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Kritik am Fleischkonsum | bpb.de

Kritik am Fleischkonsum Moralisch oder moralistisch?

Bernd Ladwig

/ 16 Minuten zu lesen

Die Deutschen essen durchschnittlich etwa 57,3 Kilogramm Fleisch pro Jahr. Der Trend ist leicht rückläufig, das Niveau aber weiterhin hoch. Wie ist dieses Ernährungsverhalten moralisch zu beurteilen? Ist es überhaupt ein zulässiger Gegenstand moralischer Bewertung?

Die Deutschen essen im Durchschnitt pro Jahr etwa 57,3 Kilogramm Fleisch. Der Trend ist leicht rückläufig, das Niveau aber weiterhin hoch, zumal im globalen Vergleich. Wie ist dieses Ernährungsverhalten moralisch zu beurteilen? Ist es überhaupt ein zulässiger Gegenstand moralischer Bewertung? Ernährungsentscheidungen sind sehr persönlich: Sie haben uns alle von Kindheit an stark geprägt, sie sind Ausdruck unseres Selbst- und Weltverständnisses, und wir verbinden mit ihnen auch wichtige und schöne Gemeinschaftserlebnisse, vom Weihnachtsbraten im Familienkreis bis zur Grillparty unter Freundinnen und Freunden. Zu fragen wäre auch, wer, wenn überhaupt, die Kritik verdient und was sie im besten Fall bewirkt. Konsumentinnen und Konsumenten auf Massenmärkten antworten auf Angebote, die sie individuell kaum beeinflussen können, und das Wissen über die Methoden und die Folgen der Herstellung dieser Angebote ist unvollständig und ungleich verteilt.

Moral und Moralismus

Hier sind vier Fragen zu unterscheiden, die aufeinander aufbauen: Geschieht durch den Fleischkonsum etwas moralisch Schlechtes? Wenn ja, ist es unter sonst gleichen Umständen moralisch falsch, Fleisch nachzufragen, um es zu essen? Wenn ja, ist dies auch alles in allem gesehen verkehrt? Und wenn ja, welche Art der Kritik oder auch der Sanktion ist moralisch erlaubt oder sogar geboten?

Wer andere für ein moralisch neutrales oder erfreuliches Verhalten moralisch tadelt, verdient selbst einen Vorwurf, denn er urteilt und handelt moralistisch. Moralismus ist ein unangebrachter oder überzogener Gebrauch moralischer Begriffe und Begründungen. Wer in diesem Sinne moralisiert, übt eine moralische Kritik, die nicht oder jedenfalls nicht so angebracht ist. Moralistisch wäre es auch, andere für ein Verhalten zu tadeln, das zwar moralisch schlecht ist, für das die Akteurin aber keine Kritik verdient. Vielleicht konnte sie faktisch nicht anders handeln, oder sie besaß entschuldigende oder gar rechtfertigende Gründe, um das Schlechte dennoch zu tun. Moralistisch wäre es schließlich auch, ein moralisch alles in allem falsches Handeln maßlos zu verurteilen. Bei einem minderschweren Fehler mag eine Mahnung angebracht sein, nicht aber regelrechte Entrüstung.

Die erste und grundlegende Frage lautet, wann etwas moralisch Schlechtes geschieht. Nicht jedes noch so große Übel verdient ein moralisches Negativurteil. Wenn ein Stein ohne Fremdverschulden eine Wanderin erschlägt, so ist das zwar schrecklich, der Stein ist aber kein moralischer Akteur. Eine erste notwendige Bedingung für ein moralisches Übel ist daher, dass es in den Verantwortungsbereich moralischer Akteure fällt. Eine moralische Akteurin kann etwas tun oder lassen, weil sie einsieht, dass es moralisch verlangt oder verboten ist. Erforderlich ist zweitens, dass das Übel direkt oder indirekt jemanden (be)trifft, der moralisch um seiner selbst willen zählt. Beide Bedingungen sind sicher erfüllt, wo jemand durch sein Handeln einen menschenrechtlich erheblichen Schaden hervorruft, den ein anderer erleidet. Handlungen, die kausal zum Leiden oder vorzeitigen Sterben anderer Menschen beitragen, sind moralisch schlecht.

Allerdings haben wir, selbst wenn wir ein Übel durch unser Handeln aufrechterhalten, nicht immer die Fähigkeit, es zu verhindern oder auf eine bessere Welt hinzuwirken. Vielleicht können wir ein Problem kollektiven Handelns, etwa auf Weltmärkten, nicht lösen, das uns an wirksamer Abhilfe hindert. Nicht alles, was moralisch schlecht ist, ist darum auch schon moralisch falsch. Eine moralisch schlechte Handlung ist unter sonst gleichen Umständen moralisch falsch, wenn die Akteurin in ihrer Situation anders handeln und damit das moralische Übel vermeiden oder vermindern könnte. Allerdings könnte sie gleichwohl Gründe haben, die ihr Handeln alles in allem rechtfertigen. Das mögen zum Beispiel Rücksichten auf überwiegende Rechte Dritter oder unzumutbar hohe Kosten für die Handelnde selbst sein. Alles in allem falsch ist ein moralisch schlechtes Handeln nur dann, wenn die Akteurin anders handeln könnte und für ihr tatsächliches Tun oder Lassen keine zureichenden Rechtfertigungsgründe besitzt. Verdient sie deshalb aber auch schon in jedem Fall einen moralischen Vorwurf? Nicht unbedingt, denn vielleicht konnte sie von einer faktisch falschen, für sie möglichen und auch zumutbaren Handlung nicht wissen, dass diese falsch war und dass sie die Möglichkeit gehabt hätte, auf zumutbare Weise anders zu handeln. Und auch wenn sie einen Vorwurf verdient, ist vielleicht nur ein milder Tadel angebracht, aber kein heftiger moralischer Angriff.

Geschieht durch Fleischkonsum etwas moralisch Schlechtes?

Legen wir diese Unterscheidungen an den heutigen Fleischkonsum an, so lautet die erste Frage, ob durch ihn etwas moralisch Schlechtes geschieht. Die Antwort ist ja, denn die Fleischtierhaltung trägt kausal zum Leiden und vorzeitigen Sterben anderer Menschen bei.

Sie erschwert zunächst die Bekämpfung des Welthungers, weil sie eine wenig effiziente Art und Weise der Gewinnung von Nährstoffen ist. Etwa ein Drittel des weltweit angebauten Getreides und 75 Prozent der Sojabohnen werden an Vieh verfüttert, anstatt Menschen direkt zu ernähren. Tierprodukte beanspruchen 83 Prozent der Ackerflächen auf der Welt, decken aber nur 37 Prozent unseres Protein- und 18 Prozent unseres Kalorienbedarfs. Auch der Wasserverbrauch für Fleischprodukte ist hoch: 15.415 Liter für ein Kilogramm Rindfleisch, 5.988 Liter für ein Kilogramm Schweinefleisch und 4.325 Liter für ein Kilogramm Geflügel. Zugleich gelangen Nitrate, Pestizide und Antibiotika ins Wasser und gefährden direkt oder indirekt die menschliche Gesundheit. Nicht zuletzt trägt die Fleischproduktion auch zur globalen Erwärmung bei. Die industrielle Tierhaltung ist für 14,5 Prozent der von uns verantworteten Treibhausgase verantwortlich. Sie trägt damit mehr zum Klimawandel bei als der gesamte globale Transportsektor. Bezieht man alle relevanten Faktoren wie Landnutzung, Düngung, tierliche Verdauung und auch die Produktions- und Lieferketten in die Bilanz ein, so dürfte der Anteil der Treibhausgase aus der Massentierhaltung noch weit höher liegen – dem Worldwatch Institute zufolge bei mindestens 51 Prozent.

Ausgeblendet blieben bis jetzt die Folgen für die Tiere. Zählen auch "Fleischtiere" wie Schweine, Rinder und Puten moralisch um ihrer selbst willen? Sie sind jedenfalls Individuen, die etwas empfinden und erleben können. Und so gut wie keiner behauptet mehr, dass das Quälen eines Tieres moralisch neutral sei. Einem Tier Qualen zu bereiten, ist moralisch schlecht, und die direkteste Begründung dafür liegt im Tierleid selbst. Das ist auch nicht mehr nur eine Frage der Moral. Das deutsche Tierschutzgesetz zum Beispiel verbietet, einem Tier "ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden" zuzufügen.

Eine einfache Überlegung stützt diesen Minimalkonsens. Wenn wir moralisch urteilen, müssen wir Willkür vermeiden und gleiche Fälle gleich beachten. Wir müssen uns etwa fragen, welche unserer Interessen so stark sind, dass sie Pflichten der Rücksicht begründen. Entscheidend ist dann nicht, wer das Interesse hat, sondern wie wichtig es ist und welcher Gefährdung es unterliegt. Das sollte auch ungeachtet der biologischen Artengrenze gelten. Ein moralisch bedeutsames Interesse, das wir mit vielen anderen Tieren teilen, ist sicher die Vermeidung von Leiden. Selbst für Fische ist inzwischen gut belegt, dass sie Schmerz empfinden können. Aber Leidensfähigkeit ist nicht die einzige moralisch erhebliche Eigenschaft, die Menschen und Tiere gemeinsam haben. Erlebensfähige Tiere können sich auch an Spielen, an sinnlich stimulierenden Umwelten und an Freiheiten der Bewegung erfreuen. Höhere Tiere sind lernfähig und lösen gern Probleme, die ihre Intelligenz beanspruchen. Sozial veranlagte Tiere schätzen zudem das Zusammensein und die Interaktion mit anderen Individuen, seien es Artgenossen, andere Tiere oder auch Menschen. Viele Tiereltern empfinden offenbar Zuneigung zu ihrem Nachwuchs, sie bringen ihm etwas bei und verteidigen ihn gegen Bedrohungen.

Nicht zuletzt scheinen Tiere auch an ihrem eigenen Leben zu hängen. Schweine etwa reagieren ganz offenbar panisch, wenn sie im Schlachthof das Blut ihrer Artgenossen riechen. Ist das nur eine biologisch funktionale Todesfurcht ohne moralische Bedeutung? Immerhin scheinen die meisten Tiere nicht wie wir Menschen auf ihr Dasein als solches und als Ganzes reflektieren und um die eigene Sterblichkeit wissen zu können. Doch wiederum trifft wenigstens ein Grund, aus dem wir selbst das Weiterleben normalerweise wertschätzen, auch auf alle anderen empfindungs- und erlebensfähigen Tiere zu: Der Tod beraubt sie der Möglichkeit aller weiteren für sie erfreulichen Erlebnisse. Wenn dies für selbstbewusste Personen ein eigenständiger Grund ist, den Tod zu fürchten, so ist dieser auch für Tiere ein Übel.

Die Fleischindustrie schädigt Tiere in all diesen Hinsichten. Von Zukunftsszenarien wie bezahlbaren Steaks aus der Petrischale einmal abgesehen, müssen Tiere sterben, damit Menschen ihr Fleisch verzehren können. Die meisten sogenannten Fleischtiere werden zu diesem Zweck gezüchtet, gefangen gehalten und schließlich geschlachtet. Nicht wenige leiden schon unter ihrer leiblichen Verfassung, wie Mastputen, deren Oberschenkelknochen unter der Last der riesigen Brustmuskeln brechen. Zuchtsauen in Kastenständen und Abferkelbuchten sind auf so engem Raum eingesperrt, dass sie sich nicht um die eigene Achse drehen können. Hühner in Bodenhaltung leben mit so vielen Artgenossen auf engem Raum zusammen, dass sie sich gegenseitig angreifen und einander schwer verletzen. Ihre Halterinnen und Halter greifen dagegen zu Maßnahmen wie Schnabelkürzen ohne Betäubung und fügen den Tieren damit schwere Schmerzen zu. Leidvoll ist oft auch die stunden- oder tagelange Fahrt in engen und heißen Lastwagen zum Schlachthof, wo nicht wenige Tiere ein qualvoller Tod erwartet, weil die Betäubung versagt.

Die kleinbäuerliche Landwirtschaft unterscheidet sich hier höchstens graduell und nicht grundsätzlich von der industriellen Tierhaltung, die allerdings für die weitaus größte Menge an Leiden und für die weitaus meisten Tötungen verantwortlich zeichnet. Eine Fleischtierhaltung, die wirklich alle Grundbedürfnisse der Tiere befriedigte, wäre wirtschaftlich nicht rentabel. Die vergleichsweise wenigen Produkte, die sie abwürfe, wären prohibitiv teuer. Die allerwenigsten Fleischtiere können daher vor ihrer Tötung artgerechte Gruppen bilden, sich angemessen frei in sinnlich anregenden Umgebungen bewegen und natürlichen Neigungen wie Spiel oder Nestbau folgen. Und selbst die meisten Bio-Tiere werden am Ende ihres Lebens bis zu vier Stunden lang zum Schlachthof gefahren, wo sie das gleiche erleben und erleiden wie ihre übrigen Artgenossen auch. Eine Ausnahme machen hier nur (Freiland-)Rinder, die durch einen Kugelschuss auf der Weide getötet werden. Das ist vielleicht der am wenigsten grausame Tod für ein Tier, das aber dennoch etwas verliert: sein eines und einziges Leben. Das gleiche gilt für die Jagd, die zudem oft grausamer verläuft, als ihre Verteidiger uns glauben machen: Viele gejagte Tiere leiden unter Stress und unter Todesangst, und nicht wenige verenden unter Schmerzen, weil die Kugeln sie nicht sofort töten.

Ist Fleischkonsum moralisch verkehrt?

Wenn so vieles an und in der Fleischwirtschaft moralisch schlecht ist, ist es darum auch unter sonst gleichen Umständen moralisch verkehrt, wenn Menschen Fleisch nachfragen und verzehren? Sie müssten dazu in ihrer Situation die Möglichkeit haben, ein Übel zu vermeiden oder zu vermindern. Das kann, je nachdem, welche Moralauffassung man vertritt, Verschiedenes bedeuten. Konsequentialisten sind der Ansicht, dass die moralische Richtigkeit oder Falschheit letztendlich immer von den Folgen bestimmt wird, die unsere Handlungen oder auch Regelungen voraussichtlich haben. Dagegen argumentieren Deontologen, dass manche Handlungen und Regelungen in sich selbst verkehrt sind, weil sie etwa moralische Rechte verletzen.

Konsequentialistisch gesehen, scheinen Konsumentinnen und Konsumenten jedenfalls keinen gravierenden moralischen Fehler zu machen, wenn sie Fleisch kaufen. Die Strukturen der Fleischwirtschaft können jede individuelle Kaufverweigerung ganz oder teilweise neutralisieren. Anbieterinnen und Anbieter auf großen und komplexen (Massen-)Märkten produzieren nicht auf Abruf, und sie werden Gütermengen erst reduzieren oder gar gewisse Angebote ganz aufgeben, wenn die Boykotte einen Schwellenwert wirtschaftlicher Wahrnehmbarkeit überschreiten. Keine individuelle Konsumentin kann wissen, ob gerade sie mit ihrem Verzicht auf Fleisch einen solchen Unterschied macht. Dieses Problem ist als Einwand der kausalen Wirkungslosigkeit (causal impotence objection) bekannt.

Nicht alle Konsequentialisten, die das Problem erkennen, denken allerdings, dass es die moralischen Einwände gegen die Nachfrage nach Fleisch entkräfte. Schließlich trage jede individuelle Konsumentin mit einer gewissen, wenn auch von ihr nicht bezifferbaren Wahrscheinlichkeit dazu bei, dass der Schwellenwert einmal überschritten werden wird. Und dabei sei nicht maßgeblich, ob gerade ihre Entscheidung die gewünschte Wirkung zeitigt. Vielmehr sollte sie ihren Boykott von vornherein unter dem Gesichtspunkt des Aggregateffekts vieler individueller Handlungen vieler verschiedener Konsumenten betrachten. Zu diesem Effekt trägt sie selbst mit ihrem Boykott wie immer marginal bei, und er erhöht insgesamt die Wahrscheinlichkeit, dass der Schwellenwert überschritten werden wird. Außerdem könnte sie, indem sie individuell kein Fleisch mehr kauft, als Vorbild wirken: Ihr Beispiel könnte anderen das Gefühl geben, dass sie mit einem Verzicht nicht allein dastehen und viele individuellen Handlungen zusammen sehr wohl einen Unterschied machen. Nicht zuletzt könnte sie glaubwürdig für ein gemeinsames Vorgehen gegen die Fleischwirtschaft werben. Die größte Wirkung würden politische Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen erzielen, für die wir aber kollektiv eintreten müssten.

Damit ist allerdings auch gesagt, dass jedenfalls bei einer folgenbezogenen Betrachtung der mögliche moralische Fehler der Fleischkäuferin nicht sehr ins Gewicht fällt. Man mag daraus schließen, dass ihre Kaufhandlung (wenn überhaupt, dann) weniger kritikwürdig sei als die Handlungen von Akteuren, die über regelrechte Marktmacht verfügen. Aber man kann die Kritik verstärken, indem man auch deontologische Einwände hinzuzieht. Die Philosophin Christine Korsgaard argumentiert, dass jedes einzelne Tier ein Recht darauf habe, dass wir es immer auch als Zweck und niemals nur als Mittel gebrauchen. Wir sollten uns daher fragen, welches Verhältnis wir zu einem individuellen Tier eingehen, indem wir sein Fleisch essen oder andere Produkte nutzen, die ihm ohne Rücksicht auf sein Wohl abgepresst wurden. Wir würden es als bloßes Mittel behandeln, und das sei verkehrt.

Der Philosoph Blake Hereth argumentiert in ähnlicher Weise, dass es in sich falsch sei, andere Akteure für eine Ungerechtigkeit zu belohnen. Stellen Sie sich etwa vor, in einer vom Drogenkrieg verheerten Gemeinde existiere ein Laden, dessen Besitzerin die Kleidung von Mordopfern zu günstigen Preisen verkauft. Würden Sie einen solchen Laden aufsuchen, um von den Preisvorteilen zu profitieren? Dagegen spricht, dass Sie damit die Mordopfer missachteten und die Mordtaten indirekt noch honorierten. Das erscheint falsch – auch unabhängig davon, ob ein wirtschaftliches Scheitern des Ladens zum Ende des Drogenkrieges beitrüge. Analog sollten Sie auch kein Fleisch nachfragen, wenn den Tieren ein Unrecht getan wurde, um es in den Handel zu bringen. Sie würden diese Handlungsweise durch ihren Kaufakt nachträglich gutheißen, und das wäre auch unabhängig von den kausalen Folgen falsch.

Aber ist diese Analogie nicht schon im Ansatz verkehrt? Wie kann man Mordopfer in einem Drogenkrieg mit Fleischtieren vergleichen? Die einen sind Verbrechen zum Opfer gefallen, die anderen haben für einen legalen Zweck ihr Leben gelassen: uns Lebensmittel zu liefern. Nur weil die Morde fraglos verwerflich waren, sind Kauf und Verkauf der Kleidung es auch. Die Fleischerzeugung könnte hingegen, im Einklang mit dem geltenden Recht und den moralischen Überzeugungen der Mehrheit, gerechtfertigt sein. Auch wenn es unter sonst gleichen Umständen verkehrt ist, Menschen zu schädigen und Tiere zu quälen und zu töten, könnten doch moralisch gewichtige Gründe diese Übel überwiegen und der Fleischwirtschaft alles in allem Legitimität verleihen. Dies könnten überwiegende Rechte Dritter oder allzu große Opfer für die Akteure selbst sein. Vielleicht müssen wir Fleisch essen, um Grundbedürfnisse befriedigen zu können.

Aber zur Deckung unseres Nahrungsbedarfs durch Fleisch haben wir genügend bekömmliche, bezahlbare, schmackhafte und menschenwürdige Alternativen. In unseren westlichen Staaten und Städten ist niemand auf Fleisch angewiesen, um gesund und gut leben zu können. Wer es dennoch isst, folgt damit vielleicht bestimmten Geschmacksvorlieben, Gewohnheiten oder sozialen Konventionen. Das mag moralisch gesehen nicht irrelevant sein, aber es rechtfertigt nicht, Menschen zu schaden und Tieren großes Leid zuzufügen, um sie schließlich umzubringen. Die Grundvoraussetzungen ihres guten Lebens und das Weiterleben selbst wiegen unparteiisch gesehen schwerer als bloße Vorlieben, Gewohnheiten oder Konventionen. Man könnte allenfalls einwenden, dass doch die Interessen der Beschäftigten und der Unternehmer in der Nahrungsindustrie, die vom Fleischverkauf leben, moralisch gewichtig seien. Aber diese Interessen legitimieren nicht die Erlaubnis, immer weiter sogenannte Fleischtiere zu züchten, zu halten und zu töten. Sie sprechen nur für öffentliche Hilfen beim Übergang zu einer Landwirtschaft, die ohne die Fleischerzeugung auskäme.

Welche Kritik verdienen Konsumentinnen und Konsumenten?

Es ist demnach nicht nur unter sonst gleichen Umständen, sondern alles in allem gesehen moralisch verkehrt, wenn wir Fleisch kaufen und konsumieren. Aber auch wer etwas alles in allem Falsches tut, verdient dafür nicht unbedingt moralische Kritik. Vorwerfbar ist eine alles in allem verkehrte Handlung nur, wenn die Akteurin gewusst haben musste, dass sie etwas Falsches tat, und ihr eine andere, moralisch bessere Handlung möglich und zumutbar war. Damit soll indes nicht gesagt sein, dass ein bloßes Nichtwissen sie schon entschuldigen würde. Weil die Fleischwirtschaft Menschen und Tiere schädigt, sollten wir uns auch aktiv um das nötige Wissen bemühen. Da dies heute aber kein ernsthaftes Problem mehr darstellt, dürfte ein anderes Hindernis praktisch wichtiger sein.

Wie die Sozialpsychologin Melanie Joy betont, gilt das Verspeisen mancher Tiere, wie Schweine, Rinder und Puten, in unseren Gesellschaften als normal, natürlich und notwendig. Diese von ihr als "Karnismus" bezeichnete Auffassung entwickeln die meisten Menschen schon in früher Kindheit, und sie wirkt nicht nur kognitiv verzerrend, sondern formt auch die Gefühle. Der Fleischkonsum gehört zu einem System, das vielen Angehörigen unserer Gesellschaften zur zweiten Natur geworden ist. Ein tatsächliches Unrecht ist für Menschen kaum zu erkennen und noch schwerer innerlich zu überwinden, wenn es ihre ganze Lebensform durchzieht. Moralistisch mutet daher auch eine moralische Verurteilung von Menschen für ein Unrecht an, das sie nur bei einer ungewöhnlich weiten Distanzierung von ihrem Umfeld und den vorherrschenden Rechtfertigungsmustern als verkehrt erkennen könnten. Und das gilt abgeschwächt auch dann, wenn sie zwar wissen sollten, dass ihr Verhalten verkehrt ist, es ihnen aber innerlich schwerfällt, an ihm etwas zu ändern.

Vegetarierinnen und Veganer sollten daher in ihren Urteilen auch bedenken, wie unwahrscheinlich ihre eigenen Biografien sind. Sie sollten nicht vergessen, dass auch die meisten von ihnen als Fleischesser begonnen haben. Hier ist auch vor einem gewissen Klassenhochmut zu warnen: In den wohlhabenden Gesellschaften des Westens ist nicht mehr Fleisch, sondern Fleischverzicht zu einem Distinktionsmerkmal von Menschen mit viel ökonomischem und kulturellem Kapital geworden. Mit zunehmender formaler Bildung steigt die Wahrscheinlichkeit einer vegetarischen Ernährung. Menschen mit höherem Einkommen ernähren sich häufiger "flexitarisch", das heißt, sie fragen weniger, dafür aber höherwertiges Fleisch nach.

Das sind allerdings keine Gründe, auf moralische Kritik am Fleischkonsum ganz zu verzichten. Sie sprechen nur für eine gewisse Mäßigung im Vorbringen der Kritik oder auch schon in der zugrundeliegenden Bewertung. Die Kritik sollte nicht die Form eines regelrechten moralischen Angriffs annehmen. Ein milderer Einspruch ist nicht nur oft wirkungsvoller, weil er die Kritisierten weniger in die Defensive drängt und sie nicht zu Gegenvorwürfen verleitet. Strenge moralische Kritik ist auch eine Art der Sanktion, die Menschen verletzen kann. Moralische Sanktionen wirken innerlich, nicht äußerlich, aber das heißt nicht, dass es harmlos wäre, wenn jemand die Entrüstung oder Empörung anderer zu spüren bekommt.

Dabei hilft wiederum die Unterscheidung zwischen den moralisch schlechten Verhältnissen in der Fleischwirtschaft, dem moralisch falschen Handeln von Menschen im Rahmen dieser Verhältnisse sowie der Vorwerfbarkeit falscher Handlungen, die die Verhältnisse perpetuieren. Nicht jede moralisch gerechtfertigte Verurteilung eines Systems und seiner tragenden Praktiken rechtfertigt auch eine Verurteilung aller das System aufrechterhaltenden Akteure. Wer diese Unterscheidungen beachtet, kann seine moralische Kritik von sowohl kränkenden als auch kontraproduktiven Gefühlsausbrüchen freihalten. Eben weil Kritikerinnen und Kritiker des Fleischkonsums gegen ein institutionelles und auch ideologisches System ankämpfen, sollten sie dagegen gefeit sein, die Menschen, die durch das System geprägt wurden und in seinem Rahmen handeln, mit maßlosen und selbstgefälligen Vorwürfen zu behelligen.

Dies ist auch mit Blick auf die politische Ebene wichtig. Zwar ist grundsätzlich nicht einzusehen, warum wir unsere moralischen Pflichten gegenüber Tieren nicht auch mit staatlichem Zwang bewehren sollten. Immerhin stehen für sie Grundmöglichkeiten eines guten Lebens auf dem Spiel, die wir beachten könnten, ohne etwas von vergleichbarer Bedeutung zu verlieren. Ganz offenbar wäre aber ein gesetzlicher Hebel, um eine fleischlose Lebensweise durchzusetzen, heute überall auf der Welt bestenfalls vergeblich. Ohne eine kulturelle Revolution in unseren Einstellungen zu Tieren werden sich deren Ansprüche jedenfalls auf demokratische Weise nicht erfüllen lassen. Bis auf Weiteres werden wir daher mit dem zweitbesten Mittel moralischer Kritik auskommen und auf öffentliche Überzeugungsbildung setzen müssen. Umso wichtiger ist es wiederum, auf Selbstgerechtigkeit zu verzichten und Andersdenkende nicht zu dämonisieren. Dies gebietet erstens die Achtung, die wir freien und gleichen Mitbürgerinnen und Mitbürgern prinzipiell schulden. Es ist zweitens auch ein Gebot politischer Klugheit. Die Kritikerinnen und Kritiker des Fleischkonsums werben schließlich für Veränderungen, die die vorherrschenden Vorstellungen und Gefühle stark strapazieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Externer Link: http://www.landwirtschaft.de/landwirtschaft-verstehen/haetten-sies-gewusst/infografiken.

  2. Siehe dazu Bernd Ladwig, Ist der Veganismus ein Moralismus?, in: Christian Neuhäuser/Christian Seidel (Hrsg.), Kritik des Moralismus, Berlin 2020, S. 331–358.

  3. Vgl. Joseph Poore/Thomas Nemecek, Reducing Food’s Environmental Impacts Through Producers and Consumers, in: Science 6392/2018, S. 987–992.

  4. Siehe Externer Link: https://wfd.de/thema/fleisch-milch.

  5. Vgl. Food and Agriculture Organisation, Tackling Climate Change Through Livestock: A Global Assessment of Emissions and Mitigation Opportunities, Rom 2013.

  6. Vgl. Robert Goodland/Jeff Anhang, Livestock and Climate Change. What if the Key Actors in Climate Change Are … Cows, Pigs and Chickens?, in: World Watch November/December 2009, S. 10–19, hier S. 13.

  7. Zum Folgenden ausführlich Bernd Ladwig, Politische Philosophie der Tierrechte, Berlin 2020, Kap. 2.

  8. Vgl. die Liste tierlicher Grundfähigkeiten in: Martha C. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Berlin 2014, S. 528–539.

  9. Diese Tötungsmethode ist nur nach ganzjähriger Freilandhaltung erlaubt, weil sie waffenrechtliche Probleme aufwirft und mit dem grundsätzlichen Betäubungsgebot im Tierschutzgesetz kollidiert. Siehe dazu Rechtliche Hürden beim Kugelschuss. Interview mit Dr. Birgit Mennerich-Bunge, in: Land in Form Spezial 5/2015, S. 42f.

  10. Vgl. Jens Tuider/Ursula Wolf, Gibt es eine ethische Rechtfertigung der Jagd?, in: Tierethik 7/2013, S. 33–46.

  11. Vgl. Peter Singer, Utilitarianism and Vegetarianism, in: Philosophy and Public Affairs 4/1980, S. 325–337; Russ Shafer-Landau, Vegetarianism, Causation and Ethical Theory, in: Public Affairs Quarterly 1/1994, S. 85–100; Gary Chartier, On the Threshold Argument Against Consumer Meat Purchases, in: Journal of Social Philosophy 2/2006, S. 233–249; Shelly Kagan, Do I Make a Difference?, in: Philosophy and Public Affairs 2/2011, S. 105–141; Ben Almassi, The Consequences of Individual Consumption. A Defence of Threshold Arguments for Vegetarianism and Consumer Ethics, in: Journal of Applied Philosophy 4/2011, S. 396–411.

  12. Vgl. Almassi (Anm. 11), S. 404.

  13. Vgl. Christine M. Korsgaard, Tiere wie wir. Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben. Eine Ethik, München 2021, S. 284.

  14. Vgl. Blake Hereth, Animals and Causal Impotence: A Deontological View, in: Between the Species 1/2016, S. 32–51.

  15. Dazu aus ernährungswissenschaftlicher Sicht Claus Leitzmann/Markus Keller, Vegetarische Ernährung, Stuttgart 2013; Heike Englert/Sigrid Siebert (Hrsg.), Vegane Ernährung, Bern 2016.

  16. Vgl. Melanie Joy, Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus – eine Einführung, Münster 2015, S. 110.

  17. Vgl. Laura Einhorn, Schwere Kost: Zur sozialen Ungleichheit von Fleischkonsum und Fleischverzicht in Deutschland, in: Christian Bala/Wolfgang Schuldzinski (Hrsg.), Armutskonsum – Reichtumskonsum: Soziale Ungleichheit und Verbraucherpolitik, Düsseldorf 2020, S. 57–78.

  18. Vgl. Ernst Tugendhat, Dialog in Leticia, Frankfurt/M. 1996, S. 56f.

  19. Man denke etwa an die heftigen Reaktionen auf den Vorschlag eines "Veggieday" in öffentlichen Kantinen, den die Grünen 2013 in ihr Bundestagswahlprogramm aufnahmen.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Bernd Ladwig für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Politische Theorie und Philosophie am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.
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