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Krieg mit anderen Mitteln | Flucht und Migration | bpb.de

Flucht und Migration Editorial Postmigrantische Gesellschaft in der Krise. Zwischen Migrationsabwehr und Migrationsbedarf „Flüchtling“. Eine Figur im Wandel bundesdeutscher Migrationsgeschichte Zwischen Empowerment, Kooperation und Abhängigkeit. Migrantenselbstorganisationen als Integrationsakteure in Deutschland Flucht und Migration global. Dynamiken, Hintergründe, Debatten Das EU-Migrations- und Asylpaket. Bestandsaufnahme eines Reformversuchs Lösungsweg oder Sackgasse? Asylverfahren in Drittstaaten Krieg mit anderen Mitteln. Migration als Instrument der Politik

Krieg mit anderen Mitteln Migration als Instrument der Politik

Kelly M. Greenhill

/ 15 Minuten zu lesen

Der Einsatz von Migration als politisches Druckmittel ist nicht neu. In den vergangenen Jahren hat allerdings die Offenheit zugenommen, mit der Migration instrumentalisiert wird. Wie genau funktioniert das, und welche Ziele können damit verfolgt werden?

Als der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko im Herbst 2021 Migrantinnen und Asylbewerber aus dem Irak, Afghanistan und anderen Ländern nach Belarus lockte und an die EU-Grenze bringen ließ, erklärten viele die Aktion zum Beginn einer gefährlichen neuen Ära in der internationalen Machtpolitik: Das Vorgehen sei eine neue Form der Bedrohung, bei der „Menschen in einem Akt der Aggression“ eingesetzt würden, und bewege sich in einer Grauzone unterhalb der Schwelle zum Krieg. Da ein konventioneller Krieg heutzutage zu kostspielig und zu riskant sei, müsse man damit rechnen, dass diese hybride Waffe zunehmend eingesetzt werde und immer mehr Regierungen versuchen werden, Migranten und Asylsuchende als „Kugeln und Bomben“ zu nutzen – vor allem gegen die EU.

Doch anders als diese Äußerungen vermuten lassen, war diese Art der Instrumentalisierung von Migration durch Belarus weder neu noch einzigartig, sondern lediglich ein sehr offensichtliches Beispiel für ein uraltes, wenn auch unorthodoxes politisches Mittel. Der Einsatz von Migration als Waffe ist nicht neu. Allerdings hat er sich in den vergangenen Jahren von einer relativ häufigen, jedoch viel zu wenig beachteten Praxis zu einer sehr sichtbaren, aber immer noch weithin missverstandenen Maßnahme entwickelt. Die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität ist problematisch, insbesondere für politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, die die Aufgabe haben, etwas gegen diese Instrumentalisierung zu unternehmen.

Ich möchte in diesem Artikel die Geschichte, die Verbreitung und den Einsatz von Migration als Waffe beleuchten und sie in einen allgemeineren Zusammenhang einordnen – zum einen der Konflikte, zum anderen der politischen Instrumente, auf die Akteure zur Durchsetzung ihrer Ziele zurückgreifen. Nach einem Blick auf die Mythen rund um diese Art der Instrumentalisierung von Migration werde ich auf verschiedene Formen und Ziele eingehen, für die sie eingesetzt wird, um anschließend zu untersuchen, auf welch perfide Art sie im aktuellen politischen Umfeld verwendet wird: einerseits, um sich innenpolitische Vorteile zu verschaffen, andererseits in Form einer feindseligen Einflussnahme von außen, etwa durch die Verbreitung von Gerüchten, Verschwörungstheorien und anderen „extrafaktischen Informationen“.

Mythen über Migration als Waffe

Vor über fünfzig Jahren erklärte der indische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Samar Sen, Pakistan begehe ein Verbrechen der „Flüchtlingsaggression“, nachdem schätzungsweise zehn Millionen Menschen dazu veranlasst worden waren, aus dem damaligen Ostpakistan nach Indien umzusiedeln. Die Wortwahl weist eine verblüffende Ähnlichkeit zu den Formulierungen auf, mit denen Politikerinnen und Politiker von heute die belarussischen Maßnahmen beschreiben. Im damaligen Konflikt zwischen Indien und Pakistan erwies sich die Aktion als Bumerang: Es kam zum Krieg, und 1971 wurde Ostpakistan unabhängig. Das Vorgehen von Belarus ist also nicht neu, ebenso wenig wie die von Belarus angewandten Methoden. Die Reiseagenturen, die Migranten nach Minsk lockten, folgten dem Vorbild der DDR, die Mitte der 1980er Jahre im gesamten Nahen Osten und in Südasien Anzeigen schaltete, in denen „komfortable Flüge“ nach Ost-Berlin und ein „schneller und reibungsloser Transit“ in den Westen versprochen wurden, um von der Bundesrepublik wirtschaftliche und politische Zugeständnisse sowie technische Unterstützung zu erpressen.

Diese Art der Instrumentalisierung von Migration ist ein globales Phänomen. Tragischerweise kann man davon ausgehen, dass immer irgendwo auf der Welt eine oder mehrere Gruppen von Migranten oder Flüchtlingen zur Durchsetzung strategischer Ziele als Druckmittel eingesetzt werden – und das schon seit Jahrhunderten.

Es ist zwar richtig, dass Migration oft auf diese Weise instrumentalisiert wird, wenn militärische Gewalt nicht möglich oder zu kostspielig ist oder man eine Eskalation auf jeden Fall vermeiden will. Dennoch war sie nie nur ein Instrument der Grauzone zwischen zulässigen Mitteln und offenem Konflikt. Ihr Einsatz hat durchaus schon Kriege nach sich gezogen, wie das Beispiel des Indisch-Pakistanischen Krieges von 1971 zeigt. Und auch während eines Krieges wurde Migration schon als diplomatisches Druckmittel benutzt, etwa 1999 im Kosovo, als der serbische Präsident Slobodan Milošević die NATO durch die Vertreibung von 800000 Kosovo-Albanern zur Einstellung ihrer Luftschläge zwingen wollte. Die Instrumentalisierung von Migration ist ein wesentlicher Bestandteil konventioneller und irregulärer Kriege, einschließlich unzähliger Kampagnen zur Aufstandsbekämpfung im Kalten Krieg. Oft wird sie auch parallel zu konventionellen Konflikten eingesetzt, wie das Beispiel Russland zeigt, das neben dem Angriffskrieg gegen die Ukraine auch Migration als Waffe gegen EU- und NATO-Länder wie Italien und Finnland anwendet.

Migration wird also schon lange als politisches Druckmittel genutzt – fragt sich nur: Wie und warum?

Warum funktioniert Migration als Waffe?

Eine Waffe ist ein Instrument, das von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren zum Angriff, zur Verteidigung oder zur Abschreckung eingesetzt wird, um politische, wirtschaftliche oder militärische Ziele zu erreichen. Entsprechend bezeichnet die Formulierung „Migration als Waffe“ Situationen, in denen Regierungen oder nichtstaatliche Akteure die Zu- oder Abwanderung von Menschen herbeiführen, behindern oder manipulieren oder auch nur damit drohen, um politische, wirtschaftliche und/oder militärische Ziele durchzusetzen.

Anhand der jeweiligen Ziele unterscheide ich zwischen vier sich überschneidenden Formen der instrumentalisierten oder „strategisch gesteuerten“ Migration.

Ein erstes Ziel einer Regierung kann sein, durch gesteuerte Migration die eigene, innenpolitische Position zu stärken, entweder durch die Ausweisung von Dissidenten oder durch den Versuch, andere Staaten in eine unangenehme Lage zu bringen, sie zu diskreditieren oder zu destabilisieren. Vermutlich war das auch Lukaschenkos Ziel, als er im Herbst 2021 eine Migrationskrise an der EU-Grenze inszenierte. Es gibt Hinweise darauf, dass er zumindest versuchte, die EU in Verlegenheit zu bringen. Möglicherweise wollte er die EU auch bestrafen, weil sie die Menschenrechtslage in Belarus kritisiert hatte oder weil sie nicht bereit gewesen war, ihn als Sieger der Präsidentschaftswahlen 2020 anzuerkennen, und nach der umstrittenen Wahl neue Sanktionen verhängt hatte.

Ein zweites Ziel des Einsatzes gesteuerter Migration kann sein, während eines aktiven Konflikts einen militärischen Vorteil zu erlangen. Dabei werden Bevölkerungsbewegungen genutzt, um die Kommando- und Kontrollstrukturen des Gegners zu stören, die Nachschubwege zu unterbrechen und den Bewegungsradius der Truppen einzuschränken. Oder aber die Vertriebenen werden zur Verstärkung der eigenen Truppen rekrutiert. Diese Form der instrumentalisierten Migration ist ein gängiges Mittel bei Aufständen oder ihrer Bekämpfung und wurde etwa im syrischen Bürgerkrieg von allen Beteiligten angewandt.

Drittens kann es ein Ziel sein, sich das Siedlungsgebiet oder den Besitz der Vertriebenen anzueignen oder sie auszuschalten, weil sie als Bedrohung für die Vorherrschaft der Gruppe gesehen werden, die die Vertreibung vornimmt. Diese Form der instrumentalisierten Migration war nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens ein typisches Merkmal der Balkankriege in den 1990er Jahren und wird derzeit im Sudan angewandt.

Ein viertes Ziel gesteuerter Migration kann Erpressung sein, wenn Bevölkerungsbewegungen ausgelöst, behindert oder manipuliert werden, um Zielstaaten zu politischen, militärischen und/oder wirtschaftlichen Zugeständnisse zu nötigen. Ein Beispiel wäre der frühere libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi, der drohte, Europa mit Migranten zu überschwemmen, wenn ihm nicht Sanktionserleichterungen, Milliarden an Hilfsgeldern und andere Zugeständnisse gewährt würden. Ähnlich drohte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wiederholt, meist syrische Flüchtlinge und andere Migranten nach Europa zu schicken – mit Erfolg: 2016 wurde die umstrittene Flüchtlingsvereinbarung zwischen der EU und der Türkei ausgehandelt.

In Fällen, in denen solche Aktionen gegen Staaten gerichtet sind, hängt ihre Wirksamkeit weniger von der Größe der Bevölkerungsbewegungen ab als von der Politik im Zielland und der Haltung der dortigen Bevölkerung, wobei ein wesentliches Kriterium die Herkunft der Gruppe(n) sowie deren kulturelle/religiöse Identität ist. Entscheidend ist, ob die Menschen, die wie Schachfiguren hin- und hergeschoben werden, in den Zielstaaten als „Leute von uns“ betrachtet werden, die Akzeptanz und Schutz verdienen, oder als „die anderen“ und damit als Bedrohung, die abgewehrt und zurückgewiesen werden muss.

Da die Zielländer fürchten, mit der Bewältigung der Zuwanderung überfordert zu sein und/oder dass es zu politischen Spaltungen innerhalb der Bevölkerung kommt, entfaltet der angedrohte oder tatsächliche Einsatz von Migration als Waffe eine große Wirkung. Deshalb gilt Migration schon lange als nützliches politisches Instrument. Dass es schnell wieder verschwindet, ist unwahrscheinlich. Tatsächlich sorgen die politischen Reaktionen in den Zielländern dafür, dass ihr Einsatz in Zukunft eher noch zunehmen wird.

Politisierung der gesteuerten Migration

In vielen Ländern ruft das Schreckgespenst eines unablässigen Zustroms von Migranten und/oder Geflüchteten zuverlässig Anspannung und Aufregung hervor. Als etwa der libysche Machthaber al-Gaddafi drohte, „Europa schwarz und muslimisch“ zu machen, wenn die EU seinen Forderungen nicht nachkäme, verstärkten sich die seit Langem bestehenden europäischen Befürchtungen, von afrikanischen Migrantinnen und Migranten „überrannt“ zu werden. Entgegen der Hoffnung, dass mit dem Fall al-Gaddafis auch die Drohungen ein Ende hätten, fanden die libyschen Milizen, die die Macht übernahmen, in den Jahren nach dem Aufstand von 2011 neue Wege, um Migration als Waffe einzusetzen. In einigen Fällen taten sie sich dafür mit Schleppern zusammen.

Oft reichen bereits Drohungen, weil sich die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger der Zielstaaten in einem Dilemma befinden: Eigentlich wollen sie die Vertriebenen nicht aufnehmen, sie können sich aber auch nicht einfach weigern. Das gilt vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, für liberale Demokratien, die sich moralisch und rechtlich verpflichtet fühlen, Schutzbedürftigen Zuflucht zu gewähren. Die Erpresser wissen um diesen Umstand und nutzen ihn für ihre Zwecke. Oder wie der türkische Präsident Erdoğan einmal sagte: „Wie wollen Sie also mit den Flüchtlingen umgehen, wenn Sie keine Einigung erzielen? Die Flüchtlinge töten?“

Auch andere kennen und nutzen das Dilemma der westlichen Demokratien. So erklärte Lukaschenko bei einem im Fernsehen übertragenen Besuch eines Flüchtlingslagers an der EU-Grenze: „Wenn ihr in den Westen wollt, werden wir euch nicht würgen, packen oder schlagen. Es ist eure Entscheidung. Geht hinüber! (…) Ich weiß, dass das, was ich gesagt habe, nicht jedem gefallen wird, vor allem nicht dem Ausland.“

Die Zwickmühle entsteht, weil die Reaktionen, die der tatsächliche oder drohende Zustrom in den Gesellschaften der Zielländer hervorruft, in der Regel sehr unterschiedlich ausfallen, aber fast immer Konfliktpotenzial bergen. Unabhängig von der Zusammensetzung der ankommenden Gruppen spaltet jede Migrationsnotlage die Gesellschaft eines Ziellandes tendenziell in zwei Lager: die Einwanderungsgegner und die Einwanderungsbefürworter. Es ist unmöglich, beide Seiten gleichermaßen zufriedenzustellen, entsprechend anfällig und damit auch erpressbar ist eine Gesellschaft.

Aufgrund dieser Dynamik treten im Zielland Spannungen und Widersprüche zutage, was wiederum denjenigen in die Hände spielt, die Unruhe stiften und das Zielland in Schwierigkeiten bringen wollen. Natürlich sind die Spannungen geringer, wenn die Gruppe der Vertriebenen Sympathie bei der Bevölkerung genießt und es wenige bis keine internen Spaltungen gibt. In solchen Fällen ist es schwierig, Migration als Waffe einzusetzen. Die Reaktionen in der EU auf die Ankunft ukrainischer Flüchtlinge nach Beginn des russischen Angriffskriegs 2022 sind ein solches Beispiel, allerdings sind solche Fälle eher die Ausnahme.

Was sich in den vergangenen Jahren verändert hat, ist die Zahl der Regierungen, die bereit sind, Migration ganz offen als Waffe einzusetzen, statt nur hinter verschlossenen Türen damit zu drohen. Auch die Zahl der Zielländer ist gestiegen, die öffentlich zugeben, dass sie ins Visier genommen werden, und zwar sowohl von befreundeten als auch von gegnerischen Staaten. Das ist eine wesentliche und wichtige Veränderung. Die instrumentalisierte Migration ist dadurch viel leichter zu erkennen, und das erklärt vielleicht, warum einige Beobachter fälschlicherweise glauben, sie sei neu oder trete plötzlich viel häufiger auf.

Diese zunehmende Transparenz ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits erscheinen die Forderungen derjenigen, die Druck ausüben, nun glaubhafter. Dadurch könnten sich Staaten veranlasst fühlen, bereits im Vorfeld einer herbeigeführten Migrationskrise zu verhandeln und tragfähige Vereinbarungen zu treffen. Andererseits kann die Behauptung, dass Gegner oder Rivalen Migration als Waffe verwenden, politisch genutzt werden – als eine Art Instrumentalisierung der Instrumentalisierung. Die Migration dient dann als Vorwand, eine illiberale und möglicherweise unzulässige Einwanderungspolitik voranzutreiben, und trägt dazu bei, Maßnahmen zu rechtfertigen, die andernfalls auf größeren Widerstand stoßen würden.

Wir erleben also zunehmend, dass sowohl begründete als auch unbegründete Behauptungen über eine Instrumentalisierung der Migration dazu genutzt werden, andere Ziele und Maßnahmen voranzutreiben. Das ist eine problematische Entwicklung, da solche Behauptungen politisch sehr wirksam sind, wie die jüngsten Wahlerfolge zuwanderungsfeindlicher Parteien überdeutlich zeigen. Die sich verändernde politische Landschaft wirkt sich auch auf den allgemeinen politischen Diskurs und die Vorgaben im gesamten politischen Spektrum aus. „Es spielt keine Rolle, ob das Problem in diesen Ländern wirklich groß ist oder nicht, oder ob es überhaupt Flüchtlinge gibt, diese Parteien setzen es ganz oben auf die Tagesordnung“, erklärt SPD-Politikerin Katarina Barley, ehemalige deutsche Justizministerin und Mitglied des Europäischen Parlaments. „Und das schafft eine Dynamik in der politischen Diskussion, die dann nicht auf die Lösung von Problemen zielt.“ Ein europäischer Diplomat ergänzt: „Die Einwanderungsfrage ist sehr emotional geworden, und zwar in allen Bereichen.“

Das alles macht deutlich, dass Ängste und ein Gefühl der Bedrohung – sei es nun im Bereich der Sicherheit, der Wirtschaft, der Gesellschaft oder der Kultur – ebenso eine Frage der gefühlten Wahrnehmung wie der objektiven Realität sind. Diese Wahrnehmung kann von gewieften Akteuren ausgenutzt und manipuliert werden. Die persönlichen politischen Motive dahinter sind klar. Allerdings richtet man damit auch enormen Schaden im liberalen demokratischen System und beim darin verankerten Schutz der Menschenrechte an. Vielen ist nicht bewusst, dass die innenpolitische Instrumentalisierung der Instrumentalisierung der Migration die westlichen Staaten gegenüber ihren strategischen Konkurrenten schwächen kann. Hier ist die Politisierung der gesteuerten Migration am Werk, und zwar unter dem Vorwand der feindseligen Einflussnahme von außen.

Einflussnahme von außen

Potenziell und tatsächlich feindlich gesinnte ausländische Akteure, ob staatlich oder nichtstaatlich, wissen um die Brisanz des Themas Migration innerhalb der EU und weltweit. Und es gibt Hinweise darauf, dass sie die Angst vor Migration aktiv als Teil umfassender und weitreichender Einflussoperationen nutzen, sowohl in Form von Desinformationskampagnen als auch in Form von Steuerung von Migrationsbewegungen.

Eine Methode ist die Verbreitung falscher oder irreführender Informationen an gefährdete Bevölkerungsgruppen, um sie dazu zu bewegen, aus Gebieten zu fliehen, in denen sie sich bedroht fühlen, wie zum Beispiel in Mali, und in Länder zu gehen, in denen sie nicht willkommen sind. So wurde etwa im Frühjahr 2024 vermutet, dass Russland Schleuser und private Milizen wie die Wagner-Gruppe im Mittleren Osten und Nordafrika einsetzt, um die Zuwanderung nach Europa zu lenken und dadurch Wahlen zu beeinflussen, die Unterstützung für demokratische Institutionen zu untergraben und die gesamte Region zu destabilisieren.

Russland hat eine Beteiligung bestritten, doch Medien berichteten von Geheimdienstdokumenten, laut denen russische Agentinnen und Agenten eine 15000 Mann starke Truppe aus ehemaligen libyschen Milizionären zusammenstellten, die die Migration über das Mittelmeer kontrollieren sollte. Eine Quelle behauptete: „Wenn man die Migrationsrouten nach Europa kontrolliert, kann man auch Wahlen kontrollieren, weil man den Zustrom in ein bestimmtes Gebiet drosseln oder es mit Migranten überschwemmen kann, um die öffentliche Meinung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beeinflussen.“

Eine weitere Methode besteht darin, Falsch- und Desinformationen, die Ängste im Zusammenhang mit Migrationsströmen schüren und verstärken, in potenziellen Zielstaaten zu verbreiten, um dort die Polarisierung zu verstärken und neue politische Gräben aufzuwerfen. Das ist oft bemerkenswert einfach, da politische Akteure im Inland dieselben nichtfaktischen Informationen verbreiten, mitunter verwenden sie sogar unwissentlich Material, das von außen bereitgestellt wurde. Aus internen Kreml-Dokumenten, die westliche Geheimdienste im Frühjahr 2024 veröffentlichten, ging hervor, dass im Rahmen einer laufenden Desinformationskampagne politische Strategen und Internet-Trolle Tausende von gefälschten Nachrichtenartikeln, Beiträgen in sozialen Medien und Kommentaren produzierten. Alle sollten Ängste in Bezug auf die Grenzsicherheit schüren und die wirtschaftlichen Sorgen und rassistischen Spannungen in den Zielländern verschärfen. Ein wesentliches Ziel der Kampagne bestand darin, Politikerinnen und Politiker in Europa und den USA dazu zu bringen, die vom Kreml erstellten fiktiven Geschichten zu wiederholen und den Falschmeldungen so mehr Autorität und Legitimität zu verleihen. Die auf Angst basierenden Botschaften über Migration, Kriminalität und mangelnden Grenzschutz erhalten dadurch noch mehr Gewicht. Leichtgläubige Politiker werden zu „nützlichen Idioten“, die die geopolitische Agenda der strategischen Konkurrenten des Westens vorantreiben. Aber wie und warum funktioniert das?

Die psychologische Manipulation ist eine Form der Beeinflussung, die darauf zielt, das Verhalten oder die Überzeugungen der Zielgruppe durch Ablenkung, Täuschung und Falschdarstellung zu verändern. Eine bemerkenswert effektive Variante stützt sich auf den Einsatz von Gerüchten, Verschwörungstheorien, Propaganda und anderen Inhalten, die ich als "extrafaktische Informationen" bezeichne. Extrafaktische Informationen sind nicht verifiziert oder können zum Zeitpunkt der Verbreitung nicht verifiziert werden, werden aber dennoch als Quelle genutzt – sowohl von denjenigen, die sie für wahr halten, als auch von denjenigen, die die Tatsache ausnutzen, dass andere sie für wahr halten.

Eine wirksame Manipulationsmethode besteht darin, vage und unausgesprochene, aber objektiv vorhandene Ängste in existenzielle, jedoch nicht konkret belegbare Bedrohungen der persönlichen oder nationalen Sicherheit umzuwandeln. Diese Strategie der Verschmelzung von Bedrohungen wird in vielen Ländern angewandt, um die Migrationsdebatte zu verzerren, indem man verständliche Ängste über die Auswirkungen und Kosten der irregulären Migration und der Fluchtzuwanderung nutzt und die Fakten mit emotionalen, Angst schürenden Erzählungen ausschmückt oder verdreht, um zu suggerieren, dass grenzüberschreitende Migrationsbewegungen eine ernsthafte Gefahr für die Sicherheit sind. Ich will damit nicht die Herausforderungen durch Migration leugnen – sie sind durchaus real und nicht zu unterschätzen, wie die europäischen Länder, die Millionen von Vertriebenen aufgenommen haben, bezeugen können. Allerdings ist es schwierig, allein anhand der Fakten zu argumentieren, dass solche Herausforderungen das Überleben eines Staates bedrohen – vor allem, wenn es sich um reiche Industrieländer mit gefestigten Demokratien handelt, die besonders häufig mit Zuwanderung konfrontiert sind.

Dennoch erhöht ein wiederholter Kontakt mit extrafaktischen Informationen die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen sie für wahr erachten, selbst wenn sie sie beim ersten Mal für falsch oder zweifelhaft hielten. Bei Untersuchungen zur Reaktion auf extrafaktische Informationen in Konfliktgebieten stellten wir fest, dass die Wahrscheinlichkeit, ein Gerücht zu glauben, um das 2- bis 8,5-Fache steigt, wenn man es zuvor schon einmal gehört hat. Selbst bei besonders skeptischen Adressaten können Tausende von Reden, Wahlkampfveranstaltungen und Posts in den sozialen Medien, die mit extrafaktischen Informationen gespickt sind, sowie die Berichterstattung über diese Behauptungen – ob befürwortend oder kritisch – dazu führen, dass das bisher Unglaubliche geglaubt wird.

Die psychologische Manipulation ist ein wirksames Mittel der politischen Mobilisierung. Es ist daher leicht nachzuvollziehen, warum sich viele Politiker darauf einlassen, um Unterstützung für ihre Politik zu gewinnen, wenn Fakten allein nicht ausreichen. Ihre Anwendung ist jedoch mit einem hohen Risiko für die Sicherheit und Stabilität eines Landes verbunden. Feindliche Akteure können sich das derart beackerte Terrain zunutze machen, um für Unruhe zu sorgen, sich in Wahlen einzumischen und die Zielstaaten sogar zu destabilisieren, und so den Glauben und das Vertrauen in demokratische Institutionen und Regierungsstrukturen weiter schwächen. Wenn innenpolitische Akteure weiterhin ihre eigenen Interessen über die Sicherheit und Stabilität ihres eigenen Landes und ihrer Verbündeten stellen, was bleibt dann noch?

Wenn hier keine Abhilfe geschaffen wird, verheißt dies nichts Gutes für die Zukunft der liberalen Demokratien oder für den Schutz der Schwächsten in der Welt. Hält die derzeitige Dynamik an, wird Migration weiter instrumentalisiert und können westliche Regierungen die Rechte und Freiheiten untergraben, die sie angeblich hochhalten. Wenn die liberalen Demokratien weiterhin fortschrittlich, freiheitlich und demokratisch sein wollen, müssen sie einen Weg finden, ihre Grenzen zu sichern, ohne dass ihre Identität, ihre Werte und der liberale Staat selbst auf der Strecke bleiben.

Übersetzung aus dem Englischen: Heike Schlatterer, Pforzheim.

ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Forschungsschwerpunkt Sicherheit und Internationale Beziehungen und lehrt an der Tufts University in Medford und am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA.