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Zwischen Empowerment, Kooperation und Abhängigkeit | bpb.de

Zwischen Empowerment, Kooperation und Abhängigkeit Migrantenselbstorganisationen als Integrationsakteure in Deutschland

Anna Wiebke Klie

/ 14 Minuten zu lesen

Migrantenselbstorganisationen sind wichtige kommunale Integrationsakteure. Um Herausforderungen wie Fördermittelabhängigkeit und Kooperationsbarrieren zu bewältigen, sind ein Bewusstseinswandel und eine Reform der Förderstrukturen erforderlich.

Seit Jahrzehnten gibt es in Deutschland „Migrantenselbstorganisationen“ (MSO), die als Organisationen definiert werden, die von einst Zugewanderten oder deren Nachfahren gegründet worden sind. Ihre Mitglieder haben überwiegend eine Zuwanderungsgeschichte, und ihre Ziele und Aktivitäten sind eng mit den Lebensumständen und Interessen von Menschen mit Migrationsbiografie in Deutschland verknüpft. Ihre ereignisreiche Geschichte beginnt mit der Ankunft der sogenannten Gastarbeiter in den 1950er und 1960er Jahren. Ursprünglich als temporäre, flexible Arbeitskräfte angeworben, blieben viele Migrant*innen nach dem Anwerbestopp 1973 dauerhaft in Deutschland und holten ihre Familien nach. Aufgrund der angenommenen Rückkehr in die Heimatländer erfuhren sie lange Zeit wenig politische Aufmerksamkeit und Unterstützung. Erst mit dem Zuwanderungsgesetz 2005 und dem Nationalen Integrationsplan 2007 kam es im Rahmen einer nachholenden Integrationspolitik zu einem Wendepunkt: Die nicht mehr länger zu leugnende Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, machte es notwendig, Zugewanderte mit dauerhaftem Aufenthaltsstatus langfristig zu integrieren.

In der Folge wurden MSO zunehmend nicht mehr aus einer problem- und defizit-, sondern aus einer potenzialorientierten Perspektive betrachtet. Während MSO jahrzehntelang misstrauisch beobachtet worden waren und man ihnen die Etablierung von „Parallelgesellschaften“ unterstellt hatte, wurden sie immer stärker als wichtige zivilgesellschaftliche und integrationspolitische Akteure wahrgenommen, deren ehrenamtliche Strukturen und Aktivitäten gefördert werden müssen. Gemäß dem integrationspolitischen Leitprinzip des „Förderns und Forderns“ kann Integration nicht allein vom Staat geleistet werden, sondern erfordert eine „aktive Bürgergesellschaft, in der möglichst viele Menschen Verantwortung übernehmen und Eigeninitiative entwickeln“. Das freiwillige Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund und ihren Vereinigungen wird als Katalysator und Indikator erfolgreicher Integrationsprozesse betrachtet. Fortan lag der Fokus auf Aktivierung, Einbindung und Professionalisierung von MSO.

Trends und Funktionen

Die Anzahl der überwiegend als Vereine organisierten MSO kann für Deutschland nur geschätzt werden, da es kein Register gibt, in dem diese Organisationen vollständig gelistet werden. Aktuell wird die Zahl der aktiven, formal als Vereine organisierten MSO mit 12400 bis 14300 veranschlagt. Die meisten MSO gibt es in den (Groß-)Städten der bevölkerungsreichsten Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern und Hessen; in den fünf ostdeutschen Bundesländern sind insgesamt die wenigsten MSO beheimatet.

In der Zeit der Arbeitsmigration fungierten herkunftshomogene MSO als Orte der Geselligkeit und Zusammenkunft, zur Pflege der Heimatkultur und zur gegenseitigen Unterstützung unter Landsleuten in einem fremden Land. Aus anfänglichen Angeboten in den Bereichen Kultur, Sport, Sprache, Freizeit und Religion entwickelten MSO schrittweise funktionale und bedarfsorientierte soziale Dienstleistungen sowie Unterstützungs- und Beratungsangebote. Dies ist als Reaktion auf ausbleibende oder zeitlich verzögerte staatliche Leistungen zu betrachten, ging der Staat doch von einem vorübergehenden Aufenthalt der Arbeitsmigrant*innen in Deutschland aus. Im Laufe der Zeit wurden die MSO herkunftsheterogener, viele organisierten sich als Vereine, die sich – insbesondere nach dem Anwerbestopp 1973 – für eine Verbesserung der Lebenssituation, für politische Partizipation und für die Bildungsbedarfe ihrer Mitglieder einsetzten.

Vor diesem Hintergrund können vier zentrale Funktionen von MSO idenifiziert werden: erstens die „Homemaking“-Funktion, also die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls und die Wahrnehmung der MSO als „Zuhause“; zweitens die Dienstleistungsfunktion, welche die Bereitstellung von Beratungs- und Sozialleistungen umfasst; drittens die Scharnierfunktion, die den Zugang zum formellen Sozial- und Wohlfahrtssystem ermöglicht, sowie viertens die Anwaltschafts- beziehungsweise Advocacy-Funktion, also die Interessenvertretung von Menschen mit Migrationsbiografie im öffentlichen und politischen Diskurs.

Im Umgang mit und bei der Bewertung von MSO als zu befähigende und ihre Zielgruppen befähigende Organisationen kommt dem Konzept des Empowerments eine wesentliche Bedeutung zu. Der Begriff beschreibt in der Sozialen Arbeit den Übergang von einem defizit- zu einem ressourcenorientierten Klientenbild. Es geht um Handlungsansätze, die auf menschliche Stärken und Potenziale, die Förderung von Selbstorganisation, gemeinschaftlichem Handeln, Kompetenzaktivierung und autonome Lebensführung fokussieren. Empowerment zielt auf die Mikro-, Meso- und Makroebene: Auf individueller Ebene werden Kompetenzen aktiviert, die auf Interaktions- und Organisationsebene in Handlungsmuster umgesetzt werden. Auf gesellschaftlicher Ebene geht es um die Neugestaltung und Umverteilung sozialer und politischer Einflussmöglichkeiten sowie Machtverhältnisse. Mit ihrer Doppelfunktion zwischen Vergemeinschaftung durch Selbstorganisation und Vergesellschaftung durch (in)direkte Förderung der Selbstständigkeit ihrer Mitglieder (Klientel) bieten MSO Gelegenheitsstrukturen, in denen Identitäten stabilisiert, Ressourcen aktiviert und Kompetenzen entwickelt werden. Durch partizipative, kooperative Projekte können sie letztlich auch gesellschaftliche Strukturveränderungen bewirken. Dafür ist neben der Mobilisierung und Motivierung aufgrund persönlicher Betroffenheit auch Unterstützung durch Mentor*innen erforderlich, die etwa auf kommunalpolitischer Ebene etabliert sind und die unterstützen, ermutigen und Türen öffnen können.

Dabei ist hervorzuheben, dass der Begriff „Migrantenselbstorganisation“ als solcher eine einheitliche Kategorie suggeriert, die der enormen Vielfalt dieser Art von Organisation nicht gerecht wird. „Die“ MSO gibt es nicht. Generell ist das Feld der MSO sehr dynamisch und gekennzeichnet durch hohe Fluktuation und Wandlungsfähigkeit. MSO unterscheiden sich erheblich hinsichtlich ihrer Ziele, ihrer Aktivitätsfelder und Funktionswahrnehmungen, ihrer Organisations- und Mitgliederstrukturen, ihrer personellen und finanziellen Ressourcenausstattung und ihres Kooperationsverhaltens auf kommunaler, Landes-, Bundes- oder internationaler Ebene. Ihr Selbstverständnis kann religiös, politisch, kulturell, sozial, national (gemischt) geprägt sein, und ihre Aktivitäten können sich auf Deutschland und/oder das Herkunfts- oder Abstammungsland beziehen.

Ferner darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Begriff „Migranten(selbst)organisation“ kontrovers diskutiert wird. Während sich empirisch zeigt, dass der Begriff mit dem Selbstverständnis vieler Vereine (75,8 Prozent) kompatibel ist, wird von Forscher*innen kritisch angemerkt, dass die fortbestehende Etikettierung als „migrantisch“ Ausdruck einer binären, rassifizierenden Konstruktionslogik sei, die Ausschlusspraktiken und Ungleichbehandlung befördere, anstatt Diskriminierung entgegenzuwirken und in einer postmigrantischen Gesellschaft Normalisierungsprozesse zu forcieren. Andererseits können migrationsbezogene Begriffe – wie der des „Migrationshintergrunds“ – als Analysekategorien fungieren, die auf „systematische Chancenungleichverteilungen“, geringere Ressourcenausstattungen, spezifische Bedarfe und Potenziale aufmerksam machen.

Vor diesem Hintergrund hat sich 2015 das bundesweite Netzwerk der Neuen Deutschen Organisationen (ndo) als ausdrücklich postmigrantische Bewegung gegründet, das sich für die Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland und Heimat für Menschen mit und ohne Migrationsbiografie einsetzt. Im Fokus stehen Zugehörigkeitsdiskurse, Rassismus und Antidiskriminierungsarbeit mit dem Ziel der Anerkennung vielfältiger Identitäten und der Durchsetzung gleicher Rechte insbesondere auch von Schwarzen, Indigenen und People of Color (BIPoC).

Viele MSO haben sich in den vergangenen Jahren in lokalen oder überregionalen Verbänden zusammengeschlossen. Diese dienen dem Informationsaustausch, der Interessenbündelung, der kollektiven Beteiligung an gesellschaftspolitischen Diskursen und der Positionsstärkung der Mitgliedsorganisationen. Die Interessenaggregation stellt für die Verbände allerdings auch eine Herausforderung dar, da zwischen MSO und Mitgliedern beziehungsweise Anspruchsgruppen aufgrund politischer Spannungen in den Herkunftsländern Konfliktlinien bestehen. Das ist beispielsweise zwischen Kurd*innen und Türk*innen der Fall oder aufgrund unterschiedlicher Positionierungen im Nahost-Konflikt, der seit den Terroranschlägen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sowohl innerhalb als auch zwischen MSO polarisiert und spaltet.

Aktivitätsfelder und Professionalisierungsgrade

Eine Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) zeigt, dass MSO in vielen Aktivitätsfeldern gleichzeitig tätig sind. Am häufigsten geht es um Austausch zwischen Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte (45,4 Prozent), gefolgt von Kinder- und Jugendarbeit (45,3 Prozent), Bildungsmaßnahmen (42,1 Prozent), künstlerisch-kulturellen Aktivitäten (39,3 Prozent), Unterstützung von Geflüchteten (35,9 Prozent), Beratungsangeboten (32,6 Prozent), Angeboten für Frauen (25,7 Prozent), Eltern-/Familienarbeit (19,1 Prozent) und der Pflege der Herkunftskultur(en) (19 Prozent). Damit liegt ein Tätigkeitsschwerpunkt der MSO in der Sozialen Arbeit. Seit vielen Jahren leisten MSO wichtige sozialstaatliche Aufgaben wie Integrations- und Sprachkurse, die grundlegende Voraussetzungen für die Inanspruchnahme regulärer Leistungen durch die Klientel sind.

Professionalisierung und hauptamtliche Strukturen sind für die Tätigkeiten von MSO entscheidend, insbesondere im Wettbewerb um Fördermittel und im qualifizierten Umgang mit vulnerablen Personengruppen. Der Bedarf an bezahlten Mitarbeiter*innen variiert stark je nach Tätigkeitsfeld. In sozialen Bereichen wie etwa der Flüchtlingshilfe oder Bildungsarbeit tätige MSO haben deutlich mehr bezahlte Mitarbeiter*innen als Kultur-, Religions- und Sportorganisationen. In den Bereichen Soziale Arbeit und Bildung sind hauptamtliche Strukturen und Fachkompetenzen erforderlich, um Förderbedingungen zu erfüllen und als professionelle Trägereinrichtung der freien Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch anerkannt zu werden. Daher ist mit Blick auf Aktivitäten zwischen verschiedenen MSO-Typen zu unterscheiden: Professionelle Projektträger mit hauptamtlichen Mitarbeiter*innen können spezialisierte Dienstleistungen anbieten, während MSO mit ausschließlich ehrenamtlichen Strukturen niedrigschwelligere Angebote wie Alltagsbegleitung oder Sprachkurse bereitstellen. Im Gesamtbild sind MSO in fachspezifischen Regelstrukturen und Fachgremien unterrepräsentiert, was ihre Einflussnahme und Sichtbarkeit einschränkt.

Im Fokus: Flüchtlingshilfe

Seit der historischen Fluchtsituation 2015/16 haben MSO eine deutliche Aufwertung als unverzichtbare zivilgesellschaftliche und integrationspolitische Akteure erfahren. Zahlreiche MSO engagier(t)en sich in der Flüchtlingshilfe, und überforderte Kommunen, die sich um die Erstaufnahme vieler Menschen kümmern mussten, benötigten dringend die Unterstützung der MSO und arbeiteten mit ihnen zusammen. MSO konnten ihre Expertise unter Beweis stellen und bestehende Vorbehalte weiter abbauen. Auch islamische MSO wurden als unentbehrliche Brückenbauer, Kulturdolmetscher und Vorbilder für Flüchtlinge betrachtet. Als direkte Anlaufstellen und Vermittler kommt MSO für das Empowerment und die Integration von Geflüchteten eine zentrale Bedeutung zu: Geteilte Migrations- oder Fluchterfahrungen sowie Herkunftsbezüge, gemeinsame Sprachen und Religionszugehörigkeiten bieten einen idealen Ausgangspunkt für Vertrauensaufbau und einen leichteren Zugang zu vulnerablen Personengruppen. Zudem können in MSO die in Deutschland geltenden demokratischen und partizipatorischen Prinzipien vermittelt werden. Damit rückt die Bedeutung der MSO als Akteure in der Flüchtlingshilfe und als kommunale Ansprech- und Kooperationspartner in den Fokus.

Laut der SVR-Studie gehören zu den häufigsten Angeboten Begleitdienste, etwa bei Arzt- oder Behördengängen (41 Prozent), Unterstützung bei Kontaktaufnahmen zu anderen Migrant*innen (40 Prozent), bei der Erstorientierung (35 Prozent), beim Übersetzen/Dolmetschen (28,5 Prozent), bei der Beantragung von Leistungen (19 Prozent), der Arbeitsmarktintegration (16,4 Prozent) und der Wohnungssuche (10,9 Prozent). In einer Studie in Nordrhein-Westfalen werden weitere Aktivitäten genannt: Deutsch- und Nachhilfeunterricht, Spendenannahme und -verteilung, Arbeit in Flüchtlingsunterkünften, Verpflegung, Kinderbetreuung, Fahrdienste, Freizeitgestaltung, seelsorgerische beziehungsweise psychologische und religiöse Betreuung sowie politischer Einsatz für Flüchtlingsrechte.

Alltägliche Herausforderungen von Geflüchteten und Migrant*innen und damit von vielen MSO hat schließlich die Covid-19-Pandemie verschärft: Digitalisierte bürokratische Verfahren, fehlende zentrale Beratungspersonen und mangelnde kultursensible sowie sprachliche Kompetenzen in Regelinstitutionen wie Jobcentern und Ausländerbehörden erschwerten die Kommunikation und Durchsetzung von Leistungsansprüchen. In dieser Situation übernahmen MSO vorübergehend zahlreiche Aufgaben staatlicher Stellen, indem sie selbst als Anlaufstelle fungierten und etwa Amtsinformationen übersetzten und Informationshotlines einrichteten.

Kooperationen: Status quo und Barrieren

Studien zeigen, dass sich MSO insbesondere mit städtischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Stadtverwaltungen und anderen gemeinnützigen Vereinen und MSO vernetzen. Die Kooperationen zielen auf langfristige Netzwerke, Infrastrukturzugang, Wissensaustausch, gemeinsame Fördermittelakquise, bessere Zielgruppenkontakte, Bekanntheitssteigerung der Angebote und den Abbau von Vorbehalten. Dabei gibt es jedoch größere Diskrepanzen in der Wahrnehmung der Zusammenarbeit als „partnerschaftlich“ und „gleichberechtigt“, insbesondere mit Blick auf Stadtverwaltungen.

Während MSO auf Bundesebene in Teilhabefragen als wichtige Partner anerkannt sind, ist die Lage in Kommunen sehr unterschiedlich: In einigen funktioniert die Zusammenarbeit gut, in anderen müssen MSO weiterhin um Anerkennung kämpfen und ihre Einbindung in relevante Gremien und Netzwerke einfordern. Für erfolgreiche Kooperationsbeziehungen zentral sind kommunalpolitische Erfahrungen mit (Flucht-)Zuwanderung und Integration, gewachsene Strukturen, persönliche Kontakte, Vertrauensbeziehungen sowie die Einstellungen von Einzelpersonen und Gruppen, die integrationspolitische Strukturen prägen oder geprägt haben und die Einbindung von MSO aktiv protegieren – oder Letzterer eher skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen. Kooperationen von MSO mit kommunalen Akteuren und Wohlfahrtsverbänden werden durch Machtasymmetrien, hohen Verwaltungsaufwand, ungleiche Ressourcenausstattungen, Konkurrenz um Fördergelder und Zielgruppen, unterschiedliche Mentalitäten, Konflikte zwischen bezahlten und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen sowie Anerkennungsprobleme erschwert. Zudem fühlen sich MSO oft instrumentalisiert.

Ressourcen und politische Förderung

Studien zeigen, dass MSO hinsichtlich ihrer finanziellen und personellen Ressourcen mit Mitgliedern, Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen sehr disparat aufgestellt sind. Sie finanzieren sich insbesondere über Mitgliedsbeiträge, Spenden und Fördergelder. Wie andere gemeinnützige zivilgesellschaftliche Vereinigungen verfügen MSO über geringe finanzielle Mittel beziehungsweise Einnahmen. Ehrenamtliche spielen eine wichtige Rolle in den MSO, aber viele haben auch bezahlte Mitarbeiter*innen, was auf zunehmend professionelle Strukturen hinweist. Die bezahlten Beschäftigungsformen variieren allerdings erheblich.

Im Kontext von Finanzierungsfragen besteht für zivilgesellschaftliche Organisationen im Allgemeinen ein weitverbreitetes Problem in der ausschließlich projektbezogenen Förderung – der sogenannten Projektitis –, die Unsicherheiten, Instabilitäten und fehlende Nachhaltigkeit mit sich bringt. Die Logik der zeitlich befristeten Förderung führt dazu, dass Projekte nach Ablauf der Förderung nicht mehr finanziell abgesichert sind. Die Annahme, dass Fördermittel mit Eigenmitteln kompensiert werden können, erweist sich als unrealistisch, da MSO nicht in ausreichendem und verlässlichem Ausmaß Mitgliedsbeiträge und Einnahmen generieren können, um Personal und laufende Kosten zu finanzieren. Zudem bedarf es hauptamtlicher, geschulter Mitarbeiter*innen, um komplexe bürokratische Antragsverfahren durchlaufen und Fördermittel akquirieren zu können.

Auf Bundesebene gibt es verschiedene Förderprogramme zur Unterstützung des Strukturaufbaus und der Professionalisierung von MSO. Als Reaktion auf die Flüchtlingsbewegung 2015 wurden Programme gestartet, von denen auch MSO profitier(t)en, zum Beispiel „Menschen stärken Menschen“ und „Demokratie leben!“ des Bundesfamilienministeriums. Alle Programme sehen lediglich zeitlich befristete Projektförderungen und keine dauerhafte institutionelle Finanzierungen vor. In den Bundesländern konzentrieren sich Förderungen insbesondere auf das Empowerment und die Integration von Migrant*innen und Geflüchteten und können von allen Vereinen und Trägern beantragt werden. Einige Länder legen Wert auf MSO-spezifische Förderprogramme.

Perspektiven

Insgesamt ist die Wertschätzung der migrationssensiblen Arbeit von MSO in den vergangenen Jahren merklich gestiegen, besonders hinsichtlich ihrer als notwendig erachteten Beratungs-, Begleitungs- und Integrationsangebote für Menschen, die neu nach Deutschland kommen oder bereits länger hier leben. Seit 2015 nehmen Kommunalverwaltungen und Behörden verstärkt die Dienste von MSO in Anspruch und unterstützen sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Wenngleich sich vieles in puncto Einbindung und Kooperation verbessert hat, verweisen Studien auf weitere Unterstützungs- und Verbesserungsbedarfe. So wünschen sich MSO eine stärkere institutionelle Förderung, um die Verfügbarkeit von Personal und Infrastruktur dauerhaft sicherzustellen, sowie Bürokratieabbau und Unterstützung bei der Antragstellung für Fördermittel. In diesem Kontext ist anzumerken, dass MSO mit hohen und steigenden Erwartungshaltungen konfrontiert sind, die zu Überforderung führen, wenn die für ihre Erfüllung benötigten Ressourcen nicht bereitgestellt werden. So bleibt die Einkalkulierung von MSO und ihren Leistungen – trotz der positiven Entwicklungen – angesichts leerer öffentlicher Kassen einer Funktionalisierung und Instrumentalisierung verdächtig: wenn MSO in staatlicher Verantwortung liegende Aufgaben übernehmen (sollen). Trotz erhöhter Wertschätzung fehlt es weiterhin an verlässlicher Unterstützung. In diesem Zusammenhang wird befürchtet, dass die Kommunen die schwierige Lage der MSO bislang nicht ausreichend erkannt haben und aufgrund struktureller Hindernisse, Hierarchiegefälle, starrer Verwaltungspraktiken und förderpolitischer Mängel ein hohes Rückschlagrisiko besteht. Bei der Einforderung von Leistungen und bei Kooperationen sollte die häufig instabile Ressourcenausstattung der MSO berücksichtigt werden. Die Förderlogik der „Projektitis“, die viele MSO in prekäre Abhängigkeiten zwingt, sollte zugunsten einer besseren Einbindung von MSO in kommunale und übergeordnete Strukturen überdacht und reformiert werden. Ohne angemessene Finanzierung wird eine dauerhafte Umsetzung von Maßnahmen von und mit MSO nicht möglich sein.

Für den Aufbau langfristiger und erfolgreicher Kooperationsstrukturen ist vielerorts noch ein Bewusstseinswandel nötig, der die Bereitschaft etablierter Akteur*innen erfordert, ihre eigenen Rollen und die Leistungen der MSO zu reflektieren und Letztere als wichtige „Sparringspartner“ anzuerkennen. Dabei sollten die wechselseitigen Mehrwerte wie Ressourcenzusammenführung, Wissens- und Kompetenzzuwachs, erweiterte Netzwerke, Klientelzugänge und -bindungen, effektivere Aufgabenerfüllung und gegenseitige Rückendeckung, etwa bei Diskriminierungen durch antidemokratische Kräfte, erkannt werden.

Für eine bessere Teilhabe von MSO an Regelstrukturen sollte die Zusammenarbeit zwischen Kommunen, lokalen Dienstleistern, Wohlfahrtsverbänden und MSO-Dachverbänden intensiviert werden, zum Beispiel durch regelmäßige moderierte Dialogformate. MSO sollten sich fachlich weiterqualifizieren und vernetzen, unterstützt durch Fortbildungen und Fördermittel. Zudem erscheint es förderpolitisch sinnvoll, Professionalisierungs- und Strukturaufbauprogramme für aktivitäts- und zielgruppeneinschlägige MSO auszubauen. Differenzierte Fördermaßnahmen sind erforderlich, um auch niedrigschwellige Angebote von MSO zu unterstützen, die nicht in die Regelförderung wollen, aber wichtige Soziale Arbeit leisten. Wohlfahrtsverbände können ihre Mitgliedsorganisationen weiterqualifizieren, jedoch benötigen MSO-Verbände mit einem wohlfahrtspflegerischen Profil dafür finanzielle Absicherung.

Für die tatsächliche Umsetzung der Maßnahmen ist es entscheidend, dass alle Beteiligten aktiv werden und die Initiative ergreifen, wobei etablierte Verbände und Organisationen Zugänge ermöglichen können. Veränderungen sind keine Selbstläufer – insbesondere angesichts der harten Konkurrenz um Fördermittel und bestehender Interessen, eigene Vorteile zu sichern. Allerdings sind die Maßnahmen im Sinne eines wechselseitigen Empowerments ernsthafte Anstrengungen wert und in einer postmigrantischen Gesellschaft mit anhaltender und benötigter Zuwanderung, in der in vielen Stadtteilen der Anteil von Bevölkerungsgruppen mit Migrations- oder Fluchtbiografien weit über 50 Prozent liegt, hochrelevant.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) (Hrsg.), Vielfältig engagiert – breit vernetzt – partiell eingebunden? Migrantenorganisationen als gestaltende Kraft in der Gesellschaft, Berlin 2020, S. 9.

  2. Vgl. Anna Wiebke Klie, Zivilgesellschaftliche Performanz von religiösen und säkularen Migrantenselbstorganisationen. Eine Studie in Nordrhein-Westfalen, Wiesbaden 2022, S. 3ff.

  3. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Der Nationale Integrationsplan. Neue Wege – Neue Chancen, Berlin 2007, S. 14.

  4. Vgl. ebd., S. 20f., 173f.

  5. Vgl. u.a. Uwe Hunger/Desirée Holz, Das zivilgesellschaftliche Engagement von Migrantenorganisationen. Ein Überblick über die Vielfalt und aktuelle Trends, in: Migration und Soziale Arbeit 41/2019, S. 18–23, hier S. 19.

  6. Vgl. Klie (Anm. 2), S. 26ff., 274f.

  7. Vgl. SVR (Anm. 1), S. 15.

  8. Vgl. Klie (Anm. 2), S. 29f.

  9. Ein herausragendes Beispiel für erzielte Bildungserfolge ist das Engagement der spanischen Elternvereine. Vgl. u.a. Uwe Hunger, Wie können Migrantenselbstorganisationen den Integrationsprozess betreuen? Wissenschaftliches Gutachten, Münster–Osnabrück 2004. Zum flexiblen Mitgliedschaftsverständnis in MSO vgl. Klie (Anm. 2), S. 176f.

  10. Vgl. Lisa Bonfert et al., Migrantenorganisationen und soziale Sicherung, Institut Arbeit und Qualifikation, IAQ-Report 10/2022, S. 6ff.

  11. Vgl. Wolfgang Stark, Empowerment. Neue Handlungskompetenzen in der psychosozialen Praxis, Freiburg 1996, S. 120ff.

  12. Vgl. ebd., S. 128f.; Klie (Anm. 2), S. 101ff.

  13. Vgl. Norbert Herriger, Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung, Stuttgart 20063, S. 131ff.

  14. Vgl. Klie (Anm. 2), S. 101ff.

  15. Vgl. SVR (Anm. 1), S. 33f.

  16. Vgl. Seyran Bostancı/Emra Ilgün-Birhimeoğlu, Postmigrantische Gesellschaft. Engagement zwischen Antirassismus und Normalisierung, in: Christoph Gille et al. (Hrsg.), Zivilgesellschaftliches Engagement und Freiwilligendienste. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Baden-Baden 2024, S. 157–168.

  17. Ludger Pries, Teilhabe in der Migrationsgesellschaft: Zwischen Assimilation und Abschaffung des Integrationsbegriffs, in: IMIS-Beiträge 47/2015, S. 22. Vgl. auch SVR (Hrsg.), Anerkannte Partner – unbekannte Größe? Migrantenorganisationen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft, Berlin 2019, S. 15f., S. 18f.

  18. Vgl. Kirsten Hoesch, Heimatverein 4.0: Lokale Verbünde als Migrantenorganisationen neuen Typs, in: Migration und Soziale Arbeit 41/2019, S. 28–38.

  19. Vgl. SVR (Anm. 1), S. 23.

  20. Vgl. ebd., S. 26; Klie (Anm. 2), S. 364f.; Jana Priemer/Mara Schmidt, Engagiert und doch unsichtbar? Migrantenorganisationen in Deutschland, Stifterverband, Policy Paper 2/2018, S. 3.

  21. Vgl. Kirsten Hoesch, Migrant Organisations on the Rise after 2015/2016? Between „Projectitis“ and the Formation of New Structures and Types, in: Social Sciences 4/2024, Externer Link: https://doi.org/10.3390/socsci13040223.

  22. Vgl. SVR (Anm. 1), S. 48.

  23. Vgl. ebd., S. 84f.; Hoesch (Anm. 21).

  24. Vgl. u.a. Hunger/Holz (Anm. 5), S. 18–23; Dirk Halm et al., Wohlfahrtspflegerische Leistungen von säkularen Migrantenorganisationen in Deutschland, unter Berücksichtigung der Leistungen für Geflüchtete, Baden-Baden 2020; Hoesch (Anm. 21).

  25. Vgl. Bundestagsdrucksache 18/7289, 18.1.2016, Integration von Flüchtlingen mit Hilfe von Islamverbänden.

  26. Vgl. SVR (Anm. 1), S. 31; Alexander-Kenneth Nagel/Yasemin El-Menouar, Engagement für Geflüchtete – eine Sache des Glaubens? Die Rolle der Religion für die Flüchtlingshilfe, Gütersloh 2017, S. 27, S. 45.

  27. Vgl. SVR (Anm. 1), S. 30f.

  28. Vgl. Klie (Anm. 2), S. 372ff.

  29. Vgl. Holger Krimmer et al., Lokal kreativ, finanziell unter Druck, digital herausgefordert. Die Lage des freiwilligen Engagements in der ersten Phase der Corona-Krise, Berlin 2020, S. 25f.; vgl. Hoesch (Anm. 21); Anna Wiebke Klie et al., COVID-19 Impacts on Christian and Muslim Organizations in Germany: A Comparative Mixed Methods Study, in: Review of Religious Research 2/2023, S. 236–262, hier S. 253.

  30. Vgl. SVR (Anm. 1), S. 58f.; Klie (Anm. 2), S. 389f.; Priemer/Schmidt (Anm. 20), S. 3f.

  31. Vgl. SVR (Anm. 1), S. 60ff.; Klie (Anm. 2), S. 395f.

  32. Vgl. SVR (Anm. 1), S. 59.

  33. Vgl. dazu die Beiträge in: Migration und Soziale Arbeit 1/2019, Zivilgesellschaftliches Engagement von Migrantinnen und Migranten; sowie in: Migration und Soziale Arbeit 3/2018, Kommunen.

  34. Vgl. Uwe Hunger/Stefan Metzger, Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen für Kooperationen zwischen etablierten Trägern und Migrantenorganisationen. Ergebnisse einer Feldstudie in Berlin, in: dies. (Hrsg.), Interkulturelle Öffnung auf dem Prüfstand. Neue Wege der Kooperation und Partizipation, Berlin–Münster 2013; Hoesch (Anm. 21).

  35. Vgl. SVR (Anm. 1), S. 44ff., 69ff.; Klie (Anm. 2), S. 324ff.; Priemer/Schmidt (Anm. 20), S. 4.

  36. Vgl. SVR (Anm. 1), S. 75.

  37. Vgl. ausführlich ebd., S. 63ff.

  38. Vgl. ebd., S. 79; Klie (Anm. 2), S. 402f.; Priemer/Schmidt (Anm. 20), S. 4.

  39. Vgl. Hoesch (Anm. 21).

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ist promovierte Soziologin und Zivilgesellschaftsforscherin mit einem Schwerpunkt auf (Flucht-)Migration, Religion und Selbstorganisation. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW.