Seit Jahrzehnten gibt es in Deutschland „Migrantenselbstorganisationen“ (MSO), die als Organisationen definiert werden, die von einst Zugewanderten oder deren Nachfahren gegründet worden sind. Ihre Mitglieder haben überwiegend eine Zuwanderungsgeschichte, und ihre Ziele und Aktivitäten sind eng mit den Lebensumständen und Interessen von Menschen mit Migrationsbiografie in Deutschland verknüpft.
In der Folge wurden MSO zunehmend nicht mehr aus einer problem- und defizit-, sondern aus einer potenzialorientierten Perspektive betrachtet. Während MSO jahrzehntelang misstrauisch beobachtet worden waren und man ihnen die Etablierung von „Parallelgesellschaften“ unterstellt hatte, wurden sie immer stärker als wichtige zivilgesellschaftliche und integrationspolitische Akteure wahrgenommen, deren ehrenamtliche Strukturen und Aktivitäten gefördert werden müssen.
Trends und Funktionen
Die Anzahl der überwiegend als Vereine organisierten MSO kann für Deutschland nur geschätzt werden, da es kein Register gibt, in dem diese Organisationen vollständig gelistet werden.
In der Zeit der Arbeitsmigration fungierten herkunftshomogene MSO als Orte der Geselligkeit und Zusammenkunft, zur Pflege der Heimatkultur und zur gegenseitigen Unterstützung unter Landsleuten in einem fremden Land. Aus anfänglichen Angeboten in den Bereichen Kultur, Sport, Sprache, Freizeit und Religion entwickelten MSO schrittweise funktionale und bedarfsorientierte soziale Dienstleistungen sowie Unterstützungs- und Beratungsangebote. Dies ist als Reaktion auf ausbleibende oder zeitlich verzögerte staatliche Leistungen zu betrachten, ging der Staat doch von einem vorübergehenden Aufenthalt der Arbeitsmigrant*innen in Deutschland aus. Im Laufe der Zeit wurden die MSO herkunftsheterogener, viele organisierten sich als Vereine, die sich – insbesondere nach dem Anwerbestopp 1973 – für eine Verbesserung der Lebenssituation, für politische Partizipation und für die Bildungsbedarfe ihrer Mitglieder einsetzten.
Vor diesem Hintergrund können vier zentrale Funktionen von MSO idenifiziert werden: erstens die „Homemaking“-Funktion, also die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls und die Wahrnehmung der MSO als „Zuhause“; zweitens die Dienstleistungsfunktion, welche die Bereitstellung von Beratungs- und Sozialleistungen umfasst; drittens die Scharnierfunktion, die den Zugang zum formellen Sozial- und Wohlfahrtssystem ermöglicht, sowie viertens die Anwaltschafts- beziehungsweise Advocacy-Funktion, also die Interessenvertretung von Menschen mit Migrationsbiografie im öffentlichen und politischen Diskurs.
Im Umgang mit und bei der Bewertung von MSO als zu befähigende und ihre Zielgruppen befähigende Organisationen kommt dem Konzept des Empowerments eine wesentliche Bedeutung zu. Der Begriff beschreibt in der Sozialen Arbeit den Übergang von einem defizit- zu einem ressourcenorientierten Klientenbild. Es geht um Handlungsansätze, die auf menschliche Stärken und Potenziale, die Förderung von Selbstorganisation, gemeinschaftlichem Handeln, Kompetenzaktivierung und autonome Lebensführung fokussieren.
Dabei ist hervorzuheben, dass der Begriff „Migrantenselbstorganisation“ als solcher eine einheitliche Kategorie suggeriert, die der enormen Vielfalt dieser Art von Organisation nicht gerecht wird. „Die“ MSO gibt es nicht. Generell ist das Feld der MSO sehr dynamisch und gekennzeichnet durch hohe Fluktuation und Wandlungsfähigkeit. MSO unterscheiden sich erheblich hinsichtlich ihrer Ziele, ihrer Aktivitätsfelder und Funktionswahrnehmungen, ihrer Organisations- und Mitgliederstrukturen, ihrer personellen und finanziellen Ressourcenausstattung und ihres Kooperationsverhaltens auf kommunaler, Landes-, Bundes- oder internationaler Ebene. Ihr Selbstverständnis kann religiös, politisch, kulturell, sozial, national (gemischt) geprägt sein, und ihre Aktivitäten können sich auf Deutschland und/oder das Herkunfts- oder Abstammungsland beziehen.
Ferner darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Begriff „Migranten(selbst)organisation“ kontrovers diskutiert wird. Während sich empirisch zeigt, dass der Begriff mit dem Selbstverständnis vieler Vereine (75,8 Prozent) kompatibel ist,
Vor diesem Hintergrund hat sich 2015 das bundesweite Netzwerk der Neuen Deutschen Organisationen (ndo) als ausdrücklich postmigrantische Bewegung gegründet, das sich für die Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland und Heimat für Menschen mit und ohne Migrationsbiografie einsetzt. Im Fokus stehen Zugehörigkeitsdiskurse, Rassismus und Antidiskriminierungsarbeit mit dem Ziel der Anerkennung vielfältiger Identitäten und der Durchsetzung gleicher Rechte insbesondere auch von Schwarzen, Indigenen und People of Color (BIPoC).
Viele MSO haben sich in den vergangenen Jahren in lokalen oder überregionalen Verbänden zusammengeschlossen.
Aktivitätsfelder und Professionalisierungsgrade
Eine Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) zeigt, dass MSO in vielen Aktivitätsfeldern gleichzeitig tätig sind. Am häufigsten geht es um Austausch zwischen Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte (45,4 Prozent), gefolgt von Kinder- und Jugendarbeit (45,3 Prozent), Bildungsmaßnahmen (42,1 Prozent), künstlerisch-kulturellen Aktivitäten (39,3 Prozent), Unterstützung von Geflüchteten (35,9 Prozent), Beratungsangeboten (32,6 Prozent), Angeboten für Frauen (25,7 Prozent), Eltern-/Familienarbeit (19,1 Prozent) und der Pflege der Herkunftskultur(en) (19 Prozent).
Professionalisierung und hauptamtliche Strukturen sind für die Tätigkeiten von MSO entscheidend, insbesondere im Wettbewerb um Fördermittel und im qualifizierten Umgang mit vulnerablen Personengruppen. Der Bedarf an bezahlten Mitarbeiter*innen variiert stark je nach Tätigkeitsfeld. In sozialen Bereichen wie etwa der Flüchtlingshilfe oder Bildungsarbeit tätige MSO haben deutlich mehr bezahlte Mitarbeiter*innen als Kultur-, Religions- und Sportorganisationen.
Im Fokus: Flüchtlingshilfe
Seit der historischen Fluchtsituation 2015/16 haben MSO eine deutliche Aufwertung als unverzichtbare zivilgesellschaftliche und integrationspolitische Akteure erfahren. Zahlreiche MSO engagier(t)en sich in der Flüchtlingshilfe, und überforderte Kommunen, die sich um die Erstaufnahme vieler Menschen kümmern mussten, benötigten dringend die Unterstützung der MSO und arbeiteten mit ihnen zusammen.
Laut der SVR-Studie gehören zu den häufigsten Angeboten Begleitdienste, etwa bei Arzt- oder Behördengängen (41 Prozent), Unterstützung bei Kontaktaufnahmen zu anderen Migrant*innen (40 Prozent), bei der Erstorientierung (35 Prozent), beim Übersetzen/Dolmetschen (28,5 Prozent), bei der Beantragung von Leistungen (19 Prozent), der Arbeitsmarktintegration (16,4 Prozent) und der Wohnungssuche (10,9 Prozent).
Alltägliche Herausforderungen von Geflüchteten und Migrant*innen und damit von vielen MSO hat schließlich die Covid-19-Pandemie verschärft: Digitalisierte bürokratische Verfahren, fehlende zentrale Beratungspersonen und mangelnde kultursensible sowie sprachliche Kompetenzen in Regelinstitutionen wie Jobcentern und Ausländerbehörden erschwerten die Kommunikation und Durchsetzung von Leistungsansprüchen. In dieser Situation übernahmen MSO vorübergehend zahlreiche Aufgaben staatlicher Stellen, indem sie selbst als Anlaufstelle fungierten und etwa Amtsinformationen übersetzten und Informationshotlines einrichteten.
Kooperationen: Status quo und Barrieren
Studien zeigen, dass sich MSO insbesondere mit städtischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Stadtverwaltungen und anderen gemeinnützigen Vereinen und MSO vernetzen.
Während MSO auf Bundesebene in Teilhabefragen als wichtige Partner anerkannt sind, ist die Lage in Kommunen sehr unterschiedlich: In einigen funktioniert die Zusammenarbeit gut, in anderen müssen MSO weiterhin um Anerkennung kämpfen und ihre Einbindung in relevante Gremien und Netzwerke einfordern. Für erfolgreiche Kooperationsbeziehungen zentral sind kommunalpolitische Erfahrungen mit (Flucht-)Zuwanderung und Integration, gewachsene Strukturen, persönliche Kontakte, Vertrauensbeziehungen sowie die Einstellungen von Einzelpersonen und Gruppen, die integrationspolitische Strukturen prägen oder geprägt haben und die Einbindung von MSO aktiv protegieren – oder Letzterer eher skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen.
Ressourcen und politische Förderung
Studien zeigen, dass MSO hinsichtlich ihrer finanziellen und personellen Ressourcen mit Mitgliedern, Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen sehr disparat aufgestellt sind. Sie finanzieren sich insbesondere über Mitgliedsbeiträge, Spenden und Fördergelder. Wie andere gemeinnützige zivilgesellschaftliche Vereinigungen verfügen MSO über geringe finanzielle Mittel beziehungsweise Einnahmen. Ehrenamtliche spielen eine wichtige Rolle in den MSO, aber viele haben auch bezahlte Mitarbeiter*innen, was auf zunehmend professionelle Strukturen hinweist. Die bezahlten Beschäftigungsformen variieren allerdings erheblich.
Im Kontext von Finanzierungsfragen besteht für zivilgesellschaftliche Organisationen im Allgemeinen ein weitverbreitetes Problem in der ausschließlich projektbezogenen Förderung – der sogenannten Projektitis –, die Unsicherheiten, Instabilitäten und fehlende Nachhaltigkeit mit sich bringt. Die Logik der zeitlich befristeten Förderung führt dazu, dass Projekte nach Ablauf der Förderung nicht mehr finanziell abgesichert sind. Die Annahme, dass Fördermittel mit Eigenmitteln kompensiert werden können, erweist sich als unrealistisch, da MSO nicht in ausreichendem und verlässlichem Ausmaß Mitgliedsbeiträge und Einnahmen generieren können, um Personal und laufende Kosten zu finanzieren. Zudem bedarf es hauptamtlicher, geschulter Mitarbeiter*innen, um komplexe bürokratische Antragsverfahren durchlaufen und Fördermittel akquirieren zu können.
Auf Bundesebene gibt es verschiedene Förderprogramme zur Unterstützung des Strukturaufbaus und der Professionalisierung von MSO. Als Reaktion auf die Flüchtlingsbewegung 2015 wurden Programme gestartet, von denen auch MSO profitier(t)en, zum Beispiel „Menschen stärken Menschen“ und „Demokratie leben!“ des Bundesfamilienministeriums. Alle Programme sehen lediglich zeitlich befristete Projektförderungen und keine dauerhafte institutionelle Finanzierungen vor. In den Bundesländern konzentrieren sich Förderungen insbesondere auf das Empowerment und die Integration von Migrant*innen und Geflüchteten und können von allen Vereinen und Trägern beantragt werden. Einige Länder legen Wert auf MSO-spezifische Förderprogramme.
Perspektiven
Insgesamt ist die Wertschätzung der migrationssensiblen Arbeit von MSO in den vergangenen Jahren merklich gestiegen, besonders hinsichtlich ihrer als notwendig erachteten Beratungs-, Begleitungs- und Integrationsangebote für Menschen, die neu nach Deutschland kommen oder bereits länger hier leben. Seit 2015 nehmen Kommunalverwaltungen und Behörden verstärkt die Dienste von MSO in Anspruch und unterstützen sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Wenngleich sich vieles in puncto Einbindung und Kooperation verbessert hat, verweisen Studien auf weitere Unterstützungs- und Verbesserungsbedarfe. So wünschen sich MSO eine stärkere institutionelle Förderung, um die Verfügbarkeit von Personal und Infrastruktur dauerhaft sicherzustellen, sowie Bürokratieabbau und Unterstützung bei der Antragstellung für Fördermittel.
Für den Aufbau langfristiger und erfolgreicher Kooperationsstrukturen ist vielerorts noch ein Bewusstseinswandel nötig, der die Bereitschaft etablierter Akteur*innen erfordert, ihre eigenen Rollen und die Leistungen der MSO zu reflektieren und Letztere als wichtige „Sparringspartner“ anzuerkennen. Dabei sollten die wechselseitigen Mehrwerte wie Ressourcenzusammenführung, Wissens- und Kompetenzzuwachs, erweiterte Netzwerke, Klientelzugänge und -bindungen, effektivere Aufgabenerfüllung und gegenseitige Rückendeckung, etwa bei Diskriminierungen durch antidemokratische Kräfte, erkannt werden.
Für eine bessere Teilhabe von MSO an Regelstrukturen sollte die Zusammenarbeit zwischen Kommunen, lokalen Dienstleistern, Wohlfahrtsverbänden und MSO-Dachverbänden intensiviert werden, zum Beispiel durch regelmäßige moderierte Dialogformate. MSO sollten sich fachlich weiterqualifizieren und vernetzen, unterstützt durch Fortbildungen und Fördermittel. Zudem erscheint es förderpolitisch sinnvoll, Professionalisierungs- und Strukturaufbauprogramme für aktivitäts- und zielgruppeneinschlägige MSO auszubauen. Differenzierte Fördermaßnahmen sind erforderlich, um auch niedrigschwellige Angebote von MSO zu unterstützen, die nicht in die Regelförderung wollen, aber wichtige Soziale Arbeit leisten. Wohlfahrtsverbände können ihre Mitgliedsorganisationen weiterqualifizieren, jedoch benötigen MSO-Verbände mit einem wohlfahrtspflegerischen Profil dafür finanzielle Absicherung.
Für die tatsächliche Umsetzung der Maßnahmen ist es entscheidend, dass alle Beteiligten aktiv werden und die Initiative ergreifen, wobei etablierte Verbände und Organisationen Zugänge ermöglichen können. Veränderungen sind keine Selbstläufer – insbesondere angesichts der harten Konkurrenz um Fördermittel und bestehender Interessen, eigene Vorteile zu sichern. Allerdings sind die Maßnahmen im Sinne eines wechselseitigen Empowerments ernsthafte Anstrengungen wert und in einer postmigrantischen Gesellschaft mit anhaltender und benötigter Zuwanderung, in der in vielen Stadtteilen der Anteil von Bevölkerungsgruppen mit Migrations- oder Fluchtbiografien weit über 50 Prozent liegt, hochrelevant.