Ich bin Ostdeutschland-Debatten leid. Und das, obwohl mich das Thema eigentlich sehr interessiert – nicht nur, weil ich zur DDR-Erinnerungskultur forsche, sondern auch, weil ich selbst im Osten aufgewachsen bin, wenn auch nur die ersten zehn Jahre meines Lebens. Die aktuellen politischen Entwicklungen sind zweifelsohne beunruhigend, vor allem die wachsende Skepsis gegenüber der Demokratie und der hohe Zuspruch für populistische Parteien in großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung. Zugleich gibt es zahlreiche Menschen, die sich politisch engagieren, sich für eine vielfältige Gesellschaft einsetzen und dabei dringend öffentliche Unterstützung benötigen. In der Diskussion über "den Osten" spielen sie jedoch meist nur eine untergeordnete Rolle.
Die ständigen Debatten über Ostdeutschland haben inzwischen etwas Ermüdendes. Sie drehen sich im Kreis, weil sie wieder und wieder mit pauschalen Argumenten geführt werden. Anstatt die Vielfalt ostdeutscher Lebenswege zu betonen und widersprüchliche Erinnerungen an die DDR zuzulassen, gehen die Debatten meist von einer kollektiven Vorstellung aus, in der alle Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen zu einer homogenen Gruppe verschmelzen: den Ostdeutschen. Das gilt für klischeehafte Fremdzuschreibungen aus dem Westen, in denen die Menschen im Osten als "irgendwie anders" gelten, ohne dass man sich konkret für die Lebensrealität vor Ort interessieren würde. Das gilt aber genauso für die trotzig-stolzen Selbstbehauptungen vieler Ostdeutscher, die von sich selbst gern in der Mehrzahl sprechen ("Wir Ostdeutschen") und die Verantwortung für die politischen Probleme vor ihrer eigenen Haustür lieber bei anderen suchen: bei "denen da oben", "dem Westen" oder noch plumper: "den Migranten". Pauschale Vergemeinschaftungen der Ostdeutschen nützen niemandem. Im Gegenteil, sie sind Teil des Problems. Aus dem Dilemma der Pauschalisierung gibt es nur einen Ausweg: Meinungsdebatten über Ostdeutschland müssen konsequent aus einer individuellen und differenzierten Perspektive geführt werden, sonst werden sie auch in Zukunft keinen Schritt weiterführen.
Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich kann man in soziologischen Untersuchungen und statistischen Erhebungen Einstellungen erkennen, die im Osten weiter verbreitet sind als im Westen, wie zuletzt etwa an den Wahlergebnissen der Europawahl im Juni 2024 abzulesen war. Und es wäre naiv, die nach wie vor bestehenden sozialen und ökonomischen Ungleichheiten zwischen Ost und West zu leugnen. Auch gibt es gute Gründe dafür, warum sich bestimmte Unterschiede in näherer Zukunft kaum verringern werden.
Die Vorstellung von einem "einheitlichen Osten" oder von einer "ostdeutschen Identität" wird vollends diffus, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele jüngere Menschen im Osten aufgewachsen sind, deren Eltern aus dem Osten und/oder dem Westen stammen, Migrationserfahrung haben oder aus dem Osten in den Westen gezogen und wieder zurückgekehrt sind. Jeder Versuch, "ostdeutsch" zu definieren, stößt zwangsläufig an Grenzen, weil es sich um eine Konstruktion handelt, die von Verallgemeinerungen ausgeht. Wie wichtig es ist, individuelle Perspektiven zu betonen, anstatt "den Osten" als Ganzes erklären zu wollen, zeigt sich beim Blick auf die jüngsten Ostdeutschland-Debatten, die nicht nur ergebnislos geblieben sind, sondern den Diskurs sogar zurückgeworfen haben.
Unproduktiver Streit
Auslöser dieser jüngsten Diskussionen über Ostdeutschland waren neue Publikationen. Besonders hitzig geriet der Streit über die populären Sachbücher des Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann und der Historikerin Katja Hoyer.
Mitunter trugen die Autorinnen und Autoren selbst dazu bei, dass die Debatten über ihre Bücher wenig produktiv verliefen. Dirk Oschmann etwa verzichtete in seinem lauten Buch bewusst auf alle Zwischentöne, indem er westlichen Klischees über "den Osten" eine ebenso plakative Sicht auf "den Westen" gegenüberstellte. Neu waren viele seiner Thesen nicht; andere Autorinnen und Autoren hatten sie nur differenzierter und weniger polemisch vorgetragen. Wenngleich Oschmann zu Recht bestehende soziale Ungleichheiten zwischen Ost und West zurück ins öffentliche Bewusstsein rückt, bleibt unterm Strich doch eine stark überzeichnete Sicht auf komplexe Probleme, in der "die Ostdeutschen" nur als fremdbestimmte Opfergruppe in Erscheinung treten, nicht als Akteure ihrer eigenen Geschichte. Die einfache Erzählung vom "bösen Westen", der den "armen Osten" nach 1990 erst ausgebeutet und dann unterdrückt und marginalisiert hat, um sich selbst aufzuwerten, war vor allem beim älteren Publikum im Osten immens erfolgreich: Mit über 170000 verkauften Exemplaren zählt das Buch zu den populärsten Sachbüchern der vergangenen Jahre. Und doch bleibt fraglich, ob die Debatte zu einer differenzierteren Sicht auf "den Osten" beigetragen oder nicht eher bestehende Gräben weiter vertieft hat. Konkrete Lösungsansätze sucht man in dem Buch jedenfalls vergebens.
Ähnlich unproduktiv verlief auch die Debatte über Katja Hoyers Buch "Diesseits der Mauer", das zunächst in Großbritannien veröffentlicht wurde und kurze Zeit später in Deutschland erschien. Begleitet wurde die Publikation von einer massiven Werbekampagne in den sozialen Medien, wo das Buch als "bahnbrechend neuer Blick" auf die DDR-Geschichte vermarktet wurde. Der Versuch der Autorin, eine Art Alltagsgeschichte der DDR "von unten" zu erzählen, war jedoch weder besonders originell noch übermäßig wissenschaftlich fundiert. Schon ein flüchtiger Blick ins Literatur- und Quellenverzeichnis zeigt, dass Hoyer weder den umfangreichen Forschungsstand zur DDR-Geschichte zur Kenntnis genommen noch neue Archivbestände ausgewertet hat. Für eine inhaltliche Fachdebatte war das Buch damit irrelevant. Nichtsdestotrotz wurde in feuilletonistischen Beiträgen emotional über die Inhalte gestritten. Dabei ging es jedoch eher um die Frage, ob Hoyers "pastellfarbener" Blick auf die Vergangenheit als authentisches DDR-Bild gelten könne – und weniger um die fachlichen Mängel des Buches, an denen die sachlichen Rezensionen keinen Zweifel ließen.
Überraschend an den Büchern von Oschmann und Hoyer war daher nicht ihr Inhalt, sondern vielmehr die Tatsache, dass überhaupt so intensiv und kontrovers über sie gestritten wurde. Speziell im Fall von Katja Hoyers Buch verweist die Emotionalität der Debatte auf ein bekanntes Muster, das den Streit um die DDR-Erinnerung seit Jahren begleitet. Der Historiker Martin Sabrow hat bereits 2009 drei konkurrierende Erinnerungslandschaften im Umgang mit der DDR-Vergangenheit beschrieben, die bis heute den Diskurs prägen und sich unversöhnlich gegenüberstehen: das Diktaturgedächtnis, das Arrangementgedächtnis und das Fortschrittsgedächtnis.
Die Konflikte zwischen diesen Erinnerungslandschaften haben sich im Zuge der jüngsten Ostdeutschland-Debatten weiter verhärtet, wie es scheint. Bezeichnend dafür ist, dass einzelne Erfahrungen immer wieder generalisiert werden, so als gäbe es nur eine richtige Sicht auf Ostdeutschland, die alle anderen ausschließt. Für Differenzierungen und ambivalente Einschätzungen bleibt dabei wenig Raum. Sehr gut konnte man dies auch im Kontext der Diskussion über Anne Rabes Roman "Die Möglichkeit von Glück" beobachten. Rabe erzählt darin die beklemmende Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung in der DDR, die von psychischer und physischer Gewalt geprägt ist. Die innerfamiliären Konflikte beeinflussen das Leben der Tochter bis weit in die Gegenwart. Literarisch zählt der Roman zu den bewegendsten DDR-Erzählungen der vergangenen Jahre, problematisch waren jedoch die Versuche, auf Basis der fiktional erzählten Geschichte generelle Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in den 1990er Jahren in Ostdeutschland zu ziehen oder gar die rechtsextremen Gewaltausbrüche der Nachwendezeit zu erklären. Die Debatte, die auf eine Verallgemeinerung individueller Erfahrungen hinauslief, verkürzte das Leben in der DDR auf emotionale Kälte innerhalb der Familien, ohne danach zu fragen, inwiefern solche Erlebnisse überhaupt spezifisch für die SED-Diktatur gewesen sind. War häusliche Gewalt im Westen zur gleichen Zeit weniger stark ausgeprägt? Vergleichende Perspektiven wären dringend nötig gewesen, um eigenständige Entwicklungen in der DDR und ihre Auswirkungen in der Nachwendezeit beschreiben zu können, aber diese kamen in der Diskussion über den Roman überhaupt nicht vor.
Vielfalt ohne Gehör
Die Debatten über die Sachbücher von Oschmann und Hoyer oder Rabes Roman blieben am Ende ergebnislos, weil die Autorinnen und Autoren komplexe Antworten scheuten und die Kritiker häufig ihrerseits pauschal dagegen argumentierten. Offenkundig bedingt die Eigendynamik der medialen Berichterstattung, dass plakative Ansichten besonders viel Gehör finden. Dirk Oschmann hat sogar selbst darauf hingewiesen, dass er mit einer ausgewogeneren Argumentation in der Öffentlichkeit wohl untergegangen wäre.
Die Selbstbezogenheit medialer Debatten – jemand empört sich, jemand anderes empört sich zurück – ist jedoch nur ein Grund dafür, dass die Ost-West-Diskussionen zuletzt keinen Schritt vorangekommen sind. Es liegt auch daran, dass die vielfältig vorhandenen Erkenntnisse aus der DDR- und Transformationsforschung zu wenig Eingang in den öffentlichen Diskurs finden. Es mangelt nicht an wissenschaftlichen Studien, die sich um einen differenzierten und multiperspektivischen Blick auf die widersprüchlichen Lebensrealitäten im Osten bemühen, gerade von jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Dass es sehr wohl möglich ist, differenzierter über Entwicklungen in Ostdeutschland zu sprechen, beweisen die zahlreichen Initiativen, die sich seit einigen Jahren in diesem Bereich engagieren, wie zum Beispiel die Netzwerke "Dritte Generation Ost" und "Wir sind der Osten". In diesen Kontext gehören auch die Veröffentlichungen von jüngeren Autorinnen und Autoren in den vergangenen Jahren. Auch wenn sie nicht immer ein Massenpublikum erreichen, erscheinen sie besonders vielversprechend, weil sie unbefangener und vorurteilsfreier mit der Geschichte und Gegenwart im Osten umgehen, ohne die DDR zu romantisieren oder politische Probleme zu verharmlosen. Die erfolgreichen Romane von Lukas Rietzschel, Daniel Schulz, Hendrik Bolz, Paula Irmschler oder Manja Präkels
Mittlerweile gibt es auch eine Reihe von jüngeren Regisseurinnen und Regisseuren, die im Osten aufgewachsen sind und in ihren Filmen persönliche Geschichten erzählen, die im Hier und Jetzt spielen und zugleich auf widersprüchliche Entwicklungen vor und nach 1989/90 Bezug nehmen. Bei einer Filmreihe in Leipzig mit dem Titel "Ein anderer Kino-Osten" waren kürzlich zum Beispiel Annika Pinske ("Alle reden übers Wetter", 2019), Jonas Walter ("Tamara", 2023), Sarah Blaßkiewitz ("Ivie wie Ivie", 2021), Janin Halisch ("Sprich mit mir", 2023) und Max Gleschinski ("Alaska", 2023) zu Gast, die in den 1980er beziehungsweise 1990er Jahren aufgewachsen sind.
Den Alltagsrassismus, den etwa Sarah Blaßkiewitz in "Ivie wie Ivie" am Beispiel zweier afrodeutscher Halbschwestern thematisiert, gibt es zweifellos auch in westdeutschen Regionen. Auch das kulturelle Gefälle zwischen Großstadt und ländlichen Gegenden, das in "Alle reden übers Wetter" aufscheint, findet sich in ähnlicher Form auch im Westen. Beide Phänomene sind im Osten aber stärker ausgeprägt. Schaut man genauer hin, dann fallen in den Filmen zudem interessante Schnittmengen auf, etwa die Sprachlosigkeit zwischen den in der Nachwendezeit aufgewachsenen Hauptfiguren einerseits und ihren Eltern andererseits, die diese Zeit zwangsläufig anders erlebt haben. Das gilt umso mehr für den fehlenden Austausch über die Erfahrungen in der DDR, den man als Subtext in allen Filmen spüren kann. In mehreren Geschichten sind zudem die Väterfiguren abwesend, was vielleicht nur ein Zufall ist, aber vielleicht auch ein indirekter Verweis darauf, dass die Umbrüche der Nachwendezeit, die an nahezu keiner ostdeutschen Familie spurlos vorübergegangen sind, häufiger von den Frauen allein geschultert werden mussten, weil Ehen in die Brüche gingen oder Männer generell größere Schwierigkeiten hatten, den gesellschaftlichen Wandel anzunehmen.
Anderes Sprechen
Die erwähnten Filme zeigen einen Weg auf, der wegführt von den stereotypen Blicken auf "den Osten", hin zu einem individuellen Erzählen, das unterschiedliche Wahrnehmungen nicht gegeneinander ausspielt, sondern Widersprüche zulässt. Sie brechen die Vorstellung kollektiver Lebenswege auf zugunsten einer persönlichen Perspektive, in denen sich gesellschaftliche Entwicklungen nicht krampfhaft spiegeln müssen. In den Publikumsgesprächen im Anschluss an die Filme zeigte sich gleichwohl, dass es bei vielen Zuschauerinnen und Zuschauern spontane Assoziationen und Verbindungen zu eigenen Erfahrungen gab.
Vielleicht ist es naiv, sich generell einen ähnlich differenzierten Diskurs für zukünftige Debatten über Ostdeutschland zu wünschen, aber es scheint der einzige Weg zu sein, um billiges Ost-Bashing ebenso zu überwinden wie eine selbstgerechte Ostidentifikation, die die Fehler nur bei anderen sucht. Die nächsten Debatten werden kommen, spätestens nach den anstehenden Landtagswahlen im Herbst 2024. Aber vielleicht gelingt es ja, diese nicht wieder in den gleichen Schneisen versanden zu lassen. Wer auch immer öffentlich über oder für "die Ostdeutschen" spricht, sollte sagen, welchen Teil der Bevölkerung er oder sie konkret meint. Alles andere führt nur zu pauschalen Urteilen. Noch mehr Talkshows, die dem Publikum erklären, warum "der Osten anders tickt", braucht niemand. Politische Empörung, die die Erfolge der AfD auf "den Osten" reduziert, ohne Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit anderen Regionen im Westen und generell in Europa zu betrachten, macht es sich viel zu leicht. Mit den Nachwirkungen der SED-Diktatur kann man jedenfalls schwerlich den Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen in Italien, Frankreich oder den Niederlanden erklären.
Nicht nur im Diskurs über Ostdeutschland, auch im Umgang mit der DDR-Vergangenheit führt kein Weg daran vorbei, Widersprüche auszuhalten und unterschiedliche Erinnerungen zuzulassen. Bei einem Land, das seinerzeit 16 Millionen Einwohner zählte, wäre es unsinnig, davon auszugehen, dass es nur die eine "richtige" Erinnerung an das Leben in der DDR gibt, auf die sich alle verständigen können. Die starren, aber öffentlich dominanten Prämissen des "Diktaturgedächtnisses" stoßen jedenfalls schon lange an ihre Grenzen, weil sie der Lebenswirklichkeit vieler Menschen zur Zeit der DDR nicht gerecht werden. Parallel lässt sich seit Jahren eine neue und erschreckende Verklärung des Alltags beobachten, bei der die DDR immer schöner wird, je länger sie zurückliegt. Um beides aufzubrechen, müssen auch hier "Zwangskollektivierungen" vermieden werden. Anders als eine wissenschaftliche Analyse bleibt jede Erinnerung immer subjektiv. Wer daher von "Wir" oder von "Uns" spricht, aber seine eigene Geschichte meint, macht schon einen Fehler. Es braucht den Mut, "Ich" zu sagen. Sonst bleibt alles Sprechen über "den Osten" ein zielloses Unterfangen.