Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Grenzkontrollen an den Grenzen des Rechts | Festung Europa? | bpb.de

Festung Europa? Editorial Festung Europa? Kleine Entwicklungsgeschichte der europäischen Integration Gefangen in Zielkonflikten. Die Gemeinsame Europäische Asylpolitik Vom restriktiven Asyl- zum kooperativen Aufnahmesystem. Über die grenzenlose Aufnahme ukrainischer Geflüchteter Zwischen Abenteuer, Risiko und Überleben. Westafrikanische Perspektiven auf Migration Grenzkontrollen an den Grenzen des Rechts. Frontex zwischen Rechtsschutz und Rechtsverletzung Ökonomische Resilienz durch mehr Protektionismus? Die Handelspolitik der Europäischen Union Zeitenwende (auch) für die Europäische Souveränität

Grenzkontrollen an den Grenzen des Rechts Frontex zwischen Rechtsschutz und Rechtsverletzung

Constantin Hruschka

/ 15 Minuten zu lesen

Der durch das Schengener Abkommen geschaffene "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" wird unter Mithilfe von Frontex mit zum Teil grundrechtswidrigen Mitteln geschützt. Abhilfe schaffen könnten besseres Monitoring und ein integrierter Grundrechtsschutz.

Grenzbefestigungen, partielle Grenzschließungen und die Diskussion um die Zurückweisung von irregulär einreisenden Personen an den Grenzen gehören spätestens seit dem sogenannten EU-Türkei-Deal zum festen Repertoire europäischer Migrationspolitik. Dabei ist unstreitig, dass an den Außengrenzen des "Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts", der im luxemburgischen Schengen 1985 aus der Taufe gehoben wurde und heute 26 Vollmitglieder umfasst, Personenkontrollen stattfinden sollen und dürfen. Da an den Binnengrenzen dieses Raumes keine Grenzkontrollen stattfinden sollen, stellt sich die Frage des möglichen Beitrags jener Mitgliedstaaten, die keine oder nur kurze Land- und Seeaußengrenzen haben. 2004 wurde deshalb eine Europäische Agentur zur Koordinierung solcher finanzieller oder materieller Beiträge gegründet, die seit 2016 unter dem Namen "Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache" firmiert – kurz: Frontex – und ihren Sitz in Warschau hat.

Pushbacks als Realität an den europäischen Grenzen

Unter den Begriff "Pushbacks" fallen die Verbringung von Personen aus dem Schengenraum oder die Verhinderung der Einreise jeweils ohne Prüfung eines möglichen Schutzbedarfs. Pushbacks schutzsuchender Personen sind generell selbst in Ausnahmesituationen absolut verboten. Sie sind illegal, da der Zugang zu einem Verfahren, in dem ein möglicher Schutzbedarf geprüft wird, gewährleistet sein muss. Die Prüfungsverpflichtung ergibt sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und aus der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die beide ein Verbot der Zurückweisung (sogenanntes Refoulement-Verbot) enthalten, nach dem jedes Refoulement ohne Verfahren rechtswidrig ist – und zwar unabhängig vom Zielstaat der Zurückweisung.

Diese Refoulement-Verbote sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu beachten, sobald ein Staat die effektive Hoheitsgewalt über die jeweiligen Personen ausübt. Der fehlende Zugang zu einem Asylverfahren und eine Ausweisung, Rückschiebung oder Abschiebung ohne ein Verfahren stellt eine Verletzung des prozeduralen Teilgehalts von Artikel 3 EMRK dar und ist absolut verboten. Jegliche Grenzschutzmaßnahmen müssen daher so gestaltet sein, dass ein effektiver Verfahrenszugang möglich ist. So sind etwa aus Seenot gerettete Personen über die Möglichkeiten, ein Asylverfahren einzuleiten, zu informieren, und zu diesem ist effektiver Zugang zu vermitteln. Diese Grundsätze gelten im Transitbereich von Flughäfen sowie an Landgrenzen und in Transitzonen und in sogenannten Grenzverfahren, nicht aber in Botschaften in anderen Ländern. Erfolgt eine Abschiebung ohne Prüfung, ist zusätzlich das Verbot der Kollektivausweisung gemäß Artikel 4 des 4. Zusatzprotokolls der EMRK verletzt. Dies gilt grundsätzlich für alle Ausweisungsmaßnahmen ohne Zugang zu einer Prüfung eines möglichen Schutzbedarfs. Lediglich für erwiesenermaßen nicht schutzbedürftige Personen, die als Teil einer großen Gruppe an einer nicht autorisierten Stelle unter Ausnutzung der Größe der Gruppe und unter Gewaltanwendung ("as part of a large group and at an unauthorised location, taking advantage of the group’s large numbers and using force") die Grenze illegal überschritten haben, soll nach der Rechtsprechung des EGMR keine Verletzung des 4. Zusatzprotokolls der EMRK vorliegen. Macht eine Person aus einer solchen Gruppe einen potenziellen Schutzbedarf geltend, muss dieser allerdings geprüft werden.

Im Lichte dieser eindeutigen Rechtsprechung ist eine Beteiligung von Frontex an jeglichen Maßnahmen, die zu Pushbacks führen, nach europäischem (und internationalem) Recht verboten. Dies gilt auch für Situationen, in denen Schutzsuchende "instrumentalisiert" werden, also Richtung Grenze begleitet oder gezwungen werden, um Druck auf die Länder des Schengenraums auszuüben. Die Grenzschließung Griechenlands im Februar 2020 war daher genauso rechtswidrig wie die Abweisung von Schutzsuchenden im Herbst 2021 durch Polen, Litauen und Lettland. Die einzige Ausnahme von diesem Prinzip sieht der EGMR in einer Situation, in der es Personen, die irregulär einzureisen versuchen, möglich und zumutbar gewesen wäre, vorhandene, zugängliche Grenzübergangsstationen zur Antragstellung zu nutzen. Nach erfolgter Einreise darf eine Ausweisung ohne weitere Prüfung allerdings nicht mehr vorgenommen werden. Die durch die Recherchen verschiedener Medien belegten Zurückweisungen von Personen, die auf den griechischen Inseln gelandet waren und – unter Mithilfe von Frontex – ohne Prüfung des Schutzbedarfs in die Türkei zurückgeschickt wurden, sind daher eindeutig rechtswidrig gewesen und haben zum Rücktritt des Frontex-Exekutivdirektors Fabrice Leggeri im April 2022 zumindest beigetragen.

Europäische Grenz- und Küstenwache

Die Rolle von Frontex hat sich seit der Gründung der Agentur im Jahr 2004 grundlegend gewandelt. Ursprünglich sollte die Agentur vor allem dazu dienen, eine "verstärkte Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten" bei Grenzkontrollen zu ermöglichen und insbesondere die Außengrenzstaaten des Schengenraums bei ihren diesbezüglichen Arbeiten zu unterstützten. Das Mandat von Frontex war auf die "Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Durchführung der operativen Aspekte des Schutzes der Außengrenzen, einschließlich der Rückführung von Drittstaatsangehörigen, die sich illegal in den Mitgliedstaaten aufhalten", ausgerichtet. Das bedeutet, dass Frontex für die Koordinationsaufgaben keine eigenen Mitarbeitenden angestellt hatte, sondern lediglich dabei half, die Unterstützung der Mitgliedstaaten zu koordinieren. Für dieses Koordinationsmandat sowie für Risikoanalysen, Schulungen, die Beobachtung der wissenschaftlichen Forschung und die Führung eines Inventarsystems von zur Verfügung stehenden technischen Ausrüstungsgegenständen standen der Agentur anfangs nur wenige Stellen zur Verfügung. Frontex selbst war eine sehr kleine Agentur der EU, mit einem Budget von sechs Millionen Euro pro Jahr. Neben den eigenen Beamten standen Frontex auch von den Mitgliedstaaten abgestellte nationale Experten zur Verfügung, insbesondere zur Erfüllung von Aufgaben, "die eine verstärkte technische und operative Unterstützung an den Außengrenzen" erforderten. Durch drei Reformen 2011, 2016 und 2019 hat sich die Rolle von Frontex jedoch grundlegend verändert. Die Agentur hat für das Jahr 2022 ein Budget von 754 Millionen Euro, weitere Erhöhungen sind für den Zeitraum bis 2027 bereits geplant. Damit einher gingen ein Ausbau der Kompetenzen und der Arbeitsbereiche sowie eigene operationelle Befugnisse der Agentur.

Menschenrechte vs. effiziente Grenzkontrollen?

Eines der Hauptziele von Frontex besteht darin, dazu beizutragen, irreguläre Grenzübertritte an den Außengrenzen zu verhindern. Gleichzeitig heißt es im Mandat der Agentur, dass sie "unter uneingeschränkter Achtung der Grundrechte und der Wahrung der Freizügigkeit innerhalb der Union" vorzugehen habe. Es besteht also ein offensichtliches Spannungsverhältnis zwischen der Kontrolllogik und dem Ziel der menschenrechtsbasierten Migrationspolitik, die auf Solidarität und Verantwortlichkeit beruht. Dieses Spannungsverhältnis wurde insbesondere bei den Frontex-Einsätzen im Mittelmeer sichtbar. 2008 erklärte der damalige Frontex-Exekutivdirektor Ilkka Laitinen, dass der Frontex-Einsatz in maltesischen Gewässern im Rahmen der "Operation Nautilus" gescheitert sei, weil die Vorgehensweise der Agentur die irreguläre Einreise von auf See geretteten Personen erleichtert habe. Frontex wurde gewissermaßen vom eigenen Exekutivdirektor als Schleuserorganisation dargestellt, die durch ihre Präsenz, insbesondere durch die Einhaltung von Menschenrechtsstandards bei der Seenotrettung, irreguläre Einreisen ermögliche und erleichtere. Später musste Laitinen einräumen, dass Frontex an Pushbacks an den Außengrenzen beteiligt war.

Nicht von ungefähr kommt der Frage der möglichen Beteiligung der Agentur an Menschenrechtsverletzungen in den Diskussionen über die europäische Migrationspolitik daher eine zentrale Bedeutung zu. Der Schwerpunkt des Menschenrechtsdiskurses liegt dabei auf dem Schutz vor Menschenrechtsverletzungen, die von Frontex selbst begangen werden oder von denen die Agentur so früh Kenntnis hatte, dass sie diese hätte verhindern können – oder zumindest im Rahmen ihres Mandats darüber hätte berichten müssen.

In diesem Kontext sollte nicht aus den Augen verloren werden, dass die Agentur neben der Pflicht, Menschenrechtsverletzungen zu unterlassen, auch die Aufgabe hat, die Menschenrechte bei ihren Operationen aktiv zu achten und zu schützen. Angesichts der immer wieder auftauchenden Berichte über die Beteiligung von Frontex an Menschenrechtsverletzungen wird dieser deutlich weiter gefassten positiven Schutzverpflichtung wesentlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Ohne diese Dimension wäre die aktuelle Menschenrechtsdebatte über Frontex aber unvollständig und könnte den falschen Eindruck erwecken, dass Frontex bei der Wahrnehmung der inzwischen stark ausgeweiteten Aufgaben und Zuständigkeiten lediglich die Verpflichtung habe, Grundrechte von migrierenden Personen nicht zu verletzen. Dabei geht es um deutlich mehr, nämlich den aktiven Schutz dieser Rechte.

Verstärkte Institutionalisierung des Grundrechtsschutzes

Tatsächlich ist eine steigende Relevanz und Beachtung der Frage des Grundrechtsschutzes zu beobachten, nicht zuletzt in den rechtlich-institutionellen Verankerungen. Noch 2004 bezog sich die Frontex-Verordnung nur am Rande auf den Grundrechtsschutz. Deren Überarbeitung aus dem Jahr 2011 forderte die "Entwicklung einer vorausschauenden und umfassenden europäischen Migrationspolitik, die auf Menschenrechten, Solidarität und Verantwortlichkeit beruht" und verwies mehr als 30 Mal auf die Grundrechte. Im Wesentlichen wurde mit dieser Überarbeitung die Verpflichtung von Frontex eingeführt, eine Grundrechtsstrategie und einen Verhaltenskodex zu entwickeln sowie einen Grundrechtsbeauftragten und ein entsprechendes Konsultationsforum einzusetzen. Darüber hinaus sah die Überarbeitung des Mandats eine Möglichkeit zur Zusammenarbeit mit der Agentur für Grundrechte der Europäischen Union (FRA) vor und hielt fest, dass sich der erste Evaluierungsbericht über die neue Verordnung "auch mit der Frage [befassen soll], inwieweit die Grundrechte-Charta bei der Anwendung dieser Verordnung beachtet wurde". In der Folgeverordnung von 2016 wird der Begriff "Grundrechte" mehr als 100 Mal verwendet, in der aktuell geltenden Verordnung von 2019 taucht der Begriff mehr als 230 Mal auf. Diese Entwicklung zeigt, dass dem Grundrechtsschutz in den jeweiligen Verordnungen, die die Arbeitsgrundlage für Frontex darstellen, im Laufe der Zeit steigende Aufmerksamkeit zuteil wurde – eine Tatsache, die zugleich darauf hindeutet, dass dieser Schutz eine große Herausforderung in der Arbeit von Frontex darstellt.

Die Bedeutung und Relevanz der Institutionalisierung des Menschenrechtsschutzes im Mandat von Frontex hat der EuGH in einem Urteil im September 2012 besonders hervorgehoben: Der Gerichtshof erklärte die Einführung zusätzlicher Vorschriften für die Kontrollen und Überwachungsmaßnahmen an den Seeaußengrenzen durch einfachen Beschluss für nichtig, da die Änderungen nicht im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren vorgenommen wurden. In diesem Kontext wies der EuGH darauf hin, "dass Vorschriften über die Verleihung von Befugnissen der öffentlichen Gewalt an Grenzschutzbeamte (…) Eingriffe in die Grundrechte der betroffenen Personen in einem Umfang erlauben, der das Tätigwerden des Unionsgesetzgebers erforderlich macht".

Defizite beim Menschenrechtsschutz

Die Jahresberichte des Grundrechtsbeauftragten und des sogenannten Konsultativforums, das Frontex zur Seite gestellt wurde, deuten nach wie vor darauf hin, dass die Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte, einschließlich des 2016 neu eingeführten Beschwerdemechanismus und der Aufnahme einer Grundrechtskomponente in die Schulungsmodule, nicht wirksam genug waren, um die umfassende Achtung der Grundrechte bei allen Frontex-Einsätzen zu gewährleisten. Weniger Bedenken als hinsichtlich der Maßnahmen an den Außengrenzen haben beide Institutionen allerdings bei Abschiebungen, was vermutlich mit dem bestehenden "Forced Return Monitoring System" zu tun hat sowie mit dem spezifischen Verhaltenskodex für Rückführungsoperationen und der Tatsache, dass Abschiebungen in Zusammenarbeit mit anderen Akteuren durchgeführt werden.

Angesichts der fortbestehenden Defizite beim Schutz der Menschenrechte sah der europäische Gesetzgeber die Notwendigkeit, die zugrundeliegenden rechtlichen Verpflichtungen in der Verordnung von 2019 noch stärker zu betonen. Doch auch wenn die Notwendigkeit des Menschenrechtsschutzes weithin anerkannt wird, gibt es nach wie vor eine offensichtliche Umsetzungslücke, zudem mangelt es den verfügbaren Rechtsbehelfen oft an Wirksamkeit und Effizienz. Der Beschwerdemechanismus ist institutionell schwach ausgestaltet, wird nur selten genutzt und stellt auch keinen unabhängigen und wirksamen Rechtsbehelf dar, da er institutionell in die Arbeit von Frontex eingegliedert ist. Darüber hinaus ist es aufgrund der ungeklärten Frage der Zuständigkeit und der effektiven Kontrolle für betroffene Personen schwierig zu beurteilen, gegen wen und vor welchem Forum sie im Zusammenhang mit den von Frontex und den Mitgliedstaaten durchgeführten Maßnahmen Rechtsmittel einlegen können. Die Frage der Verantwortlichkeit und des Rechtsschutzes könnte noch komplizierter werden, wenn Frontex wie vorgesehen die Zusammenarbeit mit Drittstaaten ausweitet. Um wirksamen Rechtsschutz zu ermöglichen, wäre es notwendig, umfassenden Rechtsschutz bei allen Operationen zu ermöglichen, an denen Frontex beteiligt ist. Da an solchen Operationen immer auch Mitgliedstaaten beteiligt sind, sollten betroffene Personen die Wahl haben, ob sie gegen Frontex oder den jeweiligen Mitgliedstaat vorgehen wollen.

Rückführungen und Grenzkontrollen

Grundrechtsschutz ist vor allem in Hinblick auf Rückführungen und Grenzkontrollen von großer Bedeutung. Bei Rückführungen sind zwei Ebenen zu beachten: der individuelle Schutz und die unabhängige Überwachung. Was die erste – individuelle – Ebene betrifft, so gelten sowohl der Schutz vor Zurückweisung (Artikel 19 EU-Grundrechtecharta – GRC) als auch der Schutz der Menschenwürde (Artikel 1 GRC) absolut und sind damit zentral für den Grundrechtsschutz. Artikel 5 der Richtlinie 2008/115/EG (sogenannte Rückführungsrichtlinie) nennt darüber hinaus das Kindeswohl, den Schutz der Familieneinheit sowie besondere Schutzbedürfnisse aufgrund von Krankheit als weitere zu beachtende Fragen beim Umgang mit illegal aufhältigen Personen. Das Rückkehrmonitoring spielt in den Verordnungen von 2016 und 2019 eine wichtige Rolle. Allerdings ist die Unabhängigkeit dieses Monitoring nicht gewährleistet, da es vollständig in den Rechtsrahmen von Frontex integriert ist und die Agentur selbst einen Pool von Beobachtenden für zwangsweise Rückführungen eingerichtet hat. Ein solches Monitoring, das gemäß Artikel 8 Absatz 6 der Rückführungsrichtlinie verpflichtend durchzuführen ist, sollte unabhängig von den an der Grenze handelnden Agenturen sein. Dies könnte etwa durch eine Verankerung bei der FRA erreicht werden.

Grenzkontrollen müssen natürlich ebenfalls den Grundrechtsstandards entsprechen. Dazu gehören neben der Beachtung des Verbots von Pushbacks etwa die Verbreitung von Informationen über Schutzverfahren und die mögliche sofortige Rückführung, wenn kein Antrag gestellt wird. Außerdem muss jede Überwachung der Seegrenzen unweigerlich mit effektiven Such- und Rettungsmaßnahmen verbunden sein. In diesem Zusammenhang gewinnt das Integrierte Grenzmanagement (IBM), das Frontex propagiert und umzusetzen versucht, zunehmend an Bedeutung – insbesondere im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit und die Arbeit in Drittländern. Aus menschenrechtlicher Perspektive fehlt es der extraterritorialen Dimension des IBM an klaren und praktikablen Grundrechtsschutzstandards. Da Operationen in oder mit Drittländern häufig mit der Bekämpfung grenzüberschreitender Straftaten verbunden sind (Schleusung und Menschenhandel stehen hier im Vordergrund), sind Informationen meist nur unzureichend verfügbar. Der EuGH hat eine relativ niedrige Schwelle angesetzt für Mitgliedstaaten, die den Zugang zu solchen Informationen aus Sicherheitsgründen verweigern wollen, was die Bewertung solcher Operationen aus grundrechtlicher Sicht noch komplizierter macht.

Um nicht nur integriertes Grenzmanagement zu fördern, sondern auch integrierten Grundrechtsschutz zu leben, wäre es notwendig, die Achtung und den Schutz der Grundrechte umfassend in die Arbeit von Frontex einzubeziehen: im Zusammenhang mit dem Risikomanagement, dem Migrationsmanagement im Allgemeinen, allen Schulungsaktivitäten (nicht nur denen in Fachkursen) und dem Datenaustausch.

Zukunftsaufgabe "Operationalisierung des Grundrechtsschutzes"

Um die Achtung und den Schutz der Grundrechte umfassend zu integrieren und zu operationalisieren, hat das Konsultativforum einige institutionelle Überlegungen vorgelegt: Auf EU-Ebene schlägt es vor, die Einbindung der internen Einrichtungen zum Schutz der Menschenrechte (wie des Grundrechtsbeauftragten und des Konsultativforums selbst) zu verstärken und die EU-interne Zusammenarbeit zu intensivieren, was wiederum eine wichtige Rolle für die FRA als zuständige EU-Agentur in diesem Bereich beinhalten würde. Auf internationaler Ebene wird die verstärkte Zusammenarbeit mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dem UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) als zusätzliches Sicherheits- und potenzielles Kontrollnetz im Hinblick auf die Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards angeregt.

Eine solche Zusammenarbeit sollte durch Kooperationsvereinbarungen mit den externen Institutionen formalisiert werden, insbesondere im Hinblick auf die neuen operationellen Befugnisse der Agentur. Aus der Perspektive des Menschenrechtsschutzes muss die Zusammenarbeit mit Drittländern von einem Monitoringmechanismus begleitet werden und effektiver Rechtsschutz gewährleistet sein. Zudem sollte für jede dieser Maßnahmen sowie für Rückführungsmaßnahmen und physische Grenzkontrollen eine Folgenabschätzung für die Grundrechte obligatorisch sein. Die Formalisierung dieser Kooperationsprogramme erfordert jedoch einige tiefgreifende Änderungen der Arbeitsweise von Frontex im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Monitoring-Akteure, den Zugang zu operativen Daten sowie die Transparenz der Operationen und der Organisation im Allgemeinen. Gegenwärtig ist hinsichtlich der meisten Frontex-Aktivitäten kein effektiver Rechtsschutz gewährleistet, und es fehlt in der Praxis oft die Grundrechtssensibilität.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gewicht der Menschenrechte bei Frontex-Einsätzen formal deutlich gestärkt wurde, wodurch aber bisher keine durchschlagenden Erfolge in der Praxis erzielt worden sind. Während die Frontex-Verordnung von 2019 den Schutz der Menschenrechte auf regulatorischer Ebene verstärkt, bleibt der derzeitige operative Rahmen unvollständig, insbesondere wegen der schwachen oder fehlenden Rechtsschutzmechanismen. Es ist schwer abzusehen, ob die Zunahme der Menschenrechtsverpflichtungen für Frontex mit der immer stärkeren institutionellen Unabhängigkeit der Agentur Schritt halten wird. Derzeit scheint es dem Schutz der Grundrechte an den notwendigen Mechanismen, vor allem hinsichtlich des Monitorings, zu fehlen. Monitoring als eine Schlüsselkomponente für die Einhaltung und Umsetzung des Menschenrechtsschutzes müsste mit einem wirksamen und effizienten Beschwerdemechanismus gekoppelt sein, was derzeit nicht der Fall ist. Menschenrechtsstandards sowie ethische Standards für Frontex-Operationen sind (teilweise) unklar, und es fehlt an durchsetzbarem Rechtsschutz – nicht zuletzt, weil der Beschwerdemechanismus der Frontex-Verordnung, der für einen verbesserten Schutz der Grundrechte sorgen sollte, schwer zugänglich und institutionell nicht unabhängig ist.

Darüber hinaus, und das ist noch wichtiger, muss eine Kultur der Menschenrechte umfassend etabliert werden. Dabei kann die Stärkung des Beschwerdemechanismus zur Förderung der Menschenrechte als Krücke für den notleidenden Schutz der Grundrechte insgesamt dienen. Diese Maßnahme wird aber nie mehr als ein leeres Versprechen sein, wenn dieser Schutz nicht umfassend in der Arbeitskultur der Agentur verankert ist. Obwohl strukturelle Veränderungen für den (zukünftigen) Schutz der Grundrechte entscheidend sind, wird nur ein Mentalitätswandel innerhalb von Frontex den entscheidenden Unterschied ausmachen können. Insofern ist es zu begrüßen, dass der Exekutivdirektor von Frontex, Fabrice Leggeri, im April 2022 nach Belegen für die institutionelle Beteiligung von Frontex an Pushbacks zurücktreten musste, nachdem ihm schon einige Zeit vorher die zuständige EU-Kommissarin, Ylva Johannson, die Unterstützung aufgekündigt hatte. Der Prozess bis zur Ablösung von Fabrice Leggeri mag vielen – auch dem Autor selbst – lang und quälend vorgekommen sein, am Ende ist er aber ein Zeichen dafür, dass jedenfalls Pushbacks und damit ein klarer Bruch europäischen Rechts nicht länger (stillschweigend) als Mittel einer europäisch koordinierten Grenzkontrollpolitik zur Abwehr von irregulärer Zuwanderung akzeptiert wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Erklärung EU-Türkei, 18.3.2016.

  2. Verordnung (EG) Nr. 539/2001.

  3. Vgl. Art. 7ff. der Verordnung (EU) 2016/399 (sog. Schengener Grenzkodex – SGK).

  4. Vgl. Art. 22 SGK.

  5. Die aktuelle Rechtsgrundlage für die Arbeit der Agentur ist die Verordnung (EU) Nr. 2019/1896. Der Name "Frontex" leitet sich vom (ursprünglichen) Zweck der Agentur, namentlich der Zusammenarbeit und Unterstützung der Mitgliedstaaten bei Kontrollen an den "frontières extérieures" (frz. für Außengrenzen) des Schengenraums ab. Er wird von der Agentur selbst benutzt und kann daher als mindestens halboffizieller Name gelten.

  6. Vgl. EGMR, 13.2.2020, 8675/15 und 8697/15, Rn. 179.

  7. Vgl. Art. 3 und 13 EMRK sowie Art. 33 Abs. 1 GFK. Zur Wirkung der Refoulement-Verbote siehe etwa Nula Frei/Kevin Fredy Hinterberger/Constantin Hruschka, in: Constantin Hruschka (Hrsg.), GFK Kommentar, Baden-Baden u.a. 2022, Art. 33 GFK, Rn. 3ff.

  8. Vgl. EGMR, 23.2.2014, 27765/09.

  9. Vgl. EGMR, 21.1.2011, 30696/09.

  10. Vgl. EGMR (Anm. 8).

  11. Vgl. etwa EGMR, 26.4.2007, 25389/05.

  12. Vgl. EuGH, 30.6.2022, C-72/22 PPU.

  13. Vgl. EGMR, 21.11.2019, 47287/15.

  14. Vgl. EGMR, 5.5.2020, 3599/18.

  15. EGMR, 23.2.2014, 27765/09 und EGMR, 21.10.2014, 16643/09.

  16. EGMR, 13.2.2020, 8675/15 und 8697/15, Rn. 193ff.

  17. Ebd., Rn. 201.

  18. Ebd., Rn. 179 und 232.

  19. Schon die Tatsache, dass die EU-Kommission im Dezember 2021 vorgeschlagen hat, einen neuen Rechtsrahmen für solche Situationen zu schaffen, zeigt, dass solche Zurückweisungen rechtswidrig sind. Vgl. dazu die Vorschläge zur sogenannten Instrumentalisierungsverordnung COM(2021) 890 final und zu Änderungen des Schengener Grenzkodexes COM(2021) 891 final.

  20. Diese in mehreren Entscheidungen, die die Außengrenze des Schengenraums betrafen, formulierte Konstruktion des EGMR wird von Staaten nunmehr dazu benutzt, Direktabweisungen an der Grenze zu rechtfertigen. Bisher lehnt der EuGH richtigerweise eine solche Verpflichtung zur vorrangigen Stellung eines Schutzersuchens an einer Grenzübergangsstelle ab, vgl. etwa EuGH, 30.6.2022, C-72/22 PPU.

  21. Vgl. etwa EuGH, 29.7.2019, C-556/17.

  22. Vgl. Giorgos Christides/Steffen Lüdke, Frontex in illegale Pushbacks von Hunderten Flüchtlingen involviert, 27.4.2022, Externer Link: http://www.spiegel.de/a-086f0e5a-0172-4007-b59c-7bced325cc75.

  23. Vgl. etwa Frontex-Chef Leggeri zurückgetreten, 29.4.2022, Externer Link: http://www.tagesschau.de/ausland/europa/frontex-leggeri-ruecktritt-103.html.

  24. Verordnung (EG) Nr. 2007/2004.

  25. Siehe dazu den Beitrag von Petra Bendel in diesem Heft.

  26. Vgl. Erwägungsgrund 5 der VO (EG) Nr. 2007/2004.

  27. Vgl. Art. 8 und Erwägungsgrund 10 der VO (EG) Nr. 2007/2004.

  28. Erwägungsgrund 1 der Verordnung (EU) 2019/1896.

  29. So die Formulierung in Erwägungsgrund 1 der VO (EU) Nr. 1168/2011.

  30. Vgl. Ivan Camilleri, Frontex Chief Admits Failure, 21.9.2008, Externer Link: https://timesofmalta.com/articles/view/frontex-chief-admits-failure.225630.

  31. Vgl. etwa Matthias Lehnert, Frontex und operative Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen, Baden-Baden 2014; Melanie Fink, Frontex and Human Rights: Responsibility in "Multi-Actor Situations" Under the ECHR and EU Public Liability Law, Oxford 2019.

  32. Verordnung (EG) Nr. 2007/2004.

  33. Verordnung (EU) Nr. 1168/2011.

  34. Vgl. insbesondere Art. 2a und 26a der VO (EU) Nr. 1168/2011.

  35. Vgl. Art. 33 Abs. 2b der VO (EU) Nr. 1168/2011.

  36. Verordnung (EU) Nr. 2016/1624.

  37. Verordnung (EU) Nr. 2019/1896.

  38. Vgl. den Beschluss 2010/252/EU, der als zusätzliche Durchführungsmaßnahme gemäß Art. 12 Abs. 5 des Schengener Grenzkodex von 2006 erlassen wurde.

  39. Vgl. EuGH, 5.9.2021, C-355/10, Rn. 77.

  40. Vgl. Fundamental Rights Officer, Annual Report 2021, Warschau 2022, S. 8ff.

  41. Vgl. Consultative Forum, Annual Report 2020, Warschau 2021, S. 26ff.

  42. Art. 111 der Verordnung (EU) 2019/1896.

  43. Vgl. etwa Catharina Ziebritzki, Refugee Camps at EU External Borders, the Question of the Union’s Responsibility, and the Potential of EU Public Liability Law, 5.2.2020, Externer Link: https://verfassungsblog.de/refugee-camps.

  44. Vgl. dazu etwa die Broschüre der Agentur selbst: Frontex, Beyond EU Borders, Warschau 2021. Kritisch zu diesem Engagement etwa Violeta Moreno-Lax, Accessing Asylum Europe: Extraterritorial Border Controls and Refugee Rights Under EU Law, Oxford 2017.

  45. Vgl. Lehnert (Anm. 31).

  46. Vgl. Art. 51 der Verordnung (EU) 2019/1896.

  47. Vgl. dazu grundlegend EGMR (Anm. 8).

  48. Vgl. in diesem Kontext die Vorschläge aus dem Asyl- und Migrationspaket vom September 2020, die diese Verpflichtung europaweit für Mitgliedstaaten und Frontex klarer festschreiben sollen, COM(2020) 610 final.

  49. Vgl. etwa Florin Coman-Kund, The Territorial Expansion of Frontex Operations to Third Countries: On the Recently Concluded Status Agreements in the Western Balkans and Beyond…, 6.2.2020, Externer Link: https://verfassungsblog.de/the-territorial-expansion.

  50. Vgl. EuGH, 27.11.2019, T-31/18.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Constantin Hruschka für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist promovierter Historiker sowie Rechtswissenschaftler und Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München.
E-Mail Link: hruschka@mpisoc.mpg.de