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Das EU-Migrations- und Asylpaket | Flucht und Migration | bpb.de

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Das EU-Migrations- und Asylpaket Bestandsaufnahme eines Reformversuchs

Birgit Glorius

/ 15 Minuten zu lesen

Im Mai 2024 hat der Rat der Europäischen Union ein Reformpaket für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem verabschiedet. Was bringen die Reformvorschläge konkret? Wie wirksam sind sie und wie wird die Verantwortung in Europa künftig verteilt?

Am 8. Juni 2023 legte der Rat für Justiz und Inneres der Europäischen Union ein neues Maßnahmenpaket zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) vor, das nach umfassenden Diskussionen im April 2024 vom Europäischen Parlament verabschiedet wurde. Diese lang erwartete Reform verspricht, zentrale Probleme des bisherigen GEAS zu lösen, die besonders während des „langen Sommers der Migration“ 2015 offensichtlich wurden, als bis April 2016 insgesamt über 2,4 Millionen Geflüchtete über die südlichen und südöstlichen Außengrenzen in die EU einreisten und oft ohne Registrierung in westliche und nördliche EU-Staaten weiterreisten, um dort Flüchtlingsschutz zu beantragen. Die EU-Mitgliedstaaten erlebten eine sehr ungleiche Belastung durch die Anzahl der ankommenden Geflüchteten. In Deutschland, das viele Geflüchtete aufnahm, kam es zu langen Wartezeiten bei den Asylverfahren, aber auch beim Zugang zu Integrationsmaßnahmen.

Seit diesem Krisenjahr wurde innerhalb der Europäischen Union um eine Reform des GEAS gerungen. Verschiedene Vorschläge scheiterten, bis schließlich kurz vor der Europäischen Parlamentswahl im Juni 2024 eine Einigung erzielt werden konnte. In diesem Beitrag ordne ich die Reformvorschläge vor dem Hintergrund der asylpolitischen Realität in Europa ein und beurteile ihre Wirksamkeit. Dabei blicke ich zunächst auf den Entstehungszusammenhang des GEAS sowie auf die zentralen Problemfelder, die sich im Kontext der Massenankünfte in den Jahren 2015 und 2016 zeigten. Anschließend analysiere ich die Hauptpunkte des Reformpakets.

Teil der europäischen Integration

Die Entwicklung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist mit dem Europäischen Integrationsprozess verbunden. Insbesondere das Schengener Abkommen, durch das der Wegfall von Grenzkontrollen an Binnengrenzen beschlossen wurde, machte diesen Schritt notwendig. Es wurde befürchtet, dass durch die Abschaffung der Grenzkontrollen Anreize für Asylsuchende entstehen, sich spezifische Aufnahmeländer auszusuchen, um dort einen Asylantrag zu stellen. Im Schengener Durchführungsübereinkommen von 1990 wurde daher erstmals ein Mechanismus festgelegt, mit dem die staatliche Zuständigkeit für die Bearbeitung von Asylanträgen bestimmt wurde. In einem weiteren Schritt wurde die Regelung in einem völkerrechtlichen Vertrag verankert, nach dem Unterzeichnungsort „Dublin-Regelung“ genannt. Diese trat am 1. September 1997 in Kraft. Es folgten Harmonisierungsprozesse im Bereich der Flüchtlingsaufnahme mit dem Ziel, dass Asylsuchende in der gesamten EU unter gleichen Bedingungen internationalen Schutz erhalten. Mit dem Vertrag von Amsterdam 1999 wurde das GEAS Teil des acquis communautaire, also des verbindlichen EU-Rechtsbestands, dem alle Mitgliedstaaten verpflichtet sind. Die seither erfolgten Schritte zur konkreten Ausgestaltung des GEAS basieren unter anderem auf dem gemeinsamen Bekenntnis zum Flüchtlingsschutz, dargelegt in der Europäischen Konvention der Menschenrechte, sowie auf dem Prinzip der gegenseitigen Solidarität und Verantwortungsteilung als Grundprinzip der staatlichen Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union. Neben der Dublin-Regelung zur Bestimmung der Zuständigkeit sollen vor allem drei Rechtsakte die Gleichbehandlung von Asylsuchenden innerhalb der Europäischen Union sicherstellen: die Aufnahmerichtlinie, die Mindeststandards für die Aufnahme und Unterbringung von Asylsuchenden definiert; die Verfahrensrichtlinie, die die Durchführung des Asylverfahrens konkretisiert; sowie die Qualifikationsrichtlinie, die die Kriterien für die Gewährung von Flüchtlingsschutz und die damit verbundenen Rechte festlegt.

Krise des GEAS

Während die Ausgestaltung dieser Richtlinien in den frühen 2000er Jahren in eine Phase der geringen Asylzugänge fiel und ihre Implementierung unter Bedingungen geringen Drucks vonstattenging, bedeutete der „lange Sommer der Migration“ einen Stresstest. Bereits seit 2011 waren die Ankunftszahlen über die zentrale Mittelmeerroute angestiegen, vor allem ausgelöst durch politische Unruhen in den Maghreb-Staaten im Kontext des Arabischen Frühlings. In Syrien entwickelte sich ein komplexer Bürgerkrieg, der weite Teile des Landes verwüstete und Millionen Menschen zur Flucht zwang, vor allem in die Anrainerstaaten Jordanien, Libanon und Türkei. Aufgrund des anhaltenden Vertreibungsdrucks und häufig unzureichender Lebensgrundlagen in den Erstaufnahmeländern entwickelte sich ab 2014 ein Prozess der Weiterwanderung aus der Türkei in Richtung Griechenland und dann weiter über die Balkanroute in das westliche und nördliche Europa. Erst ein Abkommen mit der Türkei und eine Kaskade von Grenzschließungen im März und April 2016 brachten den Zustrom zum Erliegen. Die Massenankunft von syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen, gemischt mit Flüchtenden und Migrant:innen aus verschiedenen anderen Krisengebieten Asiens und Afrikas, aber auch aus Albanien und Kosovo, brachten verschiedene Schwachstellen des GEAS zutage.

Ein erster Befund in der Rückschau auf 2015 ist das Scheitern der Dublin-Regelung, also der Bestimmung der Zuständigkeit zur Durchführung von Asylverfahren, die jeweils bei dem Staat der Erstankunft innerhalb der Europäischen Union liegt. Die Schwachstellen dieser mehrfach reformierten Regelung sind mit der EU-Erweiterung quasi mitgewachsen. Denn während bei der Einführung der Dublin-Regelung noch eine überschaubare Gruppe von Mitgliedstaaten mit relativ ähnlichem Wohlstandsniveau Teil des Systems war, verlagerte sich die EU-Außengrenze und damit die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens (zumindest bei einer Einreise über den Land- oder Seeweg) immer stärker in Staaten und Regionen, die im Wohlstandsniveau, aber auch in ihren asyl- und migrationsrechtlichen Kompetenzen, erheblich hinter den EU-Gründungsmitgliedern hinterherhinkten. Die Folge waren Weiterreisen von Geflüchteten aus Erstankunftsländern wie Griechenland und wachsende Schwierigkeiten, Asylsuchende tatsächlich in die Staaten der Ersteinreise zurückzusenden, um dort das Asylverfahren durchzuführen. Das dafür vorgesehene Verfahren muss innerhalb von sechs Monaten nach der Einreise abgeschlossen sein und erfordert die Identifikation der Asylsuchenden und ihres Reiseweges, bestenfalls anhand von in der Europäischen Fingerabdruckdatenbank EURODAC hinterlegten Treffern, das Stellen eines Übernahmeersuchens an den EU-Staat der Ersteinreise, dessen Zustimmung und schließlich die Überführung der Asylsuchenden.

In der quantitativen Betrachtung erweist sich diese Regelung als mäßig effektiv. Beispielhaft lässt sich das für das Beobachtungsjahr 2017 für Deutschland zeigen, in dem 64267 Übernahmeersuchen an Länder der Ersteinreise gestellt wurden. Rund drei Viertel der Ersuchen (46873) wurden positiv beschieden. Im gleichen Jahr wurden 7102 Personen rücküberstellt, das entspricht 15 Prozent der zugestimmten Anzahl beziehungsweise 11 Prozent der Übernahmeersuchen im gleichen Zeitraum. Ähnlich sind die Ergebnisse in der „Gegenrichtung“: von den 26932 Übernahmeersuchen, die 2017 aus anderen EU-Staaten an Deutschland ergingen, wurden 21716 positiv beschieden – also 80 Prozent. Im selben Jahr wurden 8754 Personen nach Deutschland rücküberführt. Aktuellere Zahlen, etwa aus dem Jahr 2023, weisen auf eine weitere Verschlechterung der Effektivität des Dublin-Systems hin.

Neben Problemen der zwischenstaatlichen Abstimmung und der praktischen Verfahrenslogistik sind es aber auch übergeordnete humanitäre Aspekte, die das Zuständigkeitsprinzip torpedieren. So hat der Europäische Gerichtshof bereits mehrfach Klagen von Asylsuchenden Recht gegeben, die aus westeuropäischen Ankunftsstaaten in Länder der Ersteinreise zurückgeschickt werden sollten, deren spärliche Infrastrukturen keine menschenwürdige Aufnahme und Verfahrensabwicklung ermöglichten. Daher wurden Übernahmeverfahren nach Griechenland bis März 2017 in Deutschland ausgesetzt, und ab Mai 2017 stoppten Deutschland und verschiedene andere EU-Staaten Überstellungen nach Ungarn, weil es erhebliche Zweifel an der rechtskonformen Behandlung von dortigen Asylsuchenden gab. Die praktische Dysfunktionalität des Dublin-Systems und seine durch das „Erstverursacherprinzip“ hervorgerufene Unfairness bei der innereuropäischen Lastenteilung war dementsprechend ein wesentlicher Ausgangspunkt für die jüngeren Reformbemühungen.

Die unklare Bedeutung des im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankerten Solidaritätsprinzips offenbart sich vor allem in Zeiten der Massenankünfte, in denen die Ungleichverteilung von Asylsuchenden regelmäßig Spitzenwerte erreicht. Dies lässt sich gut am Beispiel Deutschlands als einem der Hauptzielländer für Asylmigration nachweisen: Während in den Jahren 2008 bis 2014, als insgesamt 1,8 Millionen Asylentscheidungen in der EU getroffen wurde, mit rund 484000 Anträgen etwa ein Viertel in Deutschland bearbeitet wurden, waren es nach der Massenankunft 2015 bis 2017 über die Hälfte der insgesamt 2,7 Millionen Asylverfahren. Ungleichgewichte zeigten sich auch in den südeuropäischen Staaten der Erstankunft im Vergleich zu stärker in der östlichen oder westlichen Peripherie der EU liegenden Staaten, die kaum von Geflüchtetenankünften berührt wurden. Versuche, die südeuropäischen Ankunftsstaaten durch die freiwillige Übernahme von Asylsuchenden zu entlasten, blieben wenig effektiv. Überdies waren ausgerechnet jene Staaten durch die zusätzliche Übernahme von Asylsuchenden am stärksten solidarisch, die ohnehin eine große Anzahl zu versorgen hatten, wie etwa Deutschland, während andere Staaten, wie beispielsweise Polen oder das Vereinigte Königreich, sich komplett verweigerten. Die Konsequenzen offenbarten sich in den Folgejahren. Immer mehr Asylsuchende versuchten aus den überforderten Erstaufnahmeländern weiterzureisen und stellten erneute Asylanträge in anderen EU-Staaten. Die verbindliche Anwendung des Solidaritätsprinzips war nach diesen Erfahrungen ein weiterer wichtiger Punkt auf der Reformagenda.

Schritte zur Reform

Die rasche Finalisierung eines Reformpakets in Bezug auf Migrationsmanagement und Asylverfahren war eines der erklärten Ziele der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Zu ihrem Amtsantritt im Sommer 2019 forderte sie die designierte EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, in einem Brief zur Entwicklung eines „Neuen Migrations- und Asylpakts“ auf. Dieser solle „einen umfassenden Ansatz beinhalten, der die Außengrenzen, die Asyl- und Rückführungssysteme, den Schengen-Raum der Freizügigkeit und die Zusammenarbeit mit unseren Partnern außerhalb der EU berücksichtigt“. Konkret sollten die existierenden Asylverordnungen reformiert werden und neue Formen der Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme gefunden werden. Weitere Arbeitsaufträge betrafen die intensive Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern von Fluchtmigration, um Rückführungen effektiver zu gestalten, die Bekämpfung von Menschenschmuggel sowie die Etablierung einer reformierten und verstärkten Grenz- und Küstenwache. Diese anspruchsvolle Auftragsliste, so schließt der Brief, soll im Ergebnis dazu dienen, die Europäische Bewegungsfreiheit im Inneren, also das Schengen-System, sicherzustellen und die Ausgangsbasis für künftige EU-Erweiterungsschritte zu schaffen.

Im September 2020 legte die Europäische Kommission ein Reformpaket mit fünf Legislativvorschlägen vor. Diese umfassten neue Verfahren zur Überprüfung irregulärer Migrant:innen bei ihrer Ankunft in der EU, die Erfassung biometrischer Daten, Verfahren für die Stellung und Bearbeitung von Asylanträgen, Vorschriften zur Bestimmung des für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaates sowie solidarische Komponenten der Zusammenarbeit und Regelungen für den Umgang mit Krisensituationen. Die Vorschläge wurden in den Folgejahren Stück für Stück durch die EU-Minister:innen diskutiert und abgestimmt. Eine endgültige Einigung über all diese Legislativvorschläge kam im Juni 2023 unter der spanischen Ratspräsidentschaft zustande. Im anschließenden Trilog, einem Aushandlungsformat zwischen Europäischer Kommission, dem Rat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament, wurden noch offene strittige Punkte diskutiert und zu konsensualen Ergebnissen geführt. Am 20. Dezember 2023 konnte der Trilog erfolgreich abgeschlossen werden. Am 14. Mai 2024 schließlich, kurz vor dem Ende der Legislaturperiode, nahm der Rat der Europäischen Union das Reformpaket an.

Hauptbestandteile des neuen GEAS

Die wesentlichen Bestandteile des neuen Gemeinsamen Asylsystems sind in vier Verordnungen verankert. Mit der Screening-Verordnung wird eine verbindliche Identitätsfeststellung und Sicherheitsüberprüfung aller irregulär einreisenden Personen direkt an den EU-Außengrenzen festgeschrieben. Dazu gehören die Abnahme von Fingerabdrücken, die Identitätsfeststellung sowie eine Prüfung des Gesundheitszustands und potenzieller Sicherheitsrisiken. Das Verfahren soll in der Nähe der Außengrenze stattfinden und maximal sieben Tage dauern. Die einreisenden Personen können für die Zeit des Verfahrens festgehalten werden.

Anschließend wird die neue Asylverfahrensordnung angewandt. Asylgesuche von Personen, die geringe Chancen auf einen Schutzstatus haben – als Indikator gilt eine EU-weite Anerkennungsquote von 20 Prozent oder weniger für das jeweilige Herkunftsland – sowie Personen, die im Screening-Verfahren keine Identitätsdokumente vorweisen können oder widersprüchliche Angaben machen, werden im sogenannten Grenzverfahren behandelt. Hierbei handelt es sich um ein Schnellverfahren mit eingeschränktem Zugang zu Rechtsmitteln gegen ablehnende Asylbescheide. Das Schnellverfahren soll in maximal zwölf Wochen abgeschlossen sein und wird direkt an der EU-Außengrenze unter der „Fiktion der Nicht-Einreise“ durchgeführt. Damit geht das Ziel einher, Personen nach einer antizipierten Ablehnung des Asylgesuchs rasch in Herkunfts- oder Transitstaaten zurückführen zu können. Ein weiterer Bestandteil der Asylverfahrensordnung ist die Prüfung, ob Schutzsuchende aus einem sicheren Drittstaat oder einem Land eingereist sind, in dem sie bereits einen Schutzstatus hätten beantragen können. In diesem Fall kann das Asylgesuch für unzulässig erklärt werden und können die Schutzsuchenden in das benannte Land abgeschoben werden. Damit verbunden soll die innerhalb der EU sehr divergente Liste sicherer Drittstaaten vereinheitlicht werden.

Der dritte Baustein, die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung, regelt die Verteilung von Schutzsuchenden innerhalb der Europäischen Union. Zwar verbleibt die Zuständigkeit für Asylbewerber:innen weiterhin prinzipiell bei den Staaten, in denen sie zuerst eingereist sind. Auch die Bestimmung der Zuständigkeit für Asylverfahren (Dublin III) und die sich daran anschließenden Transferverfahren bleiben bestehen. Allerdings soll die Europäische Kommission jedes Jahr einen Umverteilungsschlüssel konzipieren, nach dem mindestens 30000 Schutzsuchende aus besonders belasteten Staaten in andere EU-Staaten umverteilt werden. Zudem ist ein gemeinsames Budget für die Finanzierung von Aufnahmemaßnahmen vorgesehen, in das alle EU-Mitgliedstaaten einzahlen.

Der vierte Baustein, die Krisenverordnung, regelt das Vorgehen während einer identifizierten Krise, beispielsweise durch eine Massenankunft von Geflüchteten. In diesem Fall sind Schnellverfahren für alle ankommenden Schutzsuchenden vorgesehen. Diese können bis zu 18 Wochen unter haftähnlichen Bedingungen an der EU-Außengrenze festgehalten werden und von dort im Eilverfahren abgeschoben werden. Zudem ist unter einer Krisensituation die zusätzliche Weiterverteilung von Geflüchteten an andere Mitgliedstaaten vorgesehen.

Kritikpunkte

Die Reform kann als politische Kompromisslösung bezeichnet werden, die den kleinsten gemeinsamen Nenner fixiert. Ihr Zustandekommen wird von den beteiligten Akteur:innen als Erfolg gefeiert – zumindest aus Perspektive des Europäischen Integrationsprozesses zu Recht. Denn ein Scheitern einer Einigung hätte die gemeinsame Basis des Europäischen Projekts wohl gefährlich ins Wanken gebracht. Doch was ist konkret mit den Reformvorschlägen gewonnen, und wie steht es mit ihrer Umsetzbarkeit?

Besonders kritisch muss die Umsetzbarkeit der neuen Screening-Verordnung und der sich anschließenden Grenzverfahren betrachtet werden. Während das Ziel, sofort beim Übertreten der EU-Außengrenze die Identität von Schutzsuchenden festzustellen, zweifellos richtig und wichtig für die Aufrechterhaltung der staatlichen Souveränität der EU-Mitgliedstaaten ist, zeigt die Praxis, dass Identitätsfeststellungen häufig schwierig sind, etwa weil keine Identitätspapiere mitgeführt werden, diese auf der Flucht verloren gingen oder durch die Herkunftsstaaten nicht ausgestellt oder herausgegeben wurden. Man darf demnach mit einem großen Anteil von Asylsuchenden rechnen, die das Grenzverfahren durchlaufen müssen – zusammen mit jenen, denen auf Grundlage eines EU-weiten Durchschnittswertes von 20 Prozent oder weniger bewilligten Schutzersuchen geringe Aussichten auf einen erfolgreichen Asylantrag unterstellt werden. Sie alle haben durch die Schnellverfahren geringere Chancen, ihre individuellen Schutzbedarfe plausibel zu machen, denn es bleibt weniger Zeit für die Vorbereitung auf das Verfahren. Auch der Zugang zu unabhängigen Institutionen der Verfahrensberatung dürfte schwieriger sein. Zugleich ist angesichts der Erfahrungen mit Lagern an der EU-Außengrenze zu befürchten, dass die Unterbringungsstandards weit unter das menschenwürdige Niveau herabfallen. Sollte die Verfahrensbeschleunigung bis hin zur erfolgreichen Abschiebung nicht umsetzbar sein, so werden die geplanten 30000 Unterbringungsplätze nicht annähernd ausreichen, um Asylsuchende während des Grenzverfahrens angemessen unterzubringen. Eine Prekarisierung ihrer Lebensumstände über eine möglicherweise weit über die anvisierten zwölf Wochen reichende Dauer ist zu befürchten. Die Zustände im völlig überfüllten Lager Moria auf Lesbos, das im Jahr 2020 abbrannte und durch das nicht minder dystopische Lager Kara Tepe ersetzt wurde, könnte damit eine Blaupause für den praktischen Umgang mit Asylsuchenden im Rahmen des neuen GEAS sein.

Ein zweiter wesentlicher Kritikpunkt ist die Verantwortungsteilung auf der Basis des im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankerten Solidaritätsprinzips. Die Rückschau auf die bisherige Asylpraxis zeigt die erhebliche Ungleichverteilung von Asylsuchenden in der Europäischen Union, die sich durch die europäische Geografie in Verbindung mit den Prinzipien der Dublin-III-Regelung zur Bestimmung der Zuständigkeit für Asylverfahren ergibt. Auch die Dysfunktionalität des Systems war und ist klar ersichtlich. Umso enttäuschender ist, dass die Prinzipien der Dublin-III-Regelung auch im reformierten Asyl- und Migrationspaket erhalten bleiben. Neu ist das anvisierte Umverteilungsverfahren in Phasen der Überlastung einzelner EU-Staaten, das in der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung formuliert wurde, das aber neben der Aufnahme von Asylsuchenden auch die Alternative von Ausgleichszahlungen in einen gemeinsamen Fonds zur Bewältigung der Flüchtlingsaufnahme und -integration vorsieht. Pro nicht übernommenen Asylsuchenden soll ein Betrag von 20000 Euro eingezahlt werden. Während die Einigung auf den gerechten Anteil der zwischenstaatlichen Solidarität auf der Basis der Bevölkerungsanteile und des Bruttoinlandsprodukts jedes EU-Mitgliedstaates positiv zu bewerten ist, lässt die Freiwilligkeit in der Art des Solidaritätsbeitrags Zweifel an einem effektiven Entlastungsmechanismus aufkommen. Auch dafür gibt es eine empirische Blaupause: Bereits in den Jahren der Massenankunft 2015/16 wurden Rufe nach innereuropäischer Solidarität bei der gemeinsamen Bewältigung der Geflüchtetenaufnahme laut. Im Sommer 2015 schlug die Europäische Kommission eine Entlastung der Erstankunftsländer Italien und Griechenland vor. In zwei Entscheidungen des Europäischen Rats wurde im Herbst 2015 beschlossen, 160000 Asylsuchende mit guten Chancen auf einen positiven Verfahrensausgang innerhalb von zwei Jahren anhand eines vereinbarten Verteilungsschlüssels in andere EU-Länder umzuverteilen. Doch nach Ablauf dieses Zeitfensters waren lediglich 35000 Personen umverteilt worden – und das vorwiegend in jene Staaten, die ohnehin bereits überproportional viele Asylsuchende aufgenommen hatten. Auch innerhalb des neuen GEAS dürften sich Staaten der gemeinsamen Verantwortung für Schutzsuchende durch die vergleichsweise milde Zahlung von Ausgleichsbeträgen entziehen. Die Weigerung Polens und Ungarns, dem neuen Asyl- und Migrationspaket im Europäischen Rat zuzustimmen, deutet ein „Weiter so“ in der Praxis der fairen Verantwortungsteilung zumindest an.

Ausblick

Während die Umsetzung des neuen Asyl- und Migrationspakts rund zwei Jahre in Anspruch nehmen dürfte, werden in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten Stimmen lauter, die auf eine noch weitergehendere Verschärfung des Zugangs zum Asylverfahren sowie eine möglichst sofortige Umsetzung des Pakts pochen. Ungarn und die Niederlande kündigten sogar an, komplett aus dem GEAS aussteigen zu wollen. Auch in Deutschland ist dieser Diskurs deutlich zu hören, wobei die Forderung meist durch zwei Argumente gestützt wird: einerseits die Feststellung, dass für viele nach Deutschland einreisende Asylsuchende durch Deutschlands geografische Lage zwangsläufig ein anderer EU-Staat zuständig sein müsste und man daher wirksame Mechanismen der Abwehr von irregulären Einreisen benötige; zum anderen, dass Integrationsstrukturen auf kommunaler Ebene durch die vielen Schutzsuchenden der vergangenen Jahre überfordert seien. Beide Argumente erzeugen politischen Handlungsdruck, eigenständige nationale Lösungen der Migrationssteuerung zu entwickeln, sei es durch die Einführung stationärer Grenzkontrollen, durch die Aushandlung von Rücknahmeübereinkommen mit Herkunftsstaaten von Asylsuchenden oder durch Verschärfungen im Bereich der sozialen Transferleistungen für Asylsuchende. Terrorakte wie das durch einen Asylbewerber verübte Attentat von Solingen verstärken diese Diskursrichtung und lassen nach und nach die empirisch nachweisbaren Erfolge der Integrationsarbeit in den Hintergrund treten, die insbesondere durch eine engagierte Zivilgesellschaft und Akteur:innen auf kommunaler Ebene getragen wurde. Die Gefahr ist groß, dass durch die Politisierung von Migration und Asyl die sachliche Bearbeitung existierender Problemlagen erschwert wird und sich zudem ein öffentliches Bild einstellt, das jegliche Form der Migration sowie die Anwesenheit von Menschen mit Migrationsmerkmalen problematisiert. Ein Blick in die Einwanderungsgeschichte des vereinten Deutschlands zeigt viele Beispiele für die Brisanz der Thematik. In der Konsequenz werden allzu häufig politische Maßnahmen beschlossen, die durch „Symbolpolitik“ auf Ängste und Logiken der Politisierung reagieren, anstatt identifizierte Problemlagen zu analysieren und auf dieser Basis pragmatische Lösungen zu entwickeln. Über die Zeit kulminieren die sich immer rascher vollziehenden Zyklen von Ankündigung und Ernüchterung zu einer umfassenden Frustration, bei der Politiker:innen, Bevölkerung und Medien nicht nur das Gemeinsame Europäische Asylsystem als solches infrage stellen, sondern auch die grundsätzliche Legitimität von Migration, Flucht und Asyl. Diese Gefahr besteht grundsätzlich auch bei dem nun verabschiedeten Reformpaket.

ist Professorin für Humangeografie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der Technischen Universität Chemnitz.