina (Anm. 1), S. 299.

  10. Vgl. ebd., S. 146ff.

  11. Vgl. Sighard Neckel, Die ostdeutsche Doxa der Demokratie. Eine lokale Fallstudie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 4/1995, S. 658–680, hier S. 672.

  12. Siehe den 2019 von Christian Bangel auf Twitter (heute X) initiierten Hashtag #baseballschlägerjahre.

  13. Vgl. Lydia Lierke/Massimo Perinelli, Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin 2020.

  14. Vgl. Holger Backhaus-Maul/Rudolf Speth, Bürgerschaftliches Engagement und zivilgesellschaftliche Organisationen in Deutschland, 16.11.2020, Externer Link: http://www.bpb.de/47178.

  15. Vgl. David Kuhn/Peter Schubert/Birthe Tahmaz, Vielfältig. Lokal. Vernetzt. Unternehmerisches und zivilgesellschaftliches Engagement in Ostdeutschland, Berlin 2024, S. 10.

ist Professor für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.