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Zeitenwende (auch) für die Europäische Souveränität | Festung Europa? | bpb.de

Festung Europa? Editorial Festung Europa? Kleine Entwicklungsgeschichte der europäischen Integration Gefangen in Zielkonflikten. Die Gemeinsame Europäische Asylpolitik Vom restriktiven Asyl- zum kooperativen Aufnahmesystem. Über die grenzenlose Aufnahme ukrainischer Geflüchteter Zwischen Abenteuer, Risiko und Überleben. Westafrikanische Perspektiven auf Migration Grenzkontrollen an den Grenzen des Rechts. Frontex zwischen Rechtsschutz und Rechtsverletzung Ökonomische Resilienz durch mehr Protektionismus? Die Handelspolitik der Europäischen Union Zeitenwende (auch) für die Europäische Souveränität

Zeitenwende (auch) für die Europäische Souveränität

Claudia Major Nicolai von Ondarza

/ 18 Minuten zu lesen

Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine steht die Frage der verteidigungspolitischen Handlungsfähigkeit Europas und der EU auf der Tagesordnung. Bis zu einem Zustand "Europäischer Souveränität" ist es jedoch noch ein weiter Weg.

Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russland die kooperative europäische Sicherheitsordnung zerstört, die es gemeinsam mit den westlichen Staaten aufgebaut hatte, etwa im Rahmen der Helsinki-Schlussakte (1975) und der Charta von Paris (1990). Die EU- und Nato-Staaten werden in Zukunft Sicherheit und Frieden nicht mehr gemeinsam mit Russland, sondern in Abgrenzung von Russland organisieren müssen. Die Bedeutung der Nato und der USA ist daher seit Beginn des Krieges im Februar 2022 noch einmal gewachsen – vielen Europäern erscheinen sie als ultimative Lebensversicherung, die sie vor russischen Aggressionen schützen kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Debatte um Europäische Souveränität oder strategische Autonomie vom Tisch wäre. Im Gegenteil: Souveränität bedeutet letztlich Handlungsfähigkeit, und der Krieg in Europa erfordert umso dringlicher von den Europäern, auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik handlungsfähiger zu werden.

Während die Debatte um die strategische Autonomie Europas nach 2016 primär von Fragen nach mehr europäischer Eigenständigkeit gegenüber den USA unter einem wenig verlässlichen Präsidenten Donald Trump geprägt war, steht nunmehr die Handlungsfähigkeit der Europäer in einer konfrontativen europäischen Sicherheitsordnung im Vordergrund. Einigkeit besteht darin, dass Europa handlungsfähiger werden muss. In welchem institutionellen Rahmen dies erfolgen wird, bleibt zu entscheiden: Die EU, die Nato oder auch "minilaterale" Formate zwischen einigen wenigen Ländern haben ihre jeweils eigenen Vor- und Nachteile. Mehr Handlungsfähigkeit und ein souveränes Europa forderte jedenfalls der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im August 2022 und zielte damit auf eine Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aber auch auf eine Reduzierung der Abhängigkeit in strategischen Ressourcen sowie eine Stärkung technologischer und wirtschaftlicher Souveränität der EU.

Von strategischer Autonomie zu europäischer Souveränität

Verschiedene Begriffe prägen die Debatte: In der EU-Globalstrategie ist die Rede von "strategischer Autonomie", der französische Präsident Emmanuel Macron spricht von "Europäischer Souveränität", im Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2021 fordern die Ampel-Parteien "strategische Souveränität". Anstatt sich auf die Unterschiede in den Definitionen zu konzentrieren, empfiehlt sich der Fokus auf die Gemeinsamkeiten: Alle Definitionen beziehen sich im Kern auf die Idee der Handlungsfähigkeit. Die Europäer sollen in der Lage sein, eigene Ziele zu definieren und diese umzusetzen – allein, wo nötig, und mit Partnern, wo möglich.

Das Ziel eigener Handlungsfähigkeit ist damit einerseits Ausdruck der Sorge und Vorsorge: Wenn Europa einen Platz in der sich ändernden internationalen Ordnung finden und diese Ordnung auch nach seinen Zielen mitgestalten will, muss es mehr aus eigener Kraft bewirken können. Andererseits ist das Ziel der Handlungsfähigkeit auch Ausdruck eines Anspruchs: Die Europäer haben mit der EU eine beeindruckende politische Gemeinschaft geschaffen, sind aber bislang zu selten in der Lage, gemeinsame Interessen in ihrer Nachbarschaft oder gar global gemeinsam durchzusetzen. In einem klassischen militärischen Szenario sind sie auf die konventionellen und nuklearen Fähigkeiten der USA angewiesen. Europäische Handlungsfähigkeit sollte daher nicht nur eine Reaktion auf sich verändernde Verhältnisse sein, seien es wenig verlässliche US-Präsidenten oder ein russischer Angriffskrieg. Die Europäer sollten auch die intrinsische Motivation haben, ihre Errungenschaften zu verteidigen und ihre Umgebung nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Betrachtet man diese beiden Dimensionen zusammen, dann beschreibt Europäische Souveränität die Fähigkeit der europäischen Staaten, eigene Prioritäten zu formulieren und diese auch umzusetzen – zusammen mit Partnern oder alleine. Es geht also nicht um europäische Unabhängigkeit oder Autarkie, auch nicht darum, Allianzen oder Partner abzulehnen. Ziel ist nicht die Autonomie von jemandem, etwa den USA, sondern die eigene Handlungsfähigkeit zu etwas – etwa die Nachbarschaft Europas nach den eigenen Zielen zu formen.

Damit wird auch deutlich, dass Souveränität oder Handlungsfähigkeit alle Politikfelder betrifft. Ziel ist eine Europäische Souveränität in allen Bereichen, von Handel über Energie bis Verteidigung. In einigen sind die Europäer besser aufgestellt als in anderen. Im Bereich wirtschaftlicher Standards hat die Stimme der Europäischen Kommission Gewicht. Im klassischen Verteidigungsbereich hingegen sind die Europäer schlecht positioniert, hier herrschen die größten Abhängigkeiten: außerhalb Europas von den USA; und außerhalb der EU von Großbritannien und der Türkei.

Sonderbereich Verteidigung

Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die europäische Handlungsfähigkeit im Bereich Verteidigung, dessen Bedeutung der russische Angriffskrieg auf die Ukraine noch einmal hervorgehoben hat. Die Souveränität in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bedarf der Handlungsfähigkeit in viererlei Hinsicht: politisch, institutionell, industriell sowie mit Blick auf materielle Fähigkeiten.

Politische Autonomie beschreibt die Fähigkeit, eigene Prioritäten zu definieren, entscheidungsfähig zu sein und ein Ambitionsniveau festzulegen. Anders formuliert: Was will Europa können? Geht es um Krisenmanagement, wie es im "Strategischen Kompass" der EU verankert ist, oder auch um kollektive Verteidigung wie in der Nato? Damit verbunden ist die Frage des Akteurs: Wer ist dieses Europa, das strategisch souverän sein will: die EU, die Nato, die drei großen Europäer Frankreich, Deutschland und Großbritannien ("E3") – oder ein neues Format, das etwa die mittel- und osteuropäischen Staaten besser einbezieht, deren Gewicht im Rahmen des russischen Kriegs gegen die Ukraine gewachsen ist?

Institutionelle Autonomie beschreibt die Fähigkeit, die notwendigen Governance-Strukturen aufzubauen, um die politischen Prioritäten auch umzusetzen. Dies wären zum Beispiel Planungs- und Führungsstrukturen. Die EU baut derzeit ihre Strukturen im Krisenmanagement aus, die Nato ist das weltweit größte stehende Militärbündnis, dessen Bedeutung im aktuellen Krieg noch einmal gewachsen ist. Daher stellt sich die Frage, in welchem Format die Europäer langfristig handeln wollen beziehungsweise in welchem Format sie welche Aufgaben wahrnehmen wollen.

Industrielle Souveränität beschreibt die Fähigkeit, in strategischen Industriebereichen unabhängig, kompetitiv und innovativ zu bleiben und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Praktisch hieße das zum Beispiel, dass die Europäer ihr neues Kampfflugzeugsystem nicht von den USA kaufen, sondern selbst in der Lage sind, die notwendigen Technologien zu entwickeln. Diese Überlegung leitet etwa das Projekt "Future Combat Air System" an, die nächste Generation von Luftkampfsystemen, das Frankreich und Deutschland 2017 auf den Weg gebracht haben.

Souveränität mit Blick auf Fähigkeiten schließlich beschreibt die Notwendigkeit der materiellen Ausstattung: Die Europäer müssen über die notwendigen Ressourcen verfügen, seien es militärische oder zivile Instrumente, um ihre politischen Ziele auch umsetzen zu können. Sie haben sich in EU und Nato (und in ihren nationalen Strategiedokumenten) Ziele gesetzt, jedoch wurden weder die Nato- noch die EU-Planungsziele in den vergangenen Jahren erfüllt. Bislang sind die Europäer im Bereich der kollektiven Verteidigung nicht in der Lage, in einem regionalen militärischen Konflikt ohne die USA zu bestehen. Die bestehenden Lücken zu schließen und die Abhängigkeit von den USA zu reduzieren, wird je nach finanzieller und politischer Unterstützung und je nach Konfliktszenario Jahre oder gar Jahrzehnte dauern.

In allen vier Bereichen sind die Europäer aktuell weit von eigenständiger Handlungsfähigkeit entfernt. Sie haben jedoch in den zurückliegenden Jahren die Bemühungen in allen Bereichen intensiviert. Der aktuelle Krieg hat diese Bemühungen beschleunigt.

Veränderte europäische Souveränitätsdebatte

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Debatte um die "strategische Souveränität" Europas verändert. Drei Entwicklungen sind hervorzuheben: die zumindest temporäre Repositionierung der USA als europäische Macht und das damit verbundene Wiedererstarken der Nato, die asymmetrischen Änderungen in den Verteidigungspolitiken europäischer Staaten sowie die mit diesen beiden Faktoren verbundenen Verschiebungen im EU-Nato-Verhältnis.

Renaissance der Nato

Die politische Führungsrolle der USA vor und seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine, die systematische Abstimmung Washingtons mit den Verbündeten und die substanziellen militärischen Beiträge der USA für die Ukraine, im Rahmen der Nato und bilateral (etwa in Polen), prägen die Reaktion des Westens. Die US-Rolle ist umso beeindruckender, als viele europäische Verbündete befürchteten, dass sich die USA zunehmend von Europa weg in Richtung Indo-Pazifik abwenden würden. Der kaum koordinierte Abzug aus Afghanistan im Sommer 2021 hatte die Europäer traumatisiert. Er hatte ihnen den Eindruck vermittelt, dass Washington wenig Interesse an einer Abstimmung mit den Europäern habe und deren Interessen kaum beachte. Das Sicherheitsbündnis Aukus, das die USA, Großbritannien und Australien im September 2021 der Öffentlichkeit bekannt machten – und für das Australien seine Zusammenarbeit mit Frankreich aufkündigte –, verstärkte den Eindruck der geringen Rücksichtnahme auf europäische Partner und der unbedingten Hinwendung zum Indo-Pazifik.

Doch seit der Zunahme der Spannungen mit Russland im Herbst 2021 hat sich Washington als zentraler Ansprechpartner positioniert, der in Absprache mit den Europäern und der Ukraine die Verhandlungen mit und die Verteidigung gegen Russland koordiniert. Die Verlegung von zusätzlichen US-Truppen nach Europa und die umfassende US-Unterstützung für die Ukraine haben diesen Eindruck verstärkt.

Das derzeit starke US-Engagement sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Washington erstens den Fokus seiner Sicherheitspolitik immer noch im Indo-Pazifik und unter dem Leitmotiv der systemischen Konkurrenz mit China sieht. Die nach Ausbruch des Ukraine-Krieges in Teilen veröffentlichte "National Defense Strategy" mit ihrem klaren Chinafokus unterstreicht das. Auch in der Planung der Streitkräfte zeichnet sich keine strukturelle Veränderung ab. Während der Erarbeitung des Strategischen Konzepts der Nato drängten die USA auf eine kritische Einschätzung Chinas. Hinzu kommt zweitens, dass die Präsidentschaftswahlen in den USA 2024 einen Machtwechsel hin zu einem europaskeptischen Präsidenten nach sich ziehen könnten, der, vergleichbar mit US-Präsident Trump, der transatlantischen Zusammenarbeit und Europas Verteidigung deutlich weniger Interesse entgegenbringen könnte.

Aus der Perspektive der Europäer ist das aktuell starke US-Engagement auch deshalb wichtig, weil Washington die politische, konventionelle und nukleare Stärke der Nato garantiert. Bislang hat Russland von Angriffen und Provokationen auf Nato-Territorium abgesehen. Die Abschreckung, die zu großen Teilen auf US-Beiträgen basiert, funktioniert. Auf dem Gipfel in Madrid im Juni 2022 haben die Nato-Staaten eine grundsätzliche militärische Neuaufstellung auf den Weg gebracht, die langfristig die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit sichern soll. Zudem haben sie den Beitrittsantrag Finnlands und Schwedens angenommen. Im ebenfalls in Madrid verabschiedeten neuen Strategischen Konzept, einer Art Sicherheitsstrategie der Nato, legen die Alliierten auch ihre Analyse des sicherheitspolitischen Umfeldes vor: Russland etwa wird dabei als "größte und unmittelbarste Bedrohung für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum" identifiziert.

Zeitenwende nicht nur in Deutschland

Deutlich werden die Veränderungen in den Verteidigungspolitiken und -haushalten der europäischen Staaten sichtbar. Doch ein genauerer Vergleich offenbart größere Unterschiede in deren Tiefe und Geschwindigkeit. Grob lassen sich hier drei Gruppen unterscheiden:

Die erste Gruppe bilden Staaten, die die Prinzipien ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik revidiert haben. Hierzu gehören insbesondere Finnland und Schweden, die ihre langfristige – im Falle von Schweden sogar jahrhundertlange – Bündnisfreiheit aufgegeben und gemeinsam die Mitgliedschaft in der Nato beantragt haben. Zwar waren beide bereits über die EU-Mitgliedschaft sowie eine Partnerschaft mit der Nato eng an das westliche Bündnis angegliedert, formell haben beide Staaten aber bis zum Frühjahr 2022 auf ihrer Bündnisfreiheit bestanden. Diese gehörte in beiden Staaten nicht nur zum verteidigungspolitischen Selbstverständnis, sondern war auch Teil der nationalen Identität. Angesichts geänderter Bedrohungsperzeptionen änderten in beiden Staaten innerhalb weniger Wochen alle beteiligten Regierungsparteien und große Teile der jeweiligen Opposition ihre Position und stimmten einem Nato-Beitritt zu, einschließlich schwieriger Verhandlungen mit der Türkei. Durch den Beitritt beider Länder würde die Zahl jener Staaten, die sowohl in der Nato als auch in der EU Mitglied sind, von 21 auf 23 steigen, die Nato-Ostgrenze zu Russland um 1300km wachsen, und die Ostsee würde, mit Ausnahme der russischen Territorien, zu einem Nato-Binnenmeer.

Auch Dänemark hat, wenn auch weniger beachtet, einen Aspekt seiner Verteidigungspolitik geändert. Seit dem ersten (negativen) Referendum zum Vertrag von Maastricht war das verteidigungspolitisch eher transatlantisch orientierte Land per "Opt-out" den militärischen Aspekten der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik ferngeblieben. Der Aufhebung dieses Opt-outs hat am 3. Juni 2022 nach kurzer Kampagne die Mehrheit der dänischen Bevölkerung in einer Volksabstimmung zugestimmt und damit den Weg für eine dänische Beteiligung etwa an der EU-Zusammenarbeit in der Rüstungspolitik freigemacht.

Nicht zuletzt lässt sich auch die deutsche "Zeitenwende" als Abkehr von fundamentalen Prinzipien in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik charakterisieren. Hervorzuheben sind nicht nur das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, die Ankündigung, das "Zwei-Prozent-Ziel" der Nato bereits in den nächsten Jahren zu erfüllen, oder die lange kontrovers diskutierte Beschaffung des Flugzeugs F-35, um Deutschlands Rolle in der nuklearen Abschreckung zu sichern. Genauso bemerkenswert ist die Abkehr von bisherigen politischen Prinzipien, etwa, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern oder die Beschaffung bewaffneter Drohnen abzulehnen. In einer Grundsatzrede im September 2022 hat Verteidigungsministerin Christine Lambrecht nun sogar von einer deutschen militärischen Führungsrolle in Kontinentaleuropa gesprochen. Auch die Niederlande haben angekündigt, ihren Verteidigungshaushalt für 2023 auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen.

Eine zweite Gruppe bilden diejenigen Staaten vor allem Mittel- und Osteuropas, die im Kontext des russischen Angriffskrieges deutliche Erhöhungen ihrer nationalen Verteidigungshaushalte angekündigt und bestehende Trends verstärkt haben. Das beste Beispiel hierfür ist Polen, das 2014 begonnen hat, seinen Verteidigungshaushalt zu erhöhen und das Zwei-Prozent-Ziel der Nato zu erfüllen. Für 2023 will das Land seinen Verteidigungshaushalt von 2,2 (2022) auf 3 Prozent des BIP erhöhen. Estland, Lettland und Litauen haben beschlossen, ihre jeweiligen Verteidigungshaushalte auf mindestens 2,5 Prozent des BIP zu erhöhen. Alle drei Länder gehörten aber auch bislang schon zu den wenigen europäischen Nato-Staaten, die das Zwei-Prozent-Ziel erfüllt haben. Die geplante Aufstockung ist daher eher als Intensivierung und Verstärkung einer bestehenden Verteidigungspolitik denn als Neuausrichtung zu begreifen. In diese Gruppe einzuordnen ist auch das Vereinigte Königreich, das schon seit längerem das Zwei-Prozent-Ziel erfüllt und, zumindest bis zur Umsetzung des deutschen Sondervermögens, den größten Verteidigungshaushalt der europäischen Nato-Staaten aufweist und diesen nun weiter steigern will. Die neue Premierministerin Liz Truss hat im innerparteilichen Wahlkampf um die Führung der konservativen Partei eine massive Aufstockung auf 3 Prozent des BIP unterstützt, allerdings in einer Zeitperspektive bis 2030.

Die dritte Gruppe umfasst europäische Staaten, die zwar die Ukraine militärisch unterstützen und auch über die EU Waffenlieferungen an das Land mitfinanziert haben, aber bisher keine umfassenden Änderungen ihrer nationalen Sicherheits- und Verteidigungspolitik angekündigt haben. Zu diesen zählen die meisten west- und südeuropäischen Länder wie Frankreich, Italien, Portugal, Spanien und Griechenland. Teilweise wurde zu Beginn des Krieges zwar politisch-rhetorisch das Zwei-Prozent-Ziel der Nato bekräftigt, etwa in Italien, bislang aber keine Anstrengung unternommen, es auch tatsächlich zu erfüllen. Belgien etwa hat angekündigt, den Rückgang seines Verteidigungshaushalts zu stoppen und sich bis 2030 in Richtung eines Budgets von 1,5 Prozent des BIP zu bewegen, läge damit aber weit hinter den Nato-Zielen und den Ankündigungen der nordischen sowie der mittel- und osteuropäischen Staaten. Auch die anderen bündnisfreien Staaten in der EU – Irland, Malta, Österreich und Zypern – haben ihr Verhältnis zur Nato nicht neu aufgesetzt. Irland und Österreich haben sogar von einer "konstruktiven Enthaltung" Gebrauch gemacht, um sich an der Finanzierung von Waffen für die Ukraine seitens der EU nicht beteiligen zu müssen.

In der Gesamtschau ergibt sich ein klares Muster bezüglich der nationalen Verteidigungspolitiken. Die größten Veränderungen gab es bei den nordischen Staaten sowie Deutschland, bei denen der Ukraine-Krieg zentrale Annahmen der Außen- und Sicherheitspolitik in Frage gestellt hat. Mit der bemerkenswerten Ausnahme von Ungarn haben die meisten mittel- und osteuropäischen Staaten ihre Verteidigungshaushalte deutlich erhöht. Die geografisch von der Kriegsregion weiter entfernten Länder West- und Südeuropas haben zwar – und auch das nur teilweise – ihre Ziele zur Erhöhung der Verteidigungshaushalte bekräftigt, dies aber bisher nicht umgesetzt. Sollte sich diese Zweiteilung fortsetzen, dürfte dies zu einer spürbaren Schieflage in den Verteidigungsausgaben führen – und zu möglichen Spannungen mit Blick auf die Prioritäten in EU und Nato.

Spezifische Rolle der EU

Angesichts des Wiedererstarkens der Nato und der – zumindest derzeitigen – Bestätigung der USA als "europäische Macht" stellt sich die Frage, welche Rolle die EU in der europäischen Verteidigungspolitik übernehmen kann und sollte. Denn in jeder Debatte über Europäische Souveränität schwingt die Frage mit, ob diese Souveränität im Rahmen der EU, einem europäischen Pfeiler in der Nato oder auf andere Weise ausgeübt werden soll. Diese Frage ist seit dem Brexit noch einmal dringlicher geworden.

Denn erstens ist angesichts der realen Bedrohung durch Russland deutlich geworden, dass die EU keine zentrale Rolle für die territoriale Verteidigung ihrer Mitglieder spielt. Rechtlich gesehen enthält der EU-Vertrag mit Artikel 42 Absatz 7 EUV zwar eine Beistandsklausel, mit der sich die EU-Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung im Falle eines bewaffneten Angriffs verpflichten. Doch diese Beistandsklausel ist nie operationalisiert worden, und bereits der EU-Vertrag selbst macht deutlich, dass die Mitgliedstaaten der Nato ihre Verteidigung in der Allianz organisieren. Artikel 42 Absatz 7 EUV ist bislang auch nur einmal genutzt worden, nämlich von Frankreich 2015 in Reaktion auf die Terroranschläge von Paris und mit der Bitte um Unterstützung im Kampf gegen islamistische Terrorgruppen im Irak und in Syrien. Doch auch hier wurde die Unterstützung, etwa von Deutschland und Großbritannien, bilateral und nicht über die EU organisiert. Weder organisatorisch noch von den kollektiven Fähigkeiten her ist die EU auf die kollektive Verteidigung ausgerichtet. Die meisten ihrer Mitglieder, gerade in Mittel- und Osteuropa, lehnen eine stärkere Rolle der EU in der Verteidigungspolitik ab, unter anderem mit der Begründung, dies könne zu Doppelstrukturen mit der Nato und einem Herausdrängen der USA aus Europa führen. Trotz der EU-Beistandsklausel haben sich Finnland und Schweden daher bewusst für einen Beitrittsantrag zur Nato entschieden.

Relevanter bleibt die EU zweitens im Bereich des militärischen und insbesondere des zivilen Krisenmanagements. Seit 2003 hat die Union im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) 37 Missionen und Operationen durchgeführt (derzeit sind elf zivile und sieben militärische Operationen aktiv). In dem im März 2022 bereits unter dem Eindruck des Angriffs auf die Ukraine überarbeiteten "Strategischen Kompass" der EU hat sich die Union zu schnellerer Einsatzfähigkeit für das Krisenmanagement und einem Aufbau stärkerer Kommandostrukturen verpflichtet, einschließlich der Schaffung einer etwa 5000 Einsatzkräfte umfassenden schnellen Eingriffstruppe. Negatives Beispielszenario für die Etablierung dieser Eingriffstruppe war die Evakuierung der Truppen und Teile der Zivilbevölkerung aus Afghanistan im Sommer 2021, bei der die Europäer vollkommen abhängig vom Schutz des Kabuler Flughafens durch die USA waren. Allerdings bleibt auch nach 20 Jahren GSVP-Operationen zu konstatieren, dass der Großteil der Operationen und Missionen kleiner und oft symbolischer Natur war und die EU auch in den bisherigen Schwerpunktregionen der GSVP, dem westlichen Balkan und Zentralafrika, damit nicht zu einem zentralen Akteur geworden ist. Hinzu kommt, dass militärische wie zivile GSVP-Operationen auf die Einsatzkräfte der Mitgliedstaaten angewiesen sind. Trotz der Zuwächse in den nationalen Verteidigungshaushalten steigen aber gleichzeitig die Anforderungen für die kollektive Verteidigung und/oder die für Nato-Planungen eingesetzten Kräfte, sodass größere militärische EU-Operationen noch unwahrscheinlicher geworden sind. Ihre Stärken ausspielen wird die EU in Zukunft daher eher bei zivilem Krisenmanagement sowie in der Kombination mit militärischen Ausbildungsmissionen.

Am ehesten könnte die EU in mittelfristiger Perspektive eine wichtige Rolle bei der Koordinierung des Aufwuchses der nationalen Verteidigungshaushalte spielen beziehungsweise bei der Stimulation von Innovation und industrieller Kooperation, bei gemeinsamen Beschaffungsvorhaben oder der Integration nationaler militärischer Fähigkeiten, die dann sowohl der Nato als auch potenziell der EU oder anderen Krisenmanagementoperationen zur Verfügung stehen könnten. In diesem Bereich könnte die EU, im Kern weiter eine Wirtschaftsgemeinschaft, den größten Mehrwert schaffen. In diesem Sinne hat sie in den vergangenen Jahren institutionelle und finanzielle Voraussetzungen geschaffen, um die militärische Integration zu unterstützen, etwa mit dem EU-Verteidigungsfonds, der sogenannten ständigen strukturierten Zusammenarbeit, der koordinierten Verteidigungsplanung (CARD) und dem Aufbau der "Generaldirektion Verteidigungsindustrie und Weltraum". Die EU-Kommission hat zudem weitere Maßnahmen vorgeschlagen, um die Rüstungskooperation zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu unterstützen, etwa indem Gruppen von mindestens drei Mitgliedstaaten finanzielle Zuschüsse für gemeinsame Forschungs-, Entwicklungs- und/oder Beschaffungsvorhaben erhalten können. Von einem gemeinsamen europäischen Rüstungsmarkt ist die EU trotz dieser Schritte aber noch weit entfernt.

Insgesamt bleibt die Verteidigungspolitik damit auch und gerade im Schatten des russischen Angriffskriegs die Achillesferse der strategischen Souveränität der EU. Obwohl die Union mit den schnell verabschiedeten und intern koordinierten Sanktionspaketen, mit der Koordinierung und Regulierung des europäischen Energiemarktes und der Wahrung des europäischen Zusammenhalts ein wichtiger Sicherheitsakteur geworden ist, bleibt sie in der Verteidigungspolitik ein Nebenakteur.

Ausblick: Europäische Handlungsfähigkeit versus institutionelle Konkurrenz

Das Streben nach europäischer strategischer Souveränität ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Schutz und zur Durchsetzung gemeinsamer europäischer Interessen. Der Aufbau dafür notwendiger Handlungsfähigkeit scheint in einer globalen Weltordnung, die zunehmend wieder von Großmachtkonflikten geprägt ist, umso wichtiger. Einzeln drohen die europäischen Staaten in diesen Großmächtekonflikten zum Spielball statt zum Mitspieler zu werden. Der russische Angriffskrieg ist Ausdruck einer Abkehr von einem regelbasierten multilateralen System. Russland ist überzeugt, mit militärischer Gewalt – verbunden mit energiepolitischen und nuklearen Druckmitteln gegen die Europäer – sein Nachbarland überfallen und sich unterordnen zu können. In dieser nunmehr konfrontativen europäischen Sicherheitsordnung ist eine kluge Refokussierung auf europäische strategische Souveränität notwendiger denn je. Der Krieg ist noch nicht beendet, und Europa muss sich schon jetzt auf einen dauerhaften Konflikt mit Russland (und China) einstellen, der unterhalb der Schwelle eines Krieges, aber in allen Bereichen ausgetragen werden wird: von Cyberangriffen, Energieerpressung bis hin zu staatlich orchestrierten Desinformationskampagnen.

Die Entwicklungen seit der "Zeitenwende" haben gezeigt, wie unterschiedlich der russische Angriffskrieg und auch die damit einhergehende Bedrohung auf verschiedene Aspekte der strategischen Souveränität gewirkt haben. Die hier vor allem thematisierte Verteidigungspolitik stellt dabei weiterhin einen Sonderbereich dar: Auf der einen Seite ist zu beobachten, dass viele europäische Staaten ihre Verteidigungshaushalte zum Teil deutlich erhöht und den seit 2014 begonnenen Trend weg vom Krisenmanagement zurück zur kollektiven Verteidigung verstärkt haben. So betonte zum Beispiel Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Bundeswehrtagung im September 2022, dass der Kernauftrag der Bundeswehr die Landes- und Bündnisverteidigung sei und alle anderen Aufgaben sich diesem Auftrag unterzuordnen hätten. Doch die Veränderungen sind sehr asymmetrisch verteilt, mit den größten Aufwüchsen in Nord-, Ost- und Mitteleuropa (einschließlich Deutschland) und sehr viel weniger Anpassungen in West- und Südeuropa. Gleichzeitig hat der bisherige Kriegsverlauf gezeigt, wie essenziell der militärische Beitrag und die politische Führung der USA für die europäische Sicherheit sind. Die Rolle der Nato als zentrales Verteidigungsformat hat der Krieg bestätigt. Auch die Bedeutung von Großbritannien für die europäische Sicherheit und seine Rolle als Partner der nordischen sowie der mittel- und osteuropäischen Staaten ist noch einmal unterstrichen worden. Demgegenüber hat die EU sich in der Krise mit schnellen Entscheidungen zu Sanktionen, zur EU-Mitgliedschaft für die Ukraine und der Aufrechterhaltung des europäischen Zusammenhalts bewährt, im engeren Verteidigungsbereich aber bestenfalls eine unterstützende Rolle gespielt. Europäische Souveränität im Verteidigungsbereich wird mittelfristig daher nur im euroatlantischen Kontext zu realisieren sein, in enger Abstimmung mit – und nicht in Abgrenzung zu – den USA.

Doch das Weiterbestehen dieser Abhängigkeit von den USA unterstreicht zugleich die Herausforderungen, die mit der Herausbildung einer strategischen Souveränität im Verteidigungsbereich verbunden sind. Die vier Jahre der Trump-Präsidentschaft sollten eine Warnung für die Europäer sein, dass ein dauerhaftes verteidigungspolitisches Engagement der USA weder garantiert ist noch ohne eigene Kosten daherkommt. Die weiter zunehmende innenpolitische Polarisierung in den USA setzen ebenso Fragezeichen hinter das US-Engagement wie die nach wie vor deutliche Priorisierung des geostrategischen Wettbewerbs mit China, der die Aufmerksamkeit Washingtons jederzeit in Richtung Indo-Pazifik verschieben könnte. Trotz oder gerade wegen dieser verteidigungspolitischen Abhängigkeit von den USA sollten die Europäer mehr Anstrengungen unternehmen, die eigene militärische Handlungsfähigkeit zu stärken.

Dabei sollte jegliches Gegeneinanderausspielen von EU und Nato vermieden und vielmehr auf die Stärken des jeweiligen verteidigungspolitischen Rahmens gesetzt werden. Die EU, die ein zentrales Forum für strategische Souveränität in nicht-militärischen Bereichen ist, sollte hier eine primär unterstützende Rolle einnehmen, mit Anreizen für mehr Koordinierung bei den Verteidigungsausgaben, gemeinsamen Entwicklungs- und Beschaffungsvorhaben und finanziellen Anreizen für Innovation und Konsolidierung des rüstungsindustriellen Marktes. Darüber hinaus kann sie mit ihrer Erweiterungspolitik für die Ukraine und die Staaten des westlichen Balkans, ihrer Nachbarschaftspolitik und den Stabilisierungseinsätzen in Afrika ein Stabilitätsanker auch dort sein, wo Russland sein Störpotenzial zunehmend auszuspielen versucht. Auf absehbare Zeit bleibt die Nato der Rahmen, in dem Abschreckung und Verteidigung, konventionell und nuklear, transatlantisch organisiert werden. Aber weder die EU noch die Nato verfügen über eigene Streitkräfte. Es sind die jeweiligen Mitgliedstaaten, die Truppen und Ausrüstung zur Verfügung stellen. Das bedeutet auch, dass eine Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit zuallererst eine nationale Aufgabe ist: Zeitenwende beginnt zu Hause. Von besser ausgerüsteten und einsatzfähigen Streitkräften würden EU und Nato gleichermaßen profitieren. Es ist also an den Staaten, die Stärken der Organisationen zu nutzen anstatt institutionelle Grabenkämpfe zu führen.

ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
E-Mail Link: claudia.major@swp-berlin.org

ist promovierter Politikwissenschaftler und Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
E-Mail Link: nicolai.vonondarza@swp-berlin.org