Die Deutschen essen im Durchschnitt pro Jahr etwa 57,3 Kilogramm Fleisch.
Moral und Moralismus
Hier sind vier Fragen zu unterscheiden, die aufeinander aufbauen: Geschieht durch den Fleischkonsum etwas moralisch Schlechtes? Wenn ja, ist es unter sonst gleichen Umständen moralisch falsch, Fleisch nachzufragen, um es zu essen? Wenn ja, ist dies auch alles in allem gesehen verkehrt? Und wenn ja, welche Art der Kritik oder auch der Sanktion ist moralisch erlaubt oder sogar geboten?
Wer andere für ein moralisch neutrales oder erfreuliches Verhalten moralisch tadelt, verdient selbst einen Vorwurf, denn er urteilt und handelt moralistisch. Moralismus ist ein unangebrachter oder überzogener Gebrauch moralischer Begriffe und Begründungen. Wer in diesem Sinne moralisiert, übt eine moralische Kritik, die nicht oder jedenfalls nicht so angebracht ist. Moralistisch wäre es auch, andere für ein Verhalten zu tadeln, das zwar moralisch schlecht ist, für das die Akteurin aber keine Kritik verdient. Vielleicht konnte sie faktisch nicht anders handeln, oder sie besaß entschuldigende oder gar rechtfertigende Gründe, um das Schlechte dennoch zu tun. Moralistisch wäre es schließlich auch, ein moralisch alles in allem falsches Handeln maßlos zu verurteilen. Bei einem minderschweren Fehler mag eine Mahnung angebracht sein, nicht aber regelrechte Entrüstung.
Die erste und grundlegende Frage lautet, wann etwas moralisch Schlechtes geschieht. Nicht jedes noch so große Übel verdient ein moralisches Negativurteil. Wenn ein Stein ohne Fremdverschulden eine Wanderin erschlägt, so ist das zwar schrecklich, der Stein ist aber kein moralischer Akteur. Eine erste notwendige Bedingung für ein moralisches Übel ist daher, dass es in den Verantwortungsbereich moralischer Akteure fällt. Eine moralische Akteurin kann etwas tun oder lassen, weil sie einsieht, dass es moralisch verlangt oder verboten ist. Erforderlich ist zweitens, dass das Übel direkt oder indirekt jemanden (be)trifft, der moralisch um seiner selbst willen zählt. Beide Bedingungen sind sicher erfüllt, wo jemand durch sein Handeln einen menschenrechtlich erheblichen Schaden hervorruft, den ein anderer erleidet. Handlungen, die kausal zum Leiden oder vorzeitigen Sterben anderer Menschen beitragen, sind moralisch schlecht.
Allerdings haben wir, selbst wenn wir ein Übel durch unser Handeln aufrechterhalten, nicht immer die Fähigkeit, es zu verhindern oder auf eine bessere Welt hinzuwirken. Vielleicht können wir ein Problem kollektiven Handelns, etwa auf Weltmärkten, nicht lösen, das uns an wirksamer Abhilfe hindert. Nicht alles, was moralisch schlecht ist, ist darum auch schon moralisch falsch. Eine moralisch schlechte Handlung ist unter sonst gleichen Umständen moralisch falsch, wenn die Akteurin in ihrer Situation anders handeln und damit das moralische Übel vermeiden oder vermindern könnte. Allerdings könnte sie gleichwohl Gründe haben, die ihr Handeln alles in allem rechtfertigen. Das mögen zum Beispiel Rücksichten auf überwiegende Rechte Dritter oder unzumutbar hohe Kosten für die Handelnde selbst sein. Alles in allem falsch ist ein moralisch schlechtes Handeln nur dann, wenn die Akteurin anders handeln könnte und für ihr tatsächliches Tun oder Lassen keine zureichenden Rechtfertigungsgründe besitzt. Verdient sie deshalb aber auch schon in jedem Fall einen moralischen Vorwurf? Nicht unbedingt, denn vielleicht konnte sie von einer faktisch falschen, für sie möglichen und auch zumutbaren Handlung nicht wissen, dass diese falsch war und dass sie die Möglichkeit gehabt hätte, auf zumutbare Weise anders zu handeln. Und auch wenn sie einen Vorwurf verdient, ist vielleicht nur ein milder Tadel angebracht, aber kein heftiger moralischer Angriff.
Geschieht durch Fleischkonsum etwas moralisch Schlechtes?
Legen wir diese Unterscheidungen an den heutigen Fleischkonsum an, so lautet die erste Frage, ob durch ihn etwas moralisch Schlechtes geschieht. Die Antwort ist ja, denn die Fleischtierhaltung trägt kausal zum Leiden und vorzeitigen Sterben anderer Menschen bei.
Sie erschwert zunächst die Bekämpfung des Welthungers, weil sie eine wenig effiziente Art und Weise der Gewinnung von Nährstoffen ist. Etwa ein Drittel des weltweit angebauten Getreides und 75 Prozent der Sojabohnen werden an Vieh verfüttert, anstatt Menschen direkt zu ernähren. Tierprodukte beanspruchen 83 Prozent der Ackerflächen auf der Welt, decken aber nur 37 Prozent unseres Protein- und 18 Prozent unseres Kalorienbedarfs.
Ausgeblendet blieben bis jetzt die Folgen für die Tiere. Zählen auch "Fleischtiere" wie Schweine, Rinder und Puten moralisch um ihrer selbst willen? Sie sind jedenfalls Individuen, die etwas empfinden und erleben können. Und so gut wie keiner behauptet mehr, dass das Quälen eines Tieres moralisch neutral sei. Einem Tier Qualen zu bereiten, ist moralisch schlecht, und die direkteste Begründung dafür liegt im Tierleid selbst. Das ist auch nicht mehr nur eine Frage der Moral. Das deutsche Tierschutzgesetz zum Beispiel verbietet, einem Tier "ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden" zuzufügen.
Eine einfache Überlegung stützt diesen Minimalkonsens.
Nicht zuletzt scheinen Tiere auch an ihrem eigenen Leben zu hängen. Schweine etwa reagieren ganz offenbar panisch, wenn sie im Schlachthof das Blut ihrer Artgenossen riechen. Ist das nur eine biologisch funktionale Todesfurcht ohne moralische Bedeutung? Immerhin scheinen die meisten Tiere nicht wie wir Menschen auf ihr Dasein als solches und als Ganzes reflektieren und um die eigene Sterblichkeit wissen zu können. Doch wiederum trifft wenigstens ein Grund, aus dem wir selbst das Weiterleben normalerweise wertschätzen, auch auf alle anderen empfindungs- und erlebensfähigen Tiere zu: Der Tod beraubt sie der Möglichkeit aller weiteren für sie erfreulichen Erlebnisse. Wenn dies für selbstbewusste Personen ein eigenständiger Grund ist, den Tod zu fürchten, so ist dieser auch für Tiere ein Übel.
Die Fleischindustrie schädigt Tiere in all diesen Hinsichten. Von Zukunftsszenarien wie bezahlbaren Steaks aus der Petrischale einmal abgesehen, müssen Tiere sterben, damit Menschen ihr Fleisch verzehren können. Die meisten sogenannten Fleischtiere werden zu diesem Zweck gezüchtet, gefangen gehalten und schließlich geschlachtet. Nicht wenige leiden schon unter ihrer leiblichen Verfassung, wie Mastputen, deren Oberschenkelknochen unter der Last der riesigen Brustmuskeln brechen. Zuchtsauen in Kastenständen und Abferkelbuchten sind auf so engem Raum eingesperrt, dass sie sich nicht um die eigene Achse drehen können. Hühner in Bodenhaltung leben mit so vielen Artgenossen auf engem Raum zusammen, dass sie sich gegenseitig angreifen und einander schwer verletzen. Ihre Halterinnen und Halter greifen dagegen zu Maßnahmen wie Schnabelkürzen ohne Betäubung und fügen den Tieren damit schwere Schmerzen zu. Leidvoll ist oft auch die stunden- oder tagelange Fahrt in engen und heißen Lastwagen zum Schlachthof, wo nicht wenige Tiere ein qualvoller Tod erwartet, weil die Betäubung versagt.
Die kleinbäuerliche Landwirtschaft unterscheidet sich hier höchstens graduell und nicht grundsätzlich von der industriellen Tierhaltung, die allerdings für die weitaus größte Menge an Leiden und für die weitaus meisten Tötungen verantwortlich zeichnet. Eine Fleischtierhaltung, die wirklich alle Grundbedürfnisse der Tiere befriedigte, wäre wirtschaftlich nicht rentabel. Die vergleichsweise wenigen Produkte, die sie abwürfe, wären prohibitiv teuer. Die allerwenigsten Fleischtiere können daher vor ihrer Tötung artgerechte Gruppen bilden, sich angemessen frei in sinnlich anregenden Umgebungen bewegen und natürlichen Neigungen wie Spiel oder Nestbau folgen. Und selbst die meisten Bio-Tiere werden am Ende ihres Lebens bis zu vier Stunden lang zum Schlachthof gefahren, wo sie das gleiche erleben und erleiden wie ihre übrigen Artgenossen auch. Eine Ausnahme machen hier nur (Freiland-)Rinder, die durch einen Kugelschuss auf der Weide getötet werden.
Ist Fleischkonsum moralisch verkehrt?
Wenn so vieles an und in der Fleischwirtschaft moralisch schlecht ist, ist es darum auch unter sonst gleichen Umständen moralisch verkehrt, wenn Menschen Fleisch nachfragen und verzehren? Sie müssten dazu in ihrer Situation die Möglichkeit haben, ein Übel zu vermeiden oder zu vermindern. Das kann, je nachdem, welche Moralauffassung man vertritt, Verschiedenes bedeuten. Konsequentialisten sind der Ansicht, dass die moralische Richtigkeit oder Falschheit letztendlich immer von den Folgen bestimmt wird, die unsere Handlungen oder auch Regelungen voraussichtlich haben. Dagegen argumentieren Deontologen, dass manche Handlungen und Regelungen in sich selbst verkehrt sind, weil sie etwa moralische Rechte verletzen.
Konsequentialistisch gesehen, scheinen Konsumentinnen und Konsumenten jedenfalls keinen gravierenden moralischen Fehler zu machen, wenn sie Fleisch kaufen. Die Strukturen der Fleischwirtschaft können jede individuelle Kaufverweigerung ganz oder teilweise neutralisieren. Anbieterinnen und Anbieter auf großen und komplexen (Massen-)Märkten produzieren nicht auf Abruf, und sie werden Gütermengen erst reduzieren oder gar gewisse Angebote ganz aufgeben, wenn die Boykotte einen Schwellenwert wirtschaftlicher Wahrnehmbarkeit überschreiten. Keine individuelle Konsumentin kann wissen, ob gerade sie mit ihrem Verzicht auf Fleisch einen solchen Unterschied macht. Dieses Problem ist als Einwand der kausalen Wirkungslosigkeit (causal impotence objection) bekannt.
Nicht alle Konsequentialisten, die das Problem erkennen, denken allerdings, dass es die moralischen Einwände gegen die Nachfrage nach Fleisch entkräfte. Schließlich trage jede individuelle Konsumentin mit einer gewissen, wenn auch von ihr nicht bezifferbaren Wahrscheinlichkeit dazu bei, dass der Schwellenwert einmal überschritten werden wird. Und dabei sei nicht maßgeblich, ob gerade ihre Entscheidung die gewünschte Wirkung zeitigt. Vielmehr sollte sie ihren Boykott von vornherein unter dem Gesichtspunkt des Aggregateffekts vieler individueller Handlungen vieler verschiedener Konsumenten betrachten. Zu diesem Effekt trägt sie selbst mit ihrem Boykott wie immer marginal bei, und er erhöht insgesamt die Wahrscheinlichkeit, dass der Schwellenwert überschritten werden wird.
Damit ist allerdings auch gesagt, dass jedenfalls bei einer folgenbezogenen Betrachtung der mögliche moralische Fehler der Fleischkäuferin nicht sehr ins Gewicht fällt. Man mag daraus schließen, dass ihre Kaufhandlung (wenn überhaupt, dann) weniger kritikwürdig sei als die Handlungen von Akteuren, die über regelrechte Marktmacht verfügen. Aber man kann die Kritik verstärken, indem man auch deontologische Einwände hinzuzieht. Die Philosophin Christine Korsgaard argumentiert, dass jedes einzelne Tier ein Recht darauf habe, dass wir es immer auch als Zweck und niemals nur als Mittel gebrauchen. Wir sollten uns daher fragen, welches Verhältnis wir zu einem individuellen Tier eingehen, indem wir sein Fleisch essen oder andere Produkte nutzen, die ihm ohne Rücksicht auf sein Wohl abgepresst wurden. Wir würden es als bloßes Mittel behandeln, und das sei verkehrt.
Der Philosoph Blake Hereth argumentiert in ähnlicher Weise, dass es in sich falsch sei, andere Akteure für eine Ungerechtigkeit zu belohnen.
Aber ist diese Analogie nicht schon im Ansatz verkehrt? Wie kann man Mordopfer in einem Drogenkrieg mit Fleischtieren vergleichen? Die einen sind Verbrechen zum Opfer gefallen, die anderen haben für einen legalen Zweck ihr Leben gelassen: uns Lebensmittel zu liefern. Nur weil die Morde fraglos verwerflich waren, sind Kauf und Verkauf der Kleidung es auch. Die Fleischerzeugung könnte hingegen, im Einklang mit dem geltenden Recht und den moralischen Überzeugungen der Mehrheit, gerechtfertigt sein. Auch wenn es unter sonst gleichen Umständen verkehrt ist, Menschen zu schädigen und Tiere zu quälen und zu töten, könnten doch moralisch gewichtige Gründe diese Übel überwiegen und der Fleischwirtschaft alles in allem Legitimität verleihen. Dies könnten überwiegende Rechte Dritter oder allzu große Opfer für die Akteure selbst sein. Vielleicht müssen wir Fleisch essen, um Grundbedürfnisse befriedigen zu können.
Aber zur Deckung unseres Nahrungsbedarfs durch Fleisch haben wir genügend bekömmliche, bezahlbare, schmackhafte und menschenwürdige Alternativen. In unseren westlichen Staaten und Städten ist niemand auf Fleisch angewiesen, um gesund und gut leben zu können.
Welche Kritik verdienen Konsumentinnen und Konsumenten?
Es ist demnach nicht nur unter sonst gleichen Umständen, sondern alles in allem gesehen moralisch verkehrt, wenn wir Fleisch kaufen und konsumieren. Aber auch wer etwas alles in allem Falsches tut, verdient dafür nicht unbedingt moralische Kritik. Vorwerfbar ist eine alles in allem verkehrte Handlung nur, wenn die Akteurin gewusst haben musste, dass sie etwas Falsches tat, und ihr eine andere, moralisch bessere Handlung möglich und zumutbar war. Damit soll indes nicht gesagt sein, dass ein bloßes Nichtwissen sie schon entschuldigen würde. Weil die Fleischwirtschaft Menschen und Tiere schädigt, sollten wir uns auch aktiv um das nötige Wissen bemühen. Da dies heute aber kein ernsthaftes Problem mehr darstellt, dürfte ein anderes Hindernis praktisch wichtiger sein.
Wie die Sozialpsychologin Melanie Joy betont, gilt das Verspeisen mancher Tiere, wie Schweine, Rinder und Puten, in unseren Gesellschaften als normal, natürlich und notwendig.
Vegetarierinnen und Veganer sollten daher in ihren Urteilen auch bedenken, wie unwahrscheinlich ihre eigenen Biografien sind. Sie sollten nicht vergessen, dass auch die meisten von ihnen als Fleischesser begonnen haben. Hier ist auch vor einem gewissen Klassenhochmut zu warnen: In den wohlhabenden Gesellschaften des Westens ist nicht mehr Fleisch, sondern Fleischverzicht zu einem Distinktionsmerkmal von Menschen mit viel ökonomischem und kulturellem Kapital geworden. Mit zunehmender formaler Bildung steigt die Wahrscheinlichkeit einer vegetarischen Ernährung. Menschen mit höherem Einkommen ernähren sich häufiger "flexitarisch", das heißt, sie fragen weniger, dafür aber höherwertiges Fleisch nach.
Das sind allerdings keine Gründe, auf moralische Kritik am Fleischkonsum ganz zu verzichten. Sie sprechen nur für eine gewisse Mäßigung im Vorbringen der Kritik oder auch schon in der zugrundeliegenden Bewertung. Die Kritik sollte nicht die Form eines regelrechten moralischen Angriffs annehmen. Ein milderer Einspruch ist nicht nur oft wirkungsvoller, weil er die Kritisierten weniger in die Defensive drängt und sie nicht zu Gegenvorwürfen verleitet. Strenge moralische Kritik ist auch eine Art der Sanktion, die Menschen verletzen kann. Moralische Sanktionen wirken innerlich, nicht äußerlich, aber das heißt nicht, dass es harmlos wäre, wenn jemand die Entrüstung oder Empörung anderer zu spüren bekommt.
Dabei hilft wiederum die Unterscheidung zwischen den moralisch schlechten Verhältnissen in der Fleischwirtschaft, dem moralisch falschen Handeln von Menschen im Rahmen dieser Verhältnisse sowie der Vorwerfbarkeit falscher Handlungen, die die Verhältnisse perpetuieren. Nicht jede moralisch gerechtfertigte Verurteilung eines Systems und seiner tragenden Praktiken rechtfertigt auch eine Verurteilung aller das System aufrechterhaltenden Akteure. Wer diese Unterscheidungen beachtet, kann seine moralische Kritik von sowohl kränkenden als auch kontraproduktiven Gefühlsausbrüchen freihalten. Eben weil Kritikerinnen und Kritiker des Fleischkonsums gegen ein institutionelles und auch ideologisches System ankämpfen, sollten sie dagegen gefeit sein, die Menschen, die durch das System geprägt wurden und in seinem Rahmen handeln, mit maßlosen und selbstgefälligen Vorwürfen zu behelligen.
Dies ist auch mit Blick auf die politische Ebene wichtig. Zwar ist grundsätzlich nicht einzusehen, warum wir unsere moralischen Pflichten gegenüber Tieren nicht auch mit staatlichem Zwang bewehren sollten. Immerhin stehen für sie Grundmöglichkeiten eines guten Lebens auf dem Spiel, die wir beachten könnten, ohne etwas von vergleichbarer Bedeutung zu verlieren. Ganz offenbar wäre aber ein gesetzlicher Hebel, um eine fleischlose Lebensweise durchzusetzen, heute überall auf der Welt bestenfalls vergeblich.