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Postmigrantische Gesellschaft in der Krise | bpb.de

Postmigrantische Gesellschaft in der Krise Zwischen Migrationsabwehr und Migrationsbedarf

Naika Foroutan

/ 15 Minuten zu lesen

In Deutschland sind migrationsfeindliche Diskurse in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Gleichzeitig verschärft sich angesichts des Fachkräftemangels der Zuwanderungsbedarf immer weiter. Um aus der Krise herauszufinden, braucht es eine rationale Migrationspolitik.

Migrationsfeindliche Diskurse sind in Deutschland keine Erscheinung des rechten Randes mehr. Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Herbst 2024 gaben ein Drittel der Bevölkerung ihre Stimmen der AfD. Aber auch die anderen Parteien hatten sich im Wahlkampf darin überboten, den Wähler:innen eine strikte Schließungspolitik zu versprechen. Dies kann als Reaktion auf zwei islamistische Anschläge gedeutet werden, die wenige Wochen und Monate zuvor in Mannheim und Solingen vier Menschen das Leben gekostet und die Bevölkerung zutiefst verunsichert hatten.

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer beschrieb bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten einen migrationsfeindlichen Trend in der Mitte der Gesellschaft. Auffällig war schon damals, dass sich Tendenzen einer völkisch-nationalistischen und dabei kulturalistisch argumentierenden Abgrenzung, die lange Zeit vornehmlich dem rechten politischen Spektrum zugeschrieben wurden, zunehmend in der bürgerlichen Mitte verbreiteten. Seine Analyse, dass soziale Gruppen aus der Mitte der Gesellschaft heraus verstärkt nach Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz bewertet würden, knüpfte er an eine zunehmende Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche. Die Verrohung und Spaltung, die seine Erhebungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit aufzeigten, waren eng mit der Wahrnehmung und Bewältigung von Krisen verknüpft, die wiederum durch Prekarität und ökonomische Instabilität seit der Finanzkrise 2008 befeuert wurden.

Tatsächlich prägen Sparpolitiken die vergangenen 15 Jahre in Deutschland. „Schwarze Null“ oder „Schuldenbremse“ sind markante Terminologien, hinter denen sich mangelnde Investitionen in zentrale Lebensbereiche der Bürgergesellschaft Deutschlands wiederfinden. Marode Schulen, ein störanfälliges Schienennetz oder, wie insbesondere während der Corona-Pandemie deutlich wurde, eine stockende Digitalisierung – all das hat zu Recht das Gefühl einer Stagnation und bei einigen auch eines Niedergangs erzeugt. „Deutschland ist nicht mehr das, was es einmal war“ – diese Aussage spiegelt den aktuellen Zeitgeist treffend wider. Die meisten Menschen verknüpfen damit vor allem den Faktor Migration. Tatsächlich fallen die Folgen der Finanz- und Eurokrise einerseits sowie der großen Migration nach Deutschland andererseits zeitlich zusammen, und der Effekt der Überforderung verschärft sich durch diese Konstellation.

Deutschlands postmigrantisches Jahrzehnt

Zwischen 2014 und 2024 hat sich Deutschland im globalen Vergleich zu einem der dynamischsten Migrationsakteure entwickelt. Dies liegt an den großen Fluchtzuwanderungen 2015 und 2016 vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges in Syrien sowie 2022 im Zuge des Ukrainekrieges. Während die Bundesrepublik 2008 und 2009 statistisch gesehen noch mehr Auswanderungen als Einwanderungen verzeichnete, rangiert sie mittlerweile hinter den USA auf Platz zwei der Länder mit den meisten Einwanderungen. Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes erreichte die Nettozuwanderung 2022 mit fast 1,5 Millionen Zuzügen einen neuen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen 1950. Den größten Anteil daran hatten Geflüchtete aus der Ukraine, deren Zahl die Zuwanderungen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in den Jahren 2014 bis 2016 übertraf. Im Bereich der Fluchtmigration liegt Deutschland als Ziel weltweit auf Rang vier – hinter der Türkei, dem Iran und Kolumbien. Während 75 Prozent der Geflüchteten weiterhin in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen aufgenommen werden, hat die Bundesrepublik innerhalb der Gruppe wohlhabender Staaten eine Spitzenposition übernommen.

Das vergangene Jahrzehnt hat Deutschland demografisch stark verändert. Die Diversität, insbesondere durch Migration, hat auch eine Generationenkomponente, die das Gefühl der Entfremdung verschärft. Die seit 2013 Eingewanderten stehen mit ihrem Durchschnittsalter von Ende 20 einer nichteingewanderten Bevölkerung mit einem Durchschnittsalter von Ende 40 gegenüber. Freizeitverhalten, Lebensstil, Risikooffenheit, Zukunftsplanung und sogar Lautstärkesensibilität sind hier als zusätzliche Diversitätsfaktoren zu bedenken.

Parallel zur Debatte, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, haben Diskussionen über andere Minderheitenrechte an Bedeutung gewonnen: Themen wie Gleichstellung und gendergerechte Sprache, sexuelle Identitäten sowie Debatten über Selbstbestimmung und Transgenderrechte haben zu wiederkehrenden Auseinandersetzungen geführt. Gleichzeitig prägten angesichts einer immer weiter aufgehenden Schere zwischen Arm und Reich Fragen der Umverteilung den öffentlichen Diskurs, ebenso die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, das Recht auf Zukunft der klimabewegten Jugend sowie die Forderungen nach Repräsentation und Sichtbarkeit antirassistischer sozialer Bewegungen. Das vergangene – postmigrantische – Jahrzehnt kreiste elementar um die Frage von Gleichheit als Versprechen der pluralen Demokratie.

In postmigrantischen Gesellschaften geht es nicht mehr darum, ob ein Land sich als Einwanderungsland beschreibt, sondern um die Frage, wie das Einwanderungsland gestaltet wird. Migration steht hierbei nicht mehr für das temporäre Kommen, sondern für das langfristige Bleiben – für das, was nach der Einwanderung passiert. Die postmigrantische Gesellschaft beinhaltet das Versprechen einer über das Migrantische hinausweisenden Utopie der Gleichheit, die außerhalb der Herkunft verhandelt wird. Die Frage des Umgangs mit Migration wird dabei zu einer Chiffre für den Umgang mit dem Versprechen der Anerkennung. Sie kann somit als grundsätzliche Metapher für den Umgang von Mehrheiten mit Minderheiten in pluralen Demokratien gesetzt werden.

Migrationsfeindlichkeit bis in die Mitte der Gesellschaft ist als Krisensymptom der postmigrantischen Gesellschaft zu verstehen und weist auf weit mehr hin als nur auf die Unzufriedenheit mit zunehmender Einwanderung. Mit ihr und dem Aufstieg der Rechten geht eine Absage an zentrale emanzipatorische Kämpfe der Vergangenheit einher – seien es jene um Gleichstellung, um den Rückbau fossiler Energien oder um Quoten für eine gerechte Partizipation von Minderheiten, ob nun ostdeutsch, migrantisch oder Arbeiterkinder –, die etablierte Selbstverständlichkeiten und Positionen hinterfragten, die über Generationen hinweg Bestand hatten.

Das Hinterfragen von Gewissheiten ist oft konfliktbeladen. Wenn heute der Umgang mit Gendergerechtigkeit, Diversität und Multikulturalität als „neumodischer“ oder „woker“ Ansatz verunglimpft wird, sollte daran erinnert werden, dass bereits 1949 mit der Erarbeitung des Grundgesetzes für Pluralität und Gleichheit in Deutschland gekämpft wurde. Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 3, Absatz 1 des Grundgesetzes stellte schon damals klar, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind – egal ob Frauen oder Männer und unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, Religion, ihrem Alter oder ihrer sexuellen Identität. Doch ob Frauen ihre Männer um Erlaubnis fragen müssten, um arbeiten zu dürfen, blieb bis 1977 strittig, ebenso wie die Frage, ob Vergewaltigung in der Ehe ein Straftatbestand sei, was erst 1997 gesetzlich anerkannt wurde. Aushandlungen auf dem Weg zu einer gesetzlich verabschiedeten Norm prägen also grundsätzlich soziale Dynamiken und sind niemals konfliktfrei. Es finden sich Allianzen, die für progressive Veränderungen mobil machen und dabei immer wieder auf Antagonisten treffen, die sich gegen den Wandel stellen.

Nicht aller Wandel in diesem Land ist migrationsgetrieben. Und selbst die Multikulturalität ist nicht erst mit den Migrant:innen nach Deutschland gekommen. Grundrechte wie Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit oder das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sind bereits seit 1949 ein klares Bekenntnis zur Multikulturalität. Schon 1848 war die Idee eines deutschen Nationalstaates multikulturell, multireligiös und mehrsprachig: 39 kulturell unterschiedliche Fürstentümer und freie Städte, die teils über Jahrhunderte hinweg aufgrund religiöser Differenzen im Konflikt standen und unterschiedliche Sprachen hatten, einigten sich auf die Gründung eines gemeinsamen Deutschland. Die Sprachen dieses Landes waren Sorbisch, Russisch, Polnisch, Französisch und Deutsch. Es lohnt sich, in diese Geschichte hineinzuzoomen, um zu verstehen, dass die Frage von Wandel durch Vielfalt – aber auch die Idee von Zusammenhalt in Vielfalt – keine oktroyierten Vorgaben links-liberaler Politiker und „Gutmenschen“ sind.

Um die aktuelle Krise zu durchbrechen, die sich vorrangig um die Migrationsfrage dreht und sie zur sozialen Frage unserer Zeit macht, ist es notwendig, die enge Verzahnung der Einwanderung mit den Krisenerfahrungen der vergangenen 15 Jahre zu durchbrechen. In den Köpfen der Menschen ist – auch bedingt durch die Manipulation rechtspopulistischer Akteure – ein quasi kausaler Zusammenhang entstanden, wonach die Strukturkrise durch die zugenommene Diversität im Lande entstanden und eine Folge der Migration ist. Das Gefühl, dass nichts mehr ist, wie es einmal war, und die Vorstellung, man müsse nur zu den Zeiten vor der großen Migration zurückfinden – etwa durch massenhafte Abschiebungen und millionenfache „Remigration“ –, um wieder das „gute Deutschland“ vorzufinden, wird von der AfD offensiv bedient. Dabei bleibt außen vor, dass die Sparmaßnahmen, die genuin für die strukturellen Krisen der Kommunen mitverantwortlich sind, bereits Jahre vor 2015/16 eingeleitet wurden. Im Gegenzug kommt die Bedeutung der Migrationsfrage für die künftige Struktursicherung in einer zunehmend alternden Gesellschaft zu kurz. Die Krise der postmigrantischen Gesellschaft manifestiert sich also im Dilemma zwischen einer sich verstärkenden Migrationsabwehr und einem gleichzeitig immer akuteren und erhöhten Migrationsbedarf. Die kognitive Dissonanz, die dadurch entsteht, führt sowohl bei den demokratischen Parteien als auch im Mainstream-Diskurs zu einer Absenkung etablierter und zuvor erkämpfter Normen.

Migration als Ressource

Seit der wirtschaftlichen Erholung nach der Corona-Pandemie, also etwa ab dem dritten Quartal 2020, ist der Bedarf an Arbeitskräften laut der Bundesagentur für Arbeit kontinuierlich angestiegen und wies bis Ende 2022 1,98 Millionen offene Stellen aus. Zwar zeichnete sich im Laufe des Jahres 2023 eine Abnahme dieser Entwicklung ab, jedoch waren im vierten Quartal 2023 immer noch bundesweit 1,73 Millionen Stellen unbesetzt. Zudem meldet jeder zweite Betrieb unbesetzte Ausbildungsplätze.

Vor allem fehlen Arbeitskräfte für Pflege-, Bau- und IT-Berufe, in der Kinderbetreuung und Kraftfahrzeugtechnik sowie Berufskraftfahrer und medizinische Fachangestellte. Hinzu kommen Vakanzen im Hotel- und Gastronomieservice, Metallbau und öffentlichen Nahverkehr. Die Berliner Verkehrsgesellschaft kündigte bereits 2023 an, ihren Busfahrplan drastisch zu reduzieren – es fehlten Hunderte an Fahrern. Besonders dramatisch ist es in den Sozial- und Lehrberufen. In ganz Deutschland sind nach Angaben der Kultusministerien der Länder 12341 Lehrerstellen unbesetzt; gleichzeitig rechnet die aktualisierte Prognose der Kultusministerkonferenz damit, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler bis 2035 von derzeit elf auf zwölf Millionen anwachsen wird.

Die westlichen Industrienationen werden im kommenden Jahrzehnt insgesamt 30 Prozent ihrer Arbeitskräfte aufgrund der demografischen Lage in den Ruhestand schicken. Das Problem wird sich also absehbar verschärfen. Bis 2035 werden allein durch die bevorstehende Verrentungswelle der geburtenstarken Jahrgänge sieben Millionen Fachkräfte in Deutschland zusätzlich gebraucht. Dafür müssten bis 2035 insgesamt rund 18 Millionen ausländische Fachkräfte kommen. Das wären über 1,6 Millionen Arbeitskräfte pro Jahr. Wenn sie Familienangehörige mitbringen, werden es noch mehr sein.

Zwar gibt es Stimmen, die dafür werben, den Mangel zunächst über bestehende Reserven aufzufangen und heimische Langzeitarbeitslose sowie in Teilzeit beschäftigte Frauen über attraktivere Jobangebote stärker in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Jedoch sind diese Reserven nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes bald ausgeschöpft: Der Mikrozensus, also die wiederkehrende Haushaltsbefragung in Deutschland, hält fest, dass bereits jetzt 92 Prozent der Männer zwischen 25 und 59 Jahren einer Erwerbstätigkeit nachgehen und 83 Prozent der Frauen einen bezahlten Job haben.

Gleichzeitig konkurrieren auf den internationalen Arbeitsmärkten klassische Einwanderungsländer des Globalen Nordens wie die USA, Kanada, Australien und Großbritannien um dieselbe Workforce. Hinzu kommt, dass der anvisierte Aufstieg der BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika zu einer globalen Weltmacht die Konkurrenz um migrantische Fachkräfte für Europa weiter erhöhen wird. Vor Kurzem hat sich die Ländergruppe um vier Staaten erweitert, darunter sind mit Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten zwei Länder des Mittleren Ostens und mit Ägypten und Äthiopien zwei Länder Afrikas. Gerade die Golfregion erlebt aktuell einen historisch beispiellosen ökonomischen Aufschwung dadurch, dass Russland nicht mehr Europas zentraler Energielieferant ist. Diese Länder fischen neben den klassischen Einwanderungszielen bereits den Metakorridor der Migration aus Süd-Ost-Asien ab, wo sich diverse Bundesminister:innen seit Jahren erfolglos um Pflegekräfte für Deutschland bemühen. Somit werden im kommenden Jahrzehnt Migrant:innen zu einer umkämpften Ressource avancieren. In der Migrations- und Integrationspolitik wird daher ein Paradigmenwandel notwendig sein, wenn Deutschland als Standort nicht hinterherhinken und das „migrantische Gold“ zu sich kanalisieren möchte.

Migrationspanik verdeckt Integrationsleistungen

Der Drang nach politischen Antworten im Nachgang zu islamistischen Anschlägen ist nachvollziehbar – eine erschrockene und erschütterte Gesellschaft blickt auf 20 Tote durch islamistischen Terror im vergangenen Jahrzehnt zurück. Statt jedoch politische Maßnahmen gegen Radikalisierung, für Prävention und eine wehrhafte Demokratie vorzuschlagen, wird eine sich überschlagende restriktive Migrationspolitik eingeleitet. Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich sogar dafür ausgesprochen, „irreguläre Migrationsbewegungen“ gegebenenfalls „mit physischer Gewalt“ aufzuhalten. Innenministerin Nancy Faeser kündigte wenige Tage nach dem Attentat in Solingen Ende August 2024 Grenzschließungen zu allen deutschen Nachbarländern an. CDU-Chef Friedrich Merz forderte die generelle Ablehnung von Asylanträgen aus Syrien und Afghanistan.

Es ist unredlich, unter großem Rauschen migrationspolitische Maßnahmen zu verlangen, die rechtlich nicht umsetzbar sind. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ – das steht so im Grundgesetz und kann nicht selektiv für Konfliktländer ausgesetzt werden. Es widerspräche außerdem geltendem EU-Recht, wie der Asylverfahrensrichtlinie und der Dublin-III-Verordnung. EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht. Vorschläge, einen nationalen Notstand auszurufen, um EU-Recht zu umgehen, wurden vom Europäischen Gerichtshof bisher abgelehnt. Der Rat für Migration warnte auch gleich vor diesem Plan, da die aktuelle Lage in Deutschland keinen Notstand rechtfertige und eine Infragestellung des Vorrangs von EU-Recht Tür und Tor für nationalistische Alleingänge öffnen würde. Auch der Sachverständigenrat für Migration und Integration, der im Bundesinnenministerium angedockt ist, mahnte: „Der Ruf nach immer weiteren Gesetzesänderungen und -verschärfungen hilft nicht weiter, wenn die Umsetzung das Problem ist. Die Parteien der demokratischen Mitte (…) müssen vielmehr konkrete Probleme lösen und eine differenzierte Debatte führen, dafür sind auch die Wählerinnen und Wähler offen.“

Die Ampel-Koalition ist 2021 angetreten, um das postmigrantische Deutschland in die Zukunft zu tragen. „Mehr Fortschritt wagen“, heißt es im Koalitionsvertrag, und tatsächlich sind dort 35 konkrete migrations- und integrationspolitische Agenda-Punkte vermerkt, von denen auch viele in der aktuellen Legislaturperiode umgesetzt wurden. Einige von ihnen sind wegweisend. Dazu gehören unter anderem das Fachkräfteeinwanderungsgesetz; die Chancenkarte, mit der Personen aus Nicht-EU-Staaten nach Deutschland einreisen können, um sich eine geeignete Arbeitsstelle zu suchen, wenn sie als Fachkraft anerkannt sind und ihr Lebensunterhalt für die Zeit des Aufenthaltes gesichert ist; oder der sogenannte Spurwechsel, also die Möglichkeit, den Asylantrag zurückzuziehen und stattdessen eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen, wenn jemand ein Jobangebot als Fachkraft und einen anerkannten Berufsabschluss nachweisen kann. Auch restriktive Elemente wie das Abschiebepaket folgten dem migrationspolitischen Plan des Koalitionsvertrages.

Es wirkt fahrlässig, wenn Politiker:innen nach einem Anschlag wie in Mannheim oder Solingen die gesamte Einwanderung nach Deutschland seit 2015 rückwirkend infrage stellen. Es dringt dann nicht mehr durch, wenn die Bundesagentur für Arbeit festhält: „Nach acht und mehr Jahren Aufenthalt in Deutschland übertrifft die Erwerbstätigenquote der geflüchteten Männer mit 86 Prozent die durchschnittliche Quote der männlichen Bevölkerung in Deutschland (81 Prozent).“ In den Köpfen verschwinden Integrationserfolge hinter wiederkehrenden Nachrichten von Messerattacken und verdichten sich zu einem Bild von grundsätzlich gescheiterter Integration und pauschal radikalen Migrant:innen. Dagegen gilt es argumentativ anzugehen, ohne Defizite wegzureden, die durch Integrationsindikatoren festgestellt werden können.

Der Integrationsmonitor der Bundesregierung aus der vorigen Legislaturperiode, der die Indikatoren bis 2018 zur Verfügung stellt, hält die Integrationsentwicklung im Generationenvergleich fest und kommt zu folgendem Befund: „Zwischen 2005 und 2018 stieg der Anteil junger Personen in schulischer, beruflicher, akademischer Bildung bzw. in Fortbildung oder mit einem Abschluss der Sekundarstufe II (gymnasiale Oberstufe bzw. berufsbildende Schulen). Personen ohne Migrationshintergrund und Personen der zweiten Generation haben sich insgesamt einander angenähert.“ Trotzdem bleibt eine Teilhabelücke bestehen, auf die politisch reagiert werden muss: So verließen Jugendliche mit deutscher Staatsangehörigkeit 2018 allgemeinbildende Schulen fast doppelt so häufig mit dem Abitur wie ihre Altersgenossen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Im Bereich der beruflichen Schulen hingegen stieg die Zahl der Absolvent:innen mit ausländischer Staatsangehörigkeit deutlich an, vor allem aufgrund der Fluchtzuwanderung seit 2015. Auch die Sprachentwicklung gilt es für die Frage nach gelungener Integration im vergangenen Jahrzehnt in den Blick zu nehmen: 2019 wurden etwa 195000 Sprachtests im Rahmen allgemeiner und spezialisierter Integrationskurse abgelegt. Dabei erreichte mit 82,1 Prozent die überwiegende Mehrheit der Teilnehmenden ein Sprachniveau auf den Stufen A2 oder B1. Rund die Hälfte der Teilnehmenden erzielte das höhere Niveau B1, das als Mindestanforderung für den Eintritt in den Arbeitsmarkt gilt. Allerdings braucht es für jüngere Personen der ersten Generation mit kurzer Aufenthaltsdauer zusätzliche Sprachfördermaßnahmen.

Es gibt also einen Bedarf, neben dem Ausbau von Präventions- und Deradikalisierungsarbeit die klassische Integrationsarbeit auszubauen, vor allem mit Bezug auf neu Einwandernde.

Für eine proaktive Migrationspolitik

Um aus der Krise herauszufinden, ist eine rationale und weniger von der AfD getriebene Migrationspolitik vonnöten. Der Bedarf muss ehrlich und offensiv kommuniziert werden. Auch wenn wir es mit einer von Migration, Pandemie, Inflation, Kriegen und Klimakrise überforderten Gesellschaft zu tun haben, zeigen die Willkommensleistungen, die 2015/16 und 2022 spontan abrufbar waren, ebenso wie die offensiv gegen AfD-Pläne zur „Remigration“ stattfindenden Großdemonstrationen, dass noch immer große Teile der Bevölkerung stabil für eine postmigrantische Gesellschaft eintreten.

Wenn die Politik der Bundesregierung nicht immer wieder hinter die eigenen Erfolge zurückfallen würde, dann wäre Deutschland prädestiniert, die Migrationskrisen des kommenden Jahrzehnts zu moderieren. Stattdessen überdeckt nun eine aktionistische Abschottungspolitik die kluge Politikausrichtung, die sich hinter den Migrationsabkommen mit Partnerländern verbirgt und die eine nachhaltige Migrationssteuerung unter Beibehaltung der humanitären Werte Deutschlands zur eigenen Signatur machen könnte. Mit zehn Ländern hat die Bundesregierung bisher über die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber:innen und eine Erleichterung für Arbeitsmigration aus diesen Ländern verhandelt, mit einigen wie Kenia, Indien, Marokko und Usbekistan sind bereits Abkommen unterschrieben worden.

Der aktuelle migrationsfeindliche Aktionismus widerspricht dieser rationalen Migrationspolitik und könnte Deutschland seine Zukunft kosten. Schon jetzt gilt, dass Deutschland zwar eines der beliebtesten Zielländer ist, aber gleichzeitig auch eines, das qualifizierte Fachkräfte am schnellsten wieder verlassen. Fragt man nach dem Grund, warum Deutschland auf Rang 49 von 53 Ländern landet, die ausländische Fachkräfte (Expats) bewerten sollten, dann heißt es unter anderem, das Land sei „rassistisch“ und „provinziell“. 30 Prozent finden, dass die Deutschen allgemein nicht freundlich zu ausländischen Mitbürgern sind – weltweit liegt der Wert bei 18 Prozent. Deutschland hat keine nennenswerten Bodenschätze oder Energieressourcen. Das, was dieses Land ausmacht, ist sein Humankapital und die Fähigkeit, als Ausbildernation innerhalb von zwei bis drei Jahren aus ungelernten Menschen qualifizierte Fachkräfte und Arbeitnehmende zu machen. Die duale Ausbildung ist ein deutscher Exportschlager. Dies stärker zu bewerben und jenen, die bereits hier sind, attraktive Ausbildungs- und damit verknüpft Bleibesicherheiten zu geben, sollte die politische Offensive dieser Zeit sein.

Das Ganze mag angesichts der Rekord-Nettozuwanderung 2022 kontraintuitiv klingen. Mehr als 1,5 Millionen Menschen sind nach Abzug der Auswanderungszahlen ins Land gekommen, davon 1,1 Millionen aus der Ukraine. Allerdings scheinen die Flüchtlingszahlen aus der Ukraine vorerst ausgeschöpft. Wir müssen also zukünftig mit deutlich geringeren Zuwanderungszahlen rechnen. Alle Parteien werden sich diese Reduktion auf die Fahnen schreiben und auf ihre migrationsfeindliche Politik zurückführen. In Wahrheit hat sie jedoch nichts mit innenpolitischen Entscheidungen zu tun.

Um aus dem Dilemma zwischen Migrationsbedarf und Migrationsabwehr herauszufinden und der Krise der postmigrantischen Gesellschaft zu begegnen, wäre es sinnvoll, eine Kommission zu gründen, die dem von Misstrauen und Abwehr geprägten migrationspolitischen Kanon ein neues Leitbild entgegensetzt – schlicht und einfach, weil Deutschland aufgrund seiner Überalterung zukünftig auf immer mehr Migration angewiesen sein wird, um den in Jahren stabiler Demokratie erarbeiteten Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Es braucht eine politische Erzählung, die nach vorne weist und ambitioniert ist, statt wie die Debatten um eine deutsche Leitkultur in der Vergangenheit zu ankern. Diese Kommission muss getragen sein von dem Versprechen der pluralen Demokratie, allen Bürger:innen gleiche Rechte zu garantieren und die Chancen auf Aufstieg und Wohlstand weiter auszubauen, statt sie durch eine getriebene toxische Migrationspolitik zu verschlechtern. Und statt nach langen Verhandlungen um ein „neues deutsches Wir“ denen, die schon längst zu diesem Land dazugehören, die neue deutsche Herkunft zu entziehen, braucht es Klarheit in einem Punkt: Diejenigen, deren Traum lautet, alle Eingewanderten abzuschieben, bieten am Ende des Tages ein Deutschland an, das für die Mehrheit der Nation ein Alptraum wäre.

leitet das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin. Sie ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin und dort Abteilungsleiterin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM).