Die Bundesrepublik der vergangenen drei, vier Jahrzehnte kann als Migrationsgesellschaft charakterisiert werden. Zwar kennt jedes Kollektiv Wanderungsbewegungen, denn menschheitsgeschichtlich ist Migration ein universaler Normalfall. Allein die Mobilität aber macht Gesellschaften noch nicht zu Migrationsgesellschaften. Als solche lassen sich vielmehr jene Gemeinwesen verstehen, die stetig, intensiv und kontrovers die Folgen räumlicher Bewegungen auf die eigene soziale Ordnung diskutieren. Wie über Migration gesprochen und geschrieben wird, sagt viel über die Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit sich selbst aus. Migrationsbezüge werden häufig im Modus des Konflikts diskutiert und als Ausnahme verstanden, für die dringend Lösungen präsentiert werden müssen.
Gesellschaften handeln fortwährend neu aus, welche Bezeichnungen und Zuschreibungen für Menschen in Bewegung verwendet werden, wer als zugehörig gilt oder wem wenigstens ein Näheverhältnis zugebilligt wird, wen sie als hilfs- und damit als schutzbedürftig wahrnehmen. 2015 erklärte die Gesellschaft für deutsche Sprache vor dem Hintergrund der intensiven gesellschaftlichen Aushandlung um die vermehrte Ankunft von Schutzsuchenden „Flüchtlinge“ zum Wort des Jahres. Als Überraschung galt die Entscheidung nicht. Kritik wurde dennoch laut: Das Wort sei negativ konnotiert und werde vielfach abwertend verwendet – wie so viele andere Begriffe auch, die mit dem Suffix „-ling“ gebildet werden.
Tatsächlich gewann die Rede von den „Geflüchteten“ ab Mitte der 2010er Jahre an Gewicht und konkurriert seither in der öffentlichen Diskussion mit dem „Flüchtling“. Dem Bedeutungsverlust dieses Begriffs und der Karriere von Alternativbenennungen ist noch nicht zureichend nachgegangen worden, zumal sprachwissenschaftliche Forschungen deutlich machen, dass nach der Wirkung des Suffix „-ling“ befragte Personen mit ihm keineswegs überwiegend negative Vorstellungen verbinden.
Nicht das Wort und seine Bestandteile sind also offenbar das Problem, sondern das Aufladen mit Bedeutungen. Ein Begriff ist nie eine bloße Buchstabenfolge, immer geht es um ambivalente Konnotationen, um das Zuschreiben, Bewerten und Kategorisieren – dies kann so weit reichen, dass im Rahmen umfangreicher gesellschaftlicher Aushandlungen soziale Figuren konstruiert werden, für die der jeweilige Begriff zu stehen scheint: Spezifische Merkmale von Phänomenen werden ausgewählt, in den Vordergrund gerückt, als Ähnlichkeiten hervorgehoben, als Differenzen gegenüber anderen Figuren markiert und als Stereotype generalisiert.
Weil sie konkret benennbar und beschreibbar sind, ermöglichen Figuren gesellschaftliche Debatten über bestimmte soziale Phänomene und machen diese regierbar. Figuren entwickeln also soziale Wirksamkeit und beeinflussen gesellschaftliches Handeln: etwa bei den Fragen, auf welche Weise mit welchen Interessen und Zielen Migration kontrolliert und gesteuert wird oder ob und wie Menschen in Bewegung Handlungsmöglichkeiten zugewiesen oder verweigert werden. Als Ergebnis einer Herstellung von Differenz bedingt auch die tief in historisch und räumlich spezifischen Wissensordnungen verankerte Figur des „Flüchtlings“ soziale Ungleichheit und Asymmetrien und damit gesellschaftlichen Ein- oder Ausschluss. Wie und wozu verändern sich gesellschaftliche Praktiken der Bezeichnung und Figurierung von Menschen in Bewegung? Im Folgenden beleuchte ich die Bedingungen, Dynamiken und Folgen der Herstellung fluchtbezogener Figuren seit dem Zweiten Weltkrieg und damit die Bedeutung, die die bundesdeutsche Migrationsgesellschaft räumlichen Bewegungen zumaß und zuwies.
Karriere des „Flüchtlings“
Das Wort „Flüchtling“ lässt sich auf das frühe 17. Jahrhundert zurückführen, als sich das (Hoch-)Deutsche als Amts- und Gerichtssprache durchsetzte. Gebraucht wurde der Begriff über die Jahrhunderte selten, verwies aber bereits auf eine große Spannweite der Verwendung: Als „Flüchtlinge“ galten aus politischen und weltanschaulichen Gründen Verfolgte sowie Menschen, die vor Gewalt, aufgrund einer militärischen Niederlage, vor Strafverfolgung oder aus einer Strafanstalt flohen.
Wurde in Deutschland nach 1918 von „Flüchtlingen“ gesprochen, waren meist deutsche Staatsangehörige oder „Volksdeutsche“ gemeint, die über die neuen Grenzen des territorial verkleinerten Reiches zuwanderten. So war das 1920 eingerichtete Reichskommissariat für Zivilgefangene und Flüchtlinge nur für Deutsche zuständig. „Flüchtlinge“ galten im Prinzip als zugehörig, ihnen standen Solidarität und staatliche Leistungen zu, weil sie etwa als „Grenzlandvertriebene“ aus den abgetretenen Gebieten „verdrängt“ worden seien. Diverse neue Begriffe beziehungsweise Komposita finden sich für sie: Berichtet wurde über „reichsdeutsche Auslandsflüchtlinge“ oder „rußlanddeutsche Flüchtlinge“. Ihre „Flüchtlingsbewegungen“ führten zu einem „Flüchtlingszustrom“, den etwa die „Flüchtlingszentrale Ost“ über „Flüchtlingsverteilungsstellen“ so zu dirigieren suchte, dass die „Flüchtlingslager“ keinen übermäßig hohen „Flüchtlingsbestand“ umfassten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann der Begriff „Flüchtlinge“ weiter an Gewicht. Blickt man über die Jahrzehnte bundesdeutscher Geschichte auf die Berichterstattung in den Zeitungen (Abbildung)
„Flüchtlinge“ sind Deutsche
Die Tradition der vorrangigen Bezugnahme auf Deutsche aus der Zwischenkriegszeit hielt sich nach dem Zweiten Weltkrieg: Als „Flüchtlinge“ galten vornehmlich Menschen, die ab Ende 1944 aus den (ehemals) deutschen Reichsgebieten jenseits von Oder und Neiße oder den deutschen Minderheitengebieten im östlichen Europa geflohen waren oder von dort vertrieben wurden und das Gebiet der im Mai 1945 eingerichteten Besatzungszonen als deutsche Staatsangehörige oder als „Volkszugehörige“ erreichten. „Flüchtling“ diente auch als Selbstbezeichnung. Eine stabile Figur aber etablierte sich zunächst nicht, vielmehr blieb die Liste der in politischen Reden, Gesetzestexten, Verwaltungsunterlagen und Medienberichten auf die gewaltbedingte Migration der Nachkriegszeit bezogenen Begriffe lang: Es war etwa „von ‚Ostflüchtlingen‘ (…) die Rede, und bei diesen konnte es sich um ‚echte‘ oder ‚unechte‘, ‚schwarze‘, ‚wilde‘ und ‚illegale Flüchtlinge‘ handeln. Aber man trifft auch auf ‚Kriegsvertriebene‘, ‚Vertriebene‘, ‚Heimatvertriebene‘, ‚Ausgewiesene‘, ‚Rückkehrer‘, ‚Ostumsiedler‘, ‚Binnen- und Außenumsiedler‘, ‚Absiedler‘, ‚Neubürger‘, ‚Rückwanderer‘ und ‚Zuwanderer‘„.
Die Verwendungen waren alles andere als beliebig. Vorstellungen über eine baldige Rückkehr der Neuzugewanderten oder über die Verantwortung für die räumliche Bewegung (Deutsche, Alliierte, die Betroffenen selbst) markierten Interessen mit Blick auf die Zuweisung von Zugehörigkeits- beziehungsweise Teilhaberechten oder den Anspruch auf Unterstützungsleistungen; ebenso verwiesen sie auf Ab- und Aufwertungen im Alltag. So kategorisierten etwa US-Militärbehörden und in der Folge auch deutsche Verwaltungsstellen „Vertriebene“ 1946/47 als Menschen, die aus Gebieten stammten, die nicht (mehr) unter deutscher Verwaltung standen und für die eine Rückkehr ausgeschlossen schien, weshalb Maßnahmen zur Unterstützung einer Niederlassung eingeleitet werden müssten. „Flüchtlinge“ hingegen galten als Personen, die zwischen oder innerhalb der Besatzungszonen gewechselt waren, etwa weil sie die kriegszerstörten Städte verlassen hatten. In ihrem Fall wurde mit einer Rückkehr gerechnet, für die aber eine Unterstützung nicht erforderlich sei.
Im Westen Deutschlands gewannen ab 1948 Begriff und Figur des „Heimatvertriebenen“ erheblich an Relevanz.
Vor einem solchen Hintergrund nahm die 16. Auflage des Brockhaus von 1954 den Begriff des „Flüchtlings“ auf – erstmals in der Geschichte der Enzyklopädie, die seit den 1810er Jahren erscheint. Er sei „ein vor Verfolgung oder wegen Gefahr für Leib und Seele außer Landes Gehender“. Wenngleich die Definition auf eine weite Perspektive zu verweisen scheint, beziehen sich die im Artikel genannten Zusammenhänge überwiegend auf Deutsche: Die Rede ist von „Ostflüchtlingen“, „Heimatvertriebenen“ und „Ostzonenflüchtlingen“. Für Phänomene, die keinen Bezug zu Deutschland haben, wird der Begriff „Flüchtling“ anhand einiger weniger Fälle aus dem 19. und 20. Jahrhundert mit Bezug auf „die Flucht ganzer Bevölkerungen oder Bevölkerungsgruppen vor feindl. Heeren, freiwillig oder auf Befehl (Räumung)“ thematisiert. Immer gemeint ist dann „ein zeitweiliges Ausweichen mit der Absicht baldiger Rückkehr“, während sich eine längerfristige Anwesenheit eines „Flüchtlings“ durchgängig auf Deutsche in der Bundesrepublik bezieht. Den politischen Flüchtling und die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 kannte die 16. Auflage des Brockhaus nicht.
Internationalisierung des „Flüchtlings“
Auf den Bedeutungsgewinn der Bundesrepublik als Ankunftsland von nicht als deutsch definierten Schutzsuchenden ab den späten 1950er Jahren – vor dem Hintergrund von Asylgrundrecht und Genfer Flüchtlingskonvention – verweist der rund eine Spalte einnehmende Artikel zu „Flüchtlingen“ in der 17. Auflage des Brockhaus von 1968. Bemerkenswert ist zunächst, dass nicht mehr vom „Flüchtling“ im Singular, sondern von den „Flüchtlingen“ als Kollektivbezeichnung die Rede ist. Gemeint sind „alle Personen, die durch Krieg oder polit. Maßnahmen veranlaßt wurden, ihre Heimat zu verlassen“. Zwar sind „Deutsche F. und Vertriebene“ weiterhin im Artikel sehr präsent. Mehr Raum aber nimmt nun der Hinweis auf die „Internationalen F.“ ein, die als „Ausländ. F.“ die Bundesrepublik erreichen. Der Artikel versteht die Bundesrepublik zwar als Ankunftsland, nicht aber als Ort dauerhaften Bleibens: Flüchtlinge gelten vornehmlich als ein Verwaltungsproblem und eine Herausforderung für internationale Organisationen. Als „Staatenlose oder Quasi-Staatenlose“ stehen sie in deren, nicht aber in bundesdeutscher Verantwortung.
In den 1970er und 1980er Jahr wuchs nicht nur die Zahl der Schutzsuchenden an – 1980 verzeichnete die Bundesrepublik erstmals mehr als 100000 Asylgesuche in einem Jahr, 1990 beinahe 200000. Zugleich stieg die Bedeutung asiatischer und afrikanischer Herkunftsländer. Die vor diesem Hintergrund erhebliche Intensivierung gesellschaftlicher Debatten um das Asyl in der Bundesrepublik spiegelt sich in der Verfünffachung des Umfangs des Beitrags „Flüchtlinge“ in der 19. Auflage des Brockhaus von 1988 wider. Warum der Begriff einen erheblichen Bedeutungsgewinn erfährt, lässt der Eintrag bereits zu Anfang deutlich werden: „Seit Beginn der 80er Jahre (…) werden die westl. Industrieländer zunehmend mit dem weltweiten F.-Problem konfrontiert.“ Fluchtbewegungen und Flüchtlinge werden als eine globale Herausforderung dargestellt, die – wie der lange Abschnitt über die „Geschichte der Fluchtbewegungen“ verdeutlicht – als ein überzeitliches Menschheitsproblem verstanden wird. Die 1980er Jahre seien vor dem Hintergrund von Kaltem Krieg und Folgen der Dekolonisation als ein „Jahrzehnt der Flüchtlinge“ zu verstehen. Diese seien Opfer autoritärer politischer Systeme, von Kriegen, Bürgerkriegen und Überlebenskrisen wie Hungersnöten. „F. bleiben Treib- und Strandgut einer friedlosen Welt“. Humanitäre Hilfe sei dringend nötig.
„Flüchtlinge“ versus „Asylanten“
Dass das Wort „Flüchtling“ in einer Hochphase des bundesdeutschen Sprechens und Schreibens über Fluchtbewegungen von den späten 1970er bis zu den 1990er Jahren in der Regel positiv konnotiert war, darauf deuten auch Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der Presseberichterstattung hin:
Wurden aber, was zwischen den späten 1970er und den frühen 1990er Jahren häufig geschah, Schutzsuchende abgelehnt und angefeindet, kam der Begriff des in aller Regel negativ konnotierten „Asylanten“ ins Spiel – 1980 zweitplatziert in der Liste der Wörter des Jahres der Gesellschaft für deutsche Sprache. Oder es handelte sich um die vielen negativ konnotierten Komposita von „Asyl“ („Asylbetrüger“, „Asyltourismus“), die meist moralisierend die Beweggründe für die Migration infrage stellten.
Die Figur des „Asylanten“ umfasste mehrere Bestandteile: junge Männer, die das Asylrecht missbrauchten, weil sie aus rein materiellen Motiven in die Bundesrepublik gekommen seien, und die wegen ihrer Herkunft von außerhalb Europas weder über Fähigkeit noch Willen zur Anpassung an die bundesdeutsche Gesellschaft verfügten, vielmehr eine Bedrohung für Wohlstand, Sicherheit und Kultur darstellten. Die Bildberichterstattung in der Presse entsprach solchen entindividualisierenden Perspektiven: „Asylanten“ wurden meist als bedrohliche, kaum kontrollierbare Masse von Männern inszeniert.
Seit Mitte der 1990er Jahre verlor der „Asylant“ erheblich an Bedeutung in den medialen, öffentlichen und politischen Debatten. Das galt im Übrigen auch für den „Wirtschaftsflüchtling“, einer ebenfalls negativ konnotierten Figur. Dessen Karriere entsprach im zeitlichen Verlauf dem des „Asylanten“, abgesehen davon, dass der „Wirtschaftsflüchtling“ um 2015 eine Renaissance erlebte. Er komme nach Deutschland aus rein wirtschaftlichen Gründen, um nicht nur das Asylrecht, sondern auch das Sozialsystem zu missbrauchen – damit in Verbindung stehend verbreitete sich die Figur des „Sozialschmarotzers“. Demgegenüber waren insbesondere kirchliche Kreise bemüht, die Begriffe „Elends-“ und „Armutsflüchtling“ in der aufgeheizten Debatte zu stärken, um die sozio-ökonomische Situation in den Herkunftsgesellschaften als legitimen Fluchtgrund zu markieren. Letztlich vermochten sich diese Begriffe aber nicht durchzusetzen.
Angesichts einer kritischen Auseinandersetzung mit der offen rassistischen Gewalt der frühen 1990er Jahre und vor dem Hintergrund einer zunehmenden Sprachsensibilität im bundesdeutschen öffentlichen und politischen Diskurs
„Flüchtling“ als Stigma?
Manches spricht dafür, dass der erwähnte Bedeutungsgewinn sprachkritischer Debatten, die weite Verbreitung des abwertend gemeinten „Wirtschaftsflüchtlings“ und schließlich der Bedrohung und Gefahren spiegelnden „Flüchtlingskrise“ ihren Beitrag dazu leisteten, dass im 21. Jahrhundert Begriff und Figur des „Flüchtlings“ zunehmend als negativ und mit dem Stigma von Ohnmacht und Hilflosigkeit gekennzeichnet bewertet wurden. Dazu trug bei, dass zugleich die Aushandlung von Migration sich weiter veränderte, auch weil der Einfluss zivilgesellschaftlicher Initiativen auf die Debatte wuchs. Vermehrt gelang es zudem Migrant:innen und migrantischen Selbstorganisationen, Präsenz in politischen, medialen und öffentlichen Debatten zu zeigen.
Trotz aller Kritik wird der Begriff des „Flüchtlings“ weiterhin ausgesprochen häufig genutzt, um Schutzsuchende in der Bundesrepublik zu bezeichnen. Zwar konnte sich gleichzeitig der Begriff „Geflüchtete“ in der Bezeichnungskonkurrenz etablieren. Aber „Flüchtling“ bildete den dominierenden Begriff der Auseinandersetzung um die Ankunft einer hohen Zahl von Schutzsuchenden Mitte der 2010er Jahre.