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Zwischen Abenteuer, Risiko und Überleben | Festung Europa? | bpb.de

Festung Europa? Editorial Festung Europa? Kleine Entwicklungsgeschichte der europäischen Integration Gefangen in Zielkonflikten. Die Gemeinsame Europäische Asylpolitik Vom restriktiven Asyl- zum kooperativen Aufnahmesystem. Über die grenzenlose Aufnahme ukrainischer Geflüchteter Zwischen Abenteuer, Risiko und Überleben. Westafrikanische Perspektiven auf Migration Grenzkontrollen an den Grenzen des Rechts. Frontex zwischen Rechtsschutz und Rechtsverletzung Ökonomische Resilienz durch mehr Protektionismus? Die Handelspolitik der Europäischen Union Zeitenwende (auch) für die Europäische Souveränität

Zwischen Abenteuer, Risiko und Überleben Westafrikanische Perspektiven auf Migration

Laura Lambert

/ 15 Minuten zu lesen

Die Perzeption afrikanischer Migration nach Europa ist von vielen Mythen geprägt. Ursächlich für diese Migration ist ein komplexes Zusammenspiel von gesellschaftlichen Normen, restriktiven Migrationspolitiken, kolonialem Erbe und innerstaatlichen Konflikten.

"Ich sitze hier fest." Mit diesen Worten beschrieben mir Ruth und Ali unabhängig voneinander ihre vertrackte Lage in der westafrikanischen Transitstadt Agadez, am Rande der Sahara. Dabei konnten ihre Migrationsgeschichten kaum unterschiedlicher sein. Ruth wusste nicht, wie weiter oder wohin überhaupt. Sie war vor Kurzem mit Hunderten anderen gewaltsam aus Algerien abgeschoben worden. Diese Abschiebung war Teil einer 15 Jahre währenden Odyssee durch West- und Nordafrika, auf der Suche nach einem stabilen, sicheren Leben. Begonnen hatte sie als Flucht vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat Liberia. Nun waren Ruths Flüchtlingspapiere längst ungültig. Wie für Zehntausende andere war eine Rückkehr nach Liberia ausgeschlossen, ihre Familie war im Krieg ermordet worden.

Ali dagegen war erst kürzlich aufgebrochen. Er war auf dem Weg nach Nordafrika und, wenn Gott es erlaubte, weiter nach Europa. In jedem Fall träumte er von einer guten Arbeit, um seine Familie in Gambia zu unterstützen. Mit inzwischen leeren Taschen versuchte Ali nun, einen kleinen Straßenstand für senegambische Speisen aufzubauen, denn schließlich gab es auch hier in der Wüste Feinschmecker mit dem nötigen Kleingeld.

Ruth und Ali hatten beide den Eindruck, in Agadez festzusitzen, weder vor noch zurück zu können. Das hatte nicht zuletzt mit den mit europäischer Unterstützung etablierten Migrationskontrollen zu tun, die ihren Transport und ihre Beherbergung kriminalisierten und damit gefährlicher und teurer machten. Studien zeigen, dass afrikanische Migrant*innen die Risiken ihrer Reise meist bewusst in Kauf nehmen und sich von Abschreckungen dieser Art kaum aufhalten lassen. Doch warum gehen Migrant*innen diese Risiken überhaupt ein?

Auch wenn Armut, innerstaatliche Konflikte und Unterentwicklung oft als vorrangige Migrationsgründe genannt werden, verstecken sich dahinter oft komplexere Motivationen, die ökonomische Push- und Pull-Modelle kaum richtig erfassen und abbilden können. Diese behaupten, dass Armut, Krieg oder Verfolgung Menschen "wegdrücken" und Anreize anderswo sie "anziehen". Sie blenden dabei weitgehend aus, dass Menschen sich aktiv dafür entscheiden, zu gehen oder auch zu bleiben. Beispielsweise bewerten westafrikanische Frauen heutzutage die Migrationspläne ihrer Männer als nachteilig für das Familienleben. Solche veränderlichen Aspirationen und Normen sind bedeutsam für die Pläne, die Menschen vor dem Hintergrund ihrer Möglichkeiten machen.

Die Ursachen für Migration und Flucht sind komplex. Sie sind ein Zusammenspiel von gesellschaftlichen Normen, restriktiven Migrationspolitiken, dem kolonialen Erbe und innerstaatlichen Konflikten. Die vorhandenen europäischen Mythen und perzipierten Bedrohungsszenarien angesichts afrikanischer Migration werden dieser Komplexität nicht gerecht.

Migration als Normalität

Im Zentrum der ghanaischen Hauptstadt Accra lud mich Ibrahim, ein Mann Mitte 20 aus dem Niger, zum Fastenbrechen ein. Zusammen mit seinen Freunden aus der nigrischen Diaspora tauschten wir uns auf dem Boden von Ibrahims kleinem Zimmer bei Säften, Datteln und Moringa in Erdnusspaste über das Leben in Ghana aus. Accra war für sie die Stadt der tausend Möglichkeiten. Jede*r war hier Geschäftsmann oder -frau, und jenen, die sich auf die Logik der Gewinnmaximierung und das Tempo einließen, war der Erfolg sicher. Gleichzeitig sprachen sie nostalgisch von ihren nigrischen Dörfern mit den konischen Kornspeichern und Lehmhäusern, in denen ihre Familien auf die nahende Regenzeit warteten, um mit dem Hirseanbau zu beginnen. Das prosperierende Accra und ihre einfachen Dörfer in der Trockensavanne konnten kaum unterschiedlicher sein, und doch verband beide Orte ein starkes Band: Migrant*innen wie Ibrahim, die zwischen ihnen zirkulierten, und die Güter, Ideen und Normen, die diese mit sich trugen.

Ihre Migrationserfahrung spiegelt die gesellschaftliche Praxis der zirkulären Migration, wie sie in Westafrika gesellschaftliche Norm und Lebensstrategie ist. Insgesamt verbleiben die meisten westafrikanischen Migrant*innen in der Region, rund 63 Prozent von ihnen im Jahr 2020. Wie Ibrahim ziehen Menschen aus dem Inneren des Subkontinents in die reicheren Küstenländer, um dort für die Dauer der Trockenzeit oder auch mehrere Jahre im Handel, der Landwirtschaft, der Gastronomie, dem Baugewerbe oder dem Bergbau zu arbeiten. Inzwischen sind ähnlich viele Frauen wie Männer in Westafrika unterwegs. Hinzu kommt der sogenannte Pastoralismus, bei dem (semi)nomadische Hirten mit ihrem Vieh über weite Strecken und Landesgrenzen hinweg zu Weidegründen und Wasserstellen ziehen. Entgegen europäischer Mythen ist westafrikanische Migration hochgradig regional.

Die innerafrikanische Migration wird durch regionale Freizügigkeitsregime erleichtert. Ähnlich wie im Schengenraum können Staatsbürger*innen in die 15 Mitgliedstaaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft visafrei einreisen, sich niederlassen und arbeiten. In der Praxis allerdings erschweren Polizeikontrollen, Schutzgelderpressung und kostspielige Dokumente die legale Mobilität.

Ökonomische Strategie und Selbstverwirklichung

Ibrahims Geldüberweisungen trugen zur Versorgung seiner Verwandten bei. In der Summe machen diese Geldsendungen durch Migrant*innen in Westafrika im Durchschnitt beachtliche 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. 2021 wurden weltweit rund 49 Milliarden US-Dollar an Geldüberweisungen in die Länder südlich der Sahara verzeichnet und damit fast annähernd so viel wie die offizielle Entwicklungshilfe und ausländische Direktinvestitionen. Auch wenn ihr Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung umstritten ist, sind Migrant*innen eine zentrale ökonomische Stütze für ihre Familien. Entsprechend lastet oft ein großer sozialer Druck auf ihnen. Familien investieren in ihre Kinder und machen das familiäre Wohl von ihnen abhängig. Die gesellschaftliche Scham, mit leeren Händen zurückzukommen, ist groß und hält Migrant*innen teilweise von einer Rückkehr ab.

Doch davon war Ibrahim weit entfernt. In seinem Zimmer stapelten sich neben einer Matratze und einem Flachbildfernseher zahlreiche Kartons mit Elektrogeräten. Sie waren Vorboten seiner nahenden Rückkehr in den Niger. Er hatte dort vor Kurzem geheiratet, und seine Arbeit auf Accras Elektromarkt ermöglichte es ihm, die materiellen Grundlagen für einen Mittelklasse-Haushalt zu schaffen. Dieser lag für den Großteil seiner Dorfnachbar*innen in weiter Ferne, auch wenn viele ebenfalls für die neun Monate dauernde Trockenzeit nach Accra, Abidjan oder in andere ökonomische Zentren am Golf von Guinea migrierten. Ihre Verdienste deckten jedoch oft nur die nötigsten Ausgaben für Nahrung, Gesundheit und Bildung ab. Ibrahim dagegen konnte einen zumindest temporären Klassenaufstieg finanzieren. Als Gewinner der Migrationsökonomie strahlte er vor Stolz.

Im Gegensatz zu Ibrahim waren nicht alle seiner Freunde von einer Rückkehr in den Niger überzeugt. Auch wenn sie Ausgrenzungserfahrungen machten, konnten sie sich in Accra persönlich entfalten und finanziell unabhängig sein. Der "Abenteurer", ein geläufiger Terminus für Migranten in Westafrika, drückt ein Verlangen aus, neue Lebensweisen auszuprobieren. Eng damit verbunden sind spezifische Männlichkeitsvorstellungen, denn erst die ökonomische Unabhängigkeit ermöglicht es Jugendlichen, "zum Mann zu werden" und einen eigenen Haushalt zu gründen. Angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit scheitern viele an dieser Hürde, ein Umstand, der zu Frustration und Depression führt. Accra machte diesen Schritt für Ibrahims Freunde leichter. "Heiraten kann ich auch in Ghana", versicherte mir einer von ihnen. Und sie waren stolz darauf, sich an einem neuen Ort orientiert, Netzwerke aufgebaut und auf dem Arbeitsmarkt ihre Vielseitigkeit unter Beweis gestellt zu haben. Statt nur von Leid und ökonomischem Kalkül geprägt, schafft Migration den Raum für Ambitionen und alternative Zukünfte, auch wenn diese mit Risiken verbunden sind.

(Post)Koloniale Zirkulation

Viele der heutigen zirkulären Migrationsmuster sind durch den Kolonialismus geprägt worden. Durch ihn wurde das zuvor prosperierende und dominierende Landesinnere wirtschaftlich abgehängt, während im regenreichen Süden die Regenwälder abgeholzt und durch Plantagen für Kakao, Baumwolle und andere Agrarerzeugnisse für den Weltmarkt ersetzt wurden. Für ihre Bewirtschaftung wurden Arbeiter*innen aus dem Norden zwangsrekrutiert. Die heutige zirkuläre Migration richtet sich größtenteils weiter an diesen kolonial geschaffenen Entwicklungsunterschieden zwischen dem Sahel und dem Küstenstreifen Westafrikas aus.

Ähnliches lässt sich am Beispiel des Altkleiderhandels zeigen. Allein auf Accras Altkleidermarkt Kalamanto, dem größten in Westafrika, arbeiten 10000 Menschen, vor allem aus Ghana und Nigeria. Ihre Handelsnetze spannen sich weltweit und sind eng an Mobilitätspraktiken gekoppelt: In Europa, China, Südkorea und Kanada beschaffen westafrikanische Einkäufer*innen die Ware. In Ghana werden die Altkleider containerweise von den Schiffen entladen, vom Staat mit Einfuhrzöllen belegt und von einer kleinen Elite an Großhändler*innen weiterverkauft. Zirkuläre Migrationspraktiken betten sich in dieses globale Geschäft mit den Altkleidern aus den Wohlstandsgesellschaften ein. Bis weit hinein in das Innere des Kontinents verkaufen unzählige Kleinhändler*innen, darunter viele Frauen, die Ware. Stundenlang laufen sie mit einem Berg von Kleidern auf ihren Schultern durch die Hitze, um sie potenziellen Kund*innen feilzubieten. Dass überhaupt ein solcher Bedarf an Altkleidung besteht, liegt auch an der Zerschlagung der afrikanischen Textilproduktion zur Zeit des Kolonialismus und ihrem weiteren Niedergang durch den medial und kulturell dominanten westlichen Kleidungsstil. Um seine eigene Textilindustrie zu fördern, hat Nigeria inzwischen den Altkleiderimport verboten. Doch der Handel scheint nahezu unverändert weiterzulaufen.

Traum von Europa?

Die Einkäufer*innen von Altkleidern in Europa oder China sind nur ein Beispiel für die globalen Mobilitätspraktiken aus Westafrika. In den vergangenen Jahren haben sich die Migrationsziele entsprechend der Möglichkeiten und Hindernisse für Westafrikaner*innen vervielfacht. Seit dem Ölboom ist beispielsweise Nordafrika zu einem bedeutenden Ziel geworden. Inzwischen zieht es auch viele Studierende nach China und Arbeitsmigrant*innen in die Golfstaaten. Aus westafrikanischer Perspektive ist die Welt deutlich multipolarer und mobiler als dies durch Eurozentrismus und die Norm der Sesshaftigkeit geprägte Vorstellungen zulassen.

Tatsächlich kommt nur eine Minderheit migrierender Afrikaner*innen nach Europa. Dort lebten 2020 nur 5 von weltweit 28 Millionen subsaharischen Migrant*innen. Ihre Anzahl blieb deutlich hinter europäischen Binnenmigrant*innen und asiatischen Migrant*innen zurück. Der Großteil subsaharischer Migrant*innen (71 Prozent) lebt in den ärmsten und weniger entwickelten Ländern. Oft fehlen schlicht die Ressourcen für die kostspielige Reise nach Europa. Für sie müssen im Schnitt über 2600 Euro aufgebracht werden – Geld, das viele nicht haben. Häufig übersehen wird zudem, dass die Hälfte der Afrikaner*innen südlich der Sahara nicht einmal dann migrieren wollte, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte. Dies widerspricht dem geläufigen Vorurteil, dass unzählige Afrikaner*innen nur auf eine Möglichkeit zum Absprung nach Europa warteten. Die Migration nach Europa ist weder in der Praxis noch in der Vorstellung die dominante Option.

Trotzdem ist Europa in der Vorstellungswelt vieler Westafrikaner*innen omnipräsent. Viele träumen von einem guten Leben, das an ihrem Wohnort in weiter Ferne liegt. 2022 hungern in Westafrika 27 von 423 Millionen Menschen. Die Lebenserwartung liegt ein Drittel unter der Europas. Jedes neunte Kind stirbt, bevor es fünf Jahre alt ist. Viel zu oft müssen die Menschen den Tod von Verwandten, Freund*innen oder Kolleg*innen verarbeiten. Und viel zu oft hätte er mit medizinischer Grundversorgung, besseren Straßen oder basalem Arbeitsschutz verhindert werden können.

Eine Möglichkeit, diesen oft tödlichen Verhältnissen zu entkommen, ist die Migration nach Europa – und dies gilt auch für die in Afrika bleibende Familie. Wie eine Studie zu rund 2000 irregulär nach Europa eingereisten Migrant*innen aus Afrika belegt (ausgenommen waren hier solche mit Fluchthintergrund), waren ihre Hauptmotive für die Migration ökonomischer Natur, eng verbunden mit dem Wunsch nach Selbstverwirklichung und dem Eindruck, diese nur außerhalb von Afrika erreichen zu können. Gleichzeitig verstecken sich hinter diesem Wunsch nach finanzieller Absicherung auch jene oben genannten Faktoren wie Gesundheitsversorgung und Ernährungssicherheit. Der Traum von Europa ist vor allem ein Traum von einem würdevollen, sicheren Leben.

Die Migration nach Europa hat wie die zirkuläre Migration in Westafrika immense ökonomische Bedeutung für die Familien, doch ihr wirtschaftlicher Wert ist ungleich höher. Von den in Europa durchschnittlich im Monat verdienten 1000 Euro schickten 78 Prozent der Beschäftigten rund 280 Euro nach Hause. Berechnungen zufolge würden die Migrant*innen, obwohl die Arbeiten in Europa oft unter ihrem Bildungsniveau und dem Mindestlohn lagen, für eine vergleichbare ökonomische Position in ihrem Herkunftsland 40 Jahre benötigen. Auch wenn die Migration nach Europa irregulär und unter extrem schwierigen Bedingungen erfolgt, kommt sie einem sozialen Fahrstuhl für die Familie gleich.

Europas Grenzen in Afrika

Der Traum von einem besseren Leben trifft in der Realität auf allgegenwärtige Migrationskontrollen – und dies bereits weit auf dem afrikanischen Kontinent. Seit die vermeintliche Migrationskrise in Europa im Jahr 2015 in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte rückte, hat die Europäische Union ihre Anstrengungen, Migrationsbewegungen aus Afrika zu unterbinden, massiv ausgebaut und afrikanische Staaten zur Migrationskontrolle auf ihrem Territorium verpflichtet. Die Partnerstaaten waren angesichts der von Europa bereitgestellten entwicklungs- und sicherheitspolitischen Mittel oft zu einer derartigen Kooperation bereit, obwohl in vielen Fällen zweifelhaft ist, dass die eingeführten Migrationskontrollen mit den Menschenrechten vereinbar sind. Zudem hat die bereits erwähnte Studie zu afrikanischen Migrant*innen in Europa eindrücklich belegt, dass die auf Abschreckung und Einhegung ausgerichtete europäische Migrationspolitik in der Praxis nicht wirkt.

Als besonders fragwürdiger Partner Europas fängt die sogenannte libysche Küstenwache Migrant*innen auf dem Mittelmeer ab, zieht sie zurück und inhaftiert sie vor Ort. Zahlreiche Berichte belegen das massive Ausmaß an Folter, Schutzgelderpressung und Ausbeutung, dem die Migrant*innen schutzlos ausgeliefert sind. Die durch diese Praktiken ausgelösten Protestwellen, sei es durch Migrant*innen in Libyen selbst, die weltweite "Black Lives Matter"-Bewegung oder afrikanische Politiker*innen, haben an der Praxis bislang wenig ändern können.

Auch Marokko und Algerien stehen der Gewalt durch libysche Behörden kaum nach. Im Juni 2022 töteten marokkanische Grenzer mindestens 23 Migrant*innen bei ihrem Versuch, die spanische Exklave Melilla zu erreichen. Auf spanischer Seite wies die Guardia Civil Schutzsuchende illegal nach Marokko zurück. Grundlage für diese harsche Politik sind Abkommen mit Spanien. Dazu kommen Massenabschiebungen unter Missachtung von Menschenrechten wie dem Rückweisungsverbot und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Für das erste Halbjahr 2022 zählte die Menschenrechtsorganisation Alarme Phone Sahara 11652 Menschen, die von Algerien in den Niger abgeschoben wurden. Für die Abgeschobenen bietet nur das Rückkehrprogramm der Internationalen Organisation für Migration eine gewisse Unterstützung. Allerdings macht es diese von der Einwilligung in die Rückkehr in das Herkunftsland abhängig.

Unabhängig von diesen durch Europa vorangetriebenen Migrationskontrollpolitiken verfolgen westafrikanische Staaten auch eigene repressive Agenden. So beteiligen sich westafrikanische Staaten zunehmend an Abschiebungen von Arbeiter*innen, die in illegalen Goldminen gearbeitet haben, oder der verarmten Landbevölkerung. Ein besonderes Politikum ist die Migration von Frauen und Kindern aus dem Niger nach Algerien und Westafrika. Sie betteln dort oder arbeiten als Hausangestellte oder Prostituierte, weil die Väter den Familien kein Auskommen mehr ermöglichen können. Demografisches Wachstum und durch den Klimawandel verstärkte Ernteausfälle haben dazu geführt, dass die Ernte bei vielen nur noch für wenige Monate reicht. Seit einem Massenunglück in der Wüste, bei dem rund 90 Frauen und Kinder ums Leben kamen, versucht der nigrische Staat aus Sorge um das Ansehen des Landes zunehmend repressiv, Frauen und Kinder vor Ort zu "fixieren". 2022 führte er zusammen mit dem Senegal und Ghana vermehrt Abschiebungen durch.

Flüchtlingsschutz auf dem Papier

Ökonomisch motivierte Migration beschreibt aber nur eine Form der Fluchtursachen. Viele Migrant*innen fliehen vor Verfolgung. In Afrika stellen die Geflüchteten ein Drittel aller Migrant*innen, im globalen Durchschnitt sind es "nur" 12 Prozent. Während reiche Länder vor allem von Arbeitsmigration profitieren, schultern die armen Länder den Großteil der Verantwortung für Geflüchtete.

Als nach dem Ende des Kolonialismus vergleichsweise stabile Region hat Westafrika in den 1990er Jahren und zunehmend seit 2010 einen massiven Anstieg von Zwangsmigration erfahren. Verursacht wurde er insbesondere durch die Bürgerkriege in Liberia, Sierra Leone und der Elfenbeinküste, die ebenfalls koloniale Ursachen hatten. Hinzu kam Zwangsmigration aufgrund von Autonomiebewegungen und dem Klimawandel. Seit 2012 lassen insbesondere dschihadistische Aktivitäten und interkommunitäre Gewalt die Fluchtstatistiken in die Höhe schnellen. Die Staaten im Sahel befinden sich inzwischen in einer tiefgreifenden politischen Krise, deren Ausgang ungewiss ist. Die Zahl der registrierten Geflüchteten in Westafrika hat sich im vergangenen Jahrzehnt auf 520000 im Jahr 2022 verdoppelt. Hinzu kommen 5,7 Millionen Binnenvertriebene. Ihre Zahl liegt um das 20-fache höher als vor zehn Jahren.

Auf dem Papier ist der Flüchtlingsschutz dabei besser als in den meisten anderen Weltregionen. Fast alle westafrikanischen Länder haben Asylgesetze verabschiedet und Asylbehörden geschaffen. Neben den Konventionen der Vereinten Nationen gilt hier auch die Flüchtlingskonvention der Afrikanischen Union. Aus der Erfahrung des Kolonialismus und der Dekolonialisierung geboren, definiert sie den Geflüchtetenstatus deutlich umfassender. Sie gewährt auch Menschen Schutz, die vor Besatzung und Fremdherrschaft, bewaffneten Konflikten, Umweltkatastrophen, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen geflohen sind. Daneben hat die Afrikanische Union in den vergangenen Jahren mit der Kampala-Konvention auch ein Instrument zum Schutz von Binnenvertriebenen geschaffen. Sie waren bisher weitgehend ohne Schutz und humanitäre Hilfe, und dies nur, weil sie im Gegensatz zu Geflüchteten keine Staatsgrenzen überquert haben.

Trotz dieses weitreichenden rechtlichen Rahmens ist der Schutz, den Geflüchtete tatsächlich genießen, oft sehr begrenzt. Die Gesetze sind ungenügend implementiert, und es mangelt an staatlichen Kapazitäten für die Asylverfahren, den Schutz und die Versorgung der Geflüchteten. So hat beispielsweise der Niger als derzeit größtes Aufnahmeland für Geflüchtete in der Region gerade einmal einen Staatshaushalt von drei Milliarden Euro, bei einer Gesamtbevölkerung von 23 Millionen. Das entspricht ungefähr dem Budget eines Berliner Bezirks mit 300000 Einwohner*innen.

Daneben schränkt die Unterbeschäftigung die Bleibeperspektive für Geflüchtete extrem ein. Mit Ausnahme Nigerias haben die Hauptaufnahmeländer Niger, Mali und Burkina Faso die niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen und Entwicklungsniveaus in der Region. So sagte mir eine UNHCR-Verantwortliche im Niger: "Wir sind hier im ärmsten Land der Welt. Natürlich ist ein Geflüchteter hier nicht glücklich. Es gibt nicht einmal Arbeit für einen Nigrer." Bei Erhalt des Flüchtlingsstatus läuft nahezu jegliche Unterstützung aus, und bezahlte Arbeit ist kaum verfügbar. Viele der von mir interviewten Geflüchteten lebten daher in extremer Prekarität auf der Straße. Solche Lebensverhältnisse untergraben die Qualität des Flüchtlingsschutzes in Westafrika.

Diese Realitäten gilt es zu beachten, wenn in Europa die Rede davon ist, den Flüchtlingsschutz in den Herkunftsregionen auszubauen. Der Flüchtlingsschutz in afrikanischen Staaten kommt nicht an den in Europa heran und sollte keinesfalls als sinnvolle Alternative betrachtet werden. Initiativen der Europäischen Union und des UN-Flüchtlingskommissariats, den Flüchtlingsschutz "näher am Zuhause" (closer to home) einzurichten, sind vielmehr Instrumente der Migrationskontrolle. Sie zielen darauf ab, Geflüchtete in den Herkunftsregionen zu halten, ihre Weitermigration zu verhindern und Migrationskontrollen zu rechtfertigen. Dabei sind meist weder Grundprinzipien des Schutzes noch die humanitäre Versorgung der Geflüchteten gewährleistet.

Für das Recht zu gehen und zu bleiben

Entgegen europäischer Vorstellungen beschränkt sich afrikanische Mobilität überwiegend auf den afrikanischen Raum selbst. Innerafrikanische und transkontinentale Migrationsbewegungen sind eine bedeutsame Überlebensstrategie im Umgang mit knappen Ressourcen, Ausbeutung und Verfolgungssituationen und tief in gesellschaftlichen Normen, kulturellen Praktiken und der (post)kolonialen Geschichte verankert.

In unseren Gesprächen hoben sowohl afrikanische Bürokrat*innen als auch Migrant*innen ihre Vorstellung eines würdevollen Lebens für alle Menschen weltweit hervor. Diese umfasste fast immer die Möglichkeit, andere Orte zu bereisen und sich dort niederzulassen, gegenseitigen Respekt und garantierte Rechte. Europäische Migrationspolitiken werden dem mit ihrem Schwerpunkt auf Repression und Abschreckung bisher nicht gerecht. Eine Migrationspolitik, die diese afrikanischen Mobilitäten ernst nimmt, sollte stattdessen die Rechte und Lebensperspektiven von afrikanischen Migrant*innen ins Zentrum rücken. Diese Migrationspolitik wird, wenn auch in begrenztem Umfang, bereits jetzt von Ruth, Ali, Ibrahim und anderen Migrant*innen und ihren Familien gelebt. Dies zur Kenntnis zu nehmen würde nicht nur den betroffenen Menschen eher gerecht, sondern könnte vielleicht auch zu einer angemesseneren und gerechteren europäischen Flüchtlingspolitik beitragen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. United Nations Development Programme (UNDP), Scaling Fences. Voices of Irregular African Migrants to Europe, New York 2019, S. 5.

  2. Vgl. Marie-Laurence Flahaux/Hein de Haas, African Migration. Trends, Patterns, Drivers, in: Comparative Migration Studies 1/2016, Externer Link: https://doi.org/10.1186/s40878-015-0015-6.

  3. Vgl. Mary B. Setrana/Nauja Kleist, Gendered Dynamics in West African Migration, in: Joseph K. Teye (Hrsg.), Migration in West Africa, Cham 2022, S. 57–76.

  4. Vgl. United Nations Department of Economic and Social Affairs (UNDESA), International Migrant Stock 2020, Externer Link: http://www.un.org/development/desa/pd/content/international-migrant-stock.

  5. Vgl. Setrana/Kleist (Anm. 3), S. 59f.

  6. Vgl. Joseph Mensah/Joseph K. Teye/Mary B. Setrana, The Janus-Face of Contemporary Migration. Perspectives on West African Return Migration and Transnationalism with a Focus on Ghana and Senegal, in: Teye (Anm. 3), S. 237–259, hier S. 245.

  7. Vgl. World Bank/Global Knowledge Partnership on Migration and Development, A War in the Pandemic. Implications of the Ukraine Crisis and COVID-19 on Global Governance of Migration and Remittance Flows, Migration and Development Brief 36, Washington, D.C. 2022, S. 58.

  8. Vgl. Sylvie Bredeloup, The Migratory Adventure as a Moral Experience, in: Nauja Kleist/Dorte Thorsen (Hrsg.), Hope and Uncertainty in Contemporary African Migration, London–New York 2016, S. 134–153.

  9. Vgl. Setrana/Kleist (Anm. 3), S. 63.

  10. Vgl. Olaf Bernau, Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte, München 2022, S. 62f.

  11. Vgl. Koffi L. Kouakou, Pratiques commerciales et logiques migratoires transfrontalières Afrique de l’Ouest. Cas du commerce de la fripe entre Katamanto (Accra) et Adjamé (Abidjan), Vortrag bei der APAD-Konferenz "Les circulations dans le Sud global: ethnographies des échanges mondialisés", Lomé, 02.12.2021.

  12. Vgl. UNDESA (Anm. 4).

  13. Vgl. UNDP (Anm. 1), S. 42.

  14. Vgl. Setrana/Kleist (Anm. 3), S. 64.

  15. Vgl. Nauja Kleist, Introduction. Studying Hope and Uncertainty in African Migration, in: Kleist/Thorsen (Anm. 8), S. 1–20.

  16. Vgl. UNDP (Anm. 1), S. 5.

  17. Vgl. ebd., S. 62f.

  18. Vgl. Amnesty International/Esteban Beltrán, Melilla: Never Again, 28.6.2022, Externer Link: http://www.amnesty.org/en/latest/news/2022/06/melilla-never-again.

  19. Vgl. Alarme Phone Sahara, Mass Deportations from Algeria to Niger April to June 2022, 27.6.2022, Externer Link: https://alarmephonesahara.info/en/blog/posts/mass-deportations-from-algeria-to-niger-april-to-june-2022.

  20. Vgl. Oumarou Hamani, Des femmes et des enfants de Kantché sur la route de l’Algérie. Analyse socio-anthropologique d’un phénomène mal connu, Organisation internationale pour les migrations (IOM), Genf 2016.

  21. Vgl. Nigeria Abroad, From Senegal to Ghana, Nigerien Beggars Are Being Deported en Masse, 10.6.2022, https://nigeriabroad.com/-from-senegal-to-ghana–nigerien-beggars-are-being-deported-en-masse.

  22. Vgl. UNDESA, International Migration 2020, New York 2020, S. 22.

  23. Vgl. United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), Persons of Concern as of 31 May 2022. Regional Bureau for West and Central Africa, 15.6.2022, Externer Link: https://reporting.unhcr.org/document/2658.

  24. Vgl. Laura Lambert/Franzisca Zanker, Westafrika, in: Marcel Berlinghoff et al. (Hrsg.), Handbuch der Flucht- und Flüchtlingsforschung, Baden-Baden 2022 (i.E.).

  25. Vgl. Marina Sharpe, The Regional Law of Refugee Protection in Africa, Oxford 2018, S. 54.

  26. Vgl. Laura Lambert, Everyday Externalization. The Transformations of Individual Asylum in Niger, Dissertation, Halle/S. 2022.

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ist stellvertretende Leiterin des Forschungsclusters "Patterns of (Forced) Migration" am Arnold-Bergstraesser-Institut an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ihre Dissertation verfasste sie über die "Everyday Externalization" des Flüchtlingsschutzes im Niger, wo sie von 2018 bis 2019 ethnografisch forschte.
E-Mail Link: laura.lambert@abi.uni-freiburg.de