Millionen Gastgeberinnen und Gastgeber in Europa haben nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 spontan ukrainische Kriegsflüchtlinge aufgenommen. Überall in Europa boten sie Wohnungen an oder luden Ukrainer zu sich nach Hause ein. Freiwillige brachten Versorgungsgüter an die ukrainische Grenze und holten Flüchtlinge von dort ab. Aktivisten vernetzten Wohnungsanbieter und Flüchtlinge, damit diese Halt und Stabilität finden, "eingebettet sein" konnten, wie es Lukas Kunert formulierte, einer der Gründer von "unterkunft-ukraine.de". Diese bei Kriegsbeginn gegründete Vermittlung bekam 360000 Angebote und vermittelte 40000 Flüchtlinge.
Die Grenzen standen offen, denn Ukrainer konnten bereits seit 2017 mit ihrem biometrischen Pass in den Schengenraum einreisen und 90 Tage bleiben. Der EU-Ministerrat reagierte auf die europaweite Solidarität und setzte am 4. März 2022 erstmalig die "Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen" in Kraft.
Europäische Solidarität
Von Anfang an flüchteten Ukrainer in alle europäischen Länder, bis nach Portugal und Irland, was die unmittelbaren Nachbarländer entlastete. Die Schweiz, Norwegen und Island schlossen sich der EU-Öffnung an, Dänemark öffnete sich mit einem "Ukrainer-Gesetz", Irland führte einen Tag nach Kriegsbeginn die Visumfreiheit ein. In den großen Bahnhöfen arbeiteten Aktivisten mit Behörden bei der Aufnahme und Verteilung zusammen, Städte wie Warschau, Krakau, Berlin, Wien und Prag organisierten Erstversorgung und Weiterreise. Die europäischen Bahngesellschaften ließen 3,5 Millionen Ukrainer kostenlos reisen und öffneten Europa damit auch faktisch.
Umfragen und Daten zeigen die überragende Bedeutung privater Unterbringung und Hilfe. In einer UNHCR-Umfrage aus dem März 2022 erklärten die Flüchtlinge zu 43 Prozent, sie kämen bei ihrer Familie oder bei Freunden unter. Weitere 14 Prozent hatten über soziale Medien oder Freiwillige eine Unterkunft gefunden. 9 Prozent hatten etwas gemietet, ebenso viele nutzten eine von den Behörden bereitgestellte Unterkunft. 13 Prozent wussten noch nicht, wohin.
Wie wichtig die Visumfreiheit und der EU-Beschluss für die Freisetzung der privaten Initiative waren, wird aus dem Vergleich mit visumpflichtigen Ländern deutlich. Ukrainer, die nach Großbritannien wollten, strandeten an der Kanalküste und vor den britischen Botschaften. Der französische Innenminister warf seiner britischen Kollegin daraufhin "lack of humanity" vor und verlangte ausreichende Konsularangebote.
Bürger, Geflüchtete und Staaten
Von Anfang an und bis heute prägt private Initiative die Aufnahme, die meisten Staaten blieben sekundäre Akteure. In Deutschland lebten Anfang April 65 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge in Privatwohnungen, in Italien 90 Prozent.
Einige Staaten erwiesen sich gleichwohl als organisationsstark. Die Niederlande aktivierten ein Sicherheitsgesetz, mit dem Bürgermeister Unterkünfte beschlagnahmen konnten. Am 4. August waren in den Niederlanden 55688 von 72660 registrierten ukrainischen Flüchtlinge durch Gemeinden untergebracht, die anderen hatten selbst eine Unterkunft gefunden, meist bei Gastfamilien.
In Deutschland führte erst die Bund-Länder-Konferenz am 7. April 2022 zu endgültiger Klärung. Ukrainische Flüchtlinge werden seit Anfang Juni in die Sozialhilfe einbezogen, anstatt wie bisher zunächst dem Asylbewerberleistungsgesetz zu unterliegen. Alle vorherigen Bescheide müssen geändert werden – ein umständlicher Vorgang des "Rechtskreiswechsels". Zudem wurde Paragraf 24 Absatz 6 des Aufenthaltsgesetzes gestrichen. Er hatte ein Arbeitsverbot enthalten und widersprach europäischem Recht, wie in der Begründung zur Gesetzesänderung ausgeführt wird.
Finanzielle Unterstützung und Nicht-Unterstützung
Auch die finanzielle Unterstützung der Flüchtlinge und der Gastgeber unterscheidet sich. Dänemark überließ die Entscheidung über Unterstützung den Gemeinden. Nur eine Gemeinde schöpfte das staatliche Angebot bis zu 500 Kronen pro Tag voll aus, die Mehrheit zahlte gar nichts.
Polen beendete am 1. Juli 2022 seine finanziellen Unterstützungsmaßnahmen für Gastgeber und ukrainische Flüchtlinge, außer für Schwangere, kinderreiche Familien und Invaliden.
Ein großer Teil der Hilfsmaßnahmen in Polen war ohnehin vom Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), von ausländischen Organisationen und von der polnischen Zivilgesellschaft getragen worden. Schon im April 2022 hatte der Warschauer Oberbürgermeister um direkte EU-Hilfe an die polnischen Städte gebeten und kritisiert, dass die staatlichen Maßnahmen improvisiert seien.
Europaweit war die Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge weitgehend von der Zivilgesellschaft getragen. Sie war schneller organisationsfähig als die Bürokratie und brachte die Mehrheit der Flüchtlinge über lange Monate unter. Sie arbeitete auch dann weiter, wenn der Staat, wie in Polen, seine Unterstützung weitgehend aufgab. Nicht nur Polen hält die EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz nicht ein. Dort ist in Paragraf 13 festgelegt, dass "notwendige Hilfe in Form von Sozialleistungen und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie im Hinblick auf die medizinische Versorgung" zu gewähren sind. Die Konsequenz wird sein, dass Notleidende problematische Jobs annehmen, in die Ukraine zurückkehren oder in andere Länder weiterwandern.
Die Flucht nach Europa in Zahlen
Die aus der Ukraine Geflüchteten kamen zunächst in den direkten Nachbarstaaten an. Bis zum 16. August 2022 zählte das UNHCR 11,151 Millionen Ukrainer, die seit Kriegsbeginn ins Ausland gegangen waren, 2,198 Millionen davon unter zweifelhaften Umständen nach Russland. 3,768 Millionen waren in die Ukraine zurückgekehrt. Die offenen Grenzen erleichtern Rückkehrentscheidungen, weil man ohne Weiteres erneut ausreisen kann und nicht festsitzt. Die UNHCR-Zahlen vermitteln einen Eindruck über die größte Flucht- und Vertreibungswelle in Europa seit 1947 (Tabelle 1).
Die Zahlen der Registrierten zeigen, wie viele Flüchtlinge in den Erstaufnahmeländern geblieben sind. Registrierung öffnet den Zugang zu Sozialleistungen und Arbeit. In Ungarn reisten die meisten Flüchtlinge rasch weiter. Das ungarische Helsinki-Komitee warf der ungarischen Regierung vor, die Aufnahmezahlen zu inflationieren, um an EU-Mittel zu kommen, sich aber wenig um die Aufnahme der Flüchtlinge zu bemühen.
Innerhalb des offenen Schengenraums gibt es keine Grenzstatistiken zur Zahl der ukrainischen Flüchtlinge, sondern nur Daten zum Aufenthalt und zur Registrierung. Die Tschechische Republik beherbergt inzwischen die meisten Flüchtlinge pro Kopf der einheimischen Bevölkerung, etwa vier Prozent. Sie hat ihre Unterstützungsmaßnahmen etwas reduziert, diese liegen nun unterhalb der Sozialhilfe für Tschechen, und fördert systematisch die Integration in Arbeit, Schule und Sozialsystem. Im August 2022 hatten 101000 Flüchtlinge Arbeit gefunden. 64 Prozent der Tschechen befürworten die Aufnahme der Flüchtlinge, aber 70 Prozent befürchten Probleme bei Sozialleistungen und 52 Prozent zunehmende Arbeitslosigkeit.
Vergleicht man die Verteilung über Europa, so zeigt sich insgesamt ein Ost-West-Gefälle, das der Entfernung von der Ukraine entspricht (Tabelle 2). Dabei fallen ausgeprägte Abweichungen nach unten (Ungarn) und nach oben (Irland, Portugal) auf, die auf besondere politische Bemühungen zurückgeführt werden können, negativ wie positiv. Dauert der Krieg weiter an, so ist zu erwarten, dass die Verteilung sich weiterhin langsam in Richtung jener Länder verschieben wird, die effektive Unterstützung gewähren und in denen man Arbeit findet. Umfragen im März 2022 zeigten, dass 80 Prozent der Flüchtlinge in Polen zurückkehren wollten, aber nur 32 Prozent in Deutschland.
Seit Beginn der Fluchtbewegung wandten sich viele Ukrainer trotz der Entfernung nach Italien, Spanien und Portugal, wo bereits viele Landsleute arbeiteten und sich niedergelassen hatten. Frankreich registrierte 25000 Bahndurchreisen nach Spanien. Erst im Sommer kamen mehr Ukrainer nach Frankreich. Der französische Koordinator führt diesen Nachholeffekt auf die gut organisierte Aufnahme in Frankreich zurück und berichtet, die Ukrainer seien sehr gut darüber informiert.
Im Gegensatz zur Flüchtlingskrise 2015 vollziehen sich die Wanderungsprozesse individuell, unspektakulär und unkontrovers. Selbst der Abbruch der Unterstützung für Flüchtlinge in Polen rief kein internationales Echo hervor und ist bisher auch von der Europäischen Kommission, der Hüterin der Verträge, nicht kritisiert worden. Insofern gibt es also keinen einheitlichen europäischen Sozialraum, sondern einen offenen Raum mit unterschiedlichen landesspezifischen Bedingungen.
Kooperatives Aufnahmeregime
Insgesamt ist ein offenes, kooperatives europäisches Aufnahmeregime entstanden,
Erstens sind die Geflüchteten ständig mit dem Krieg in der Ukraine konfrontiert. Jede Wendung des Krieges hat Einfluss auf Vertreibungen oder Rückkehrmöglichkeiten. Die Mehrzahl der Flüchtlinge sind Frauen und Kinder mit Angehörigen in der Ukraine.
Zweitens erfolgt die Integration weitgehend über die Zivilgesellschaft, in einer in Europa bisher kaum gekannten Dichte. Über Monate hinweg haben Familien vor allem Mütter und Kinder aufgenommen, zum Teil auch Großmütter. Die meisten Staaten agieren eher subsidiär, mit finanzieller Hilfe, die oft die Kosten nicht deckt. Trotz Verzögerungen und zum Teil langwierigen bürokratischen Abläufen gestaltet sich das Verhältnis von Helfern, Geflüchteten und Staat kooperativ – und nicht wie in der "Asylkrise" vielfach konfrontativ und erschöpfend.
Drittens ist das Regime europaoffen und funktioniert im Schengenraum ohne Grenzkontrollen. Die Offenheit erlaubt den Flüchtlingen Selbststeuerung, die durch vielfältige Kontakte zu Ukrainern in den Aufnahmeländern und spontan entstandene private Aufnahmesysteme unterstützt wird. Umfragen zeigen ein hohes Maß an Informiertheit.
Viertens gibt es keine Diskussionen über Obergrenzen oder Quoten wie noch 2015 und auch keine innereuropäischen Grenzschließungen, obwohl Flucht und Vertreibung ein Ausmaß erreicht haben wie seit 1947 nicht mehr.
Fünftens ist die Zivilgesellschaft überall aktiv, während die Staaten unterschiedlich agieren, was Effektivität, Geschwindigkeit und Ausmaß der finanziellen Unterstützung betrifft. Das wurde jedoch bisher nicht zum Problem, auch, weil die erwarteten Aufnahmezahlen in einigen Staaten zunächst nicht erreicht wurden und damit Reserven bestanden.
Perspektiven
Die zukünftige Entwicklung der Fluchtbewegung nach Europa hängt in erster Linie von den Kriegsereignissen in der Ukraine ab. Die russische Kriegsführung mit ihren systematischen Zerstörungen erzeugt starke Fluchtbewegungen,
In Bezug auf die Unterbringung haben die privaten Gastgeber bisher eine erstaunliche Resilienz bewiesen. Langfristig wird es darauf ankommen, die geflüchteten Personen in Wohnungen unterzubringen. Im Inneren haben einige Staaten Verteilungssysteme geschaffen, die zuweilen die privaten Initiativen behindern oder Empörung wegen der Unterbrechung von Familienzusammenführungen hervorrufen. Während auf europäischer Ebene entgegen ursprünglichen Befürchtungen
Eng verbunden mit der Wohnungssituation ist die Frage der Arbeitsaufnahme, die sich nicht auf Hilfstätigkeiten beschränken, sondern das Potenzial der Ukrainer ausschöpfen sollte, im Interesse aller Beteiligten. Irland hat in diesem Sinn die ukrainischen Lehrkräfte bei der Ankunft prioritär registriert, um sie direkt in den Schulen einsetzen zu können.
Auch wenn die "Vorläufige Aufnahme" einen einheitlichen rechtlichen Rahmen bildet und sich ein bürgergestütztes Aufnahmeregime definieren lässt, wird die weitere Entwicklung von den jeweiligen nationalen Gegebenheiten bestimmt sein, vor allem von Wirtschaftssituation, Arbeitsmarkt, Effektivität und Flexibilität des Bildungssystems und Europafreundlichkeit. Doch all diese Unterschiede sind bislang eingebettet in eine Atmosphäre gegenseitiger Duldung – ganz anders als in den toxischen Auseinandersetzungen um Verteilungsschlüssel und Quoten im Jahr 2015. Auch viele Monate nach Beginn des Krieges ist die Aufnahmebereitschaft für ukrainische Flüchtlinge, und besonders für die vielen Frauen und Kinder, weiter groß, während 2015 die Stimmung nach anfänglicher Euphorie rasch kippte. Dabei spielen die Unterschiede in Geschlecht und Herkunft der Flüchtlinge sicherlich eine Rolle; vor allem aber veränderten damals die erschütternden Übergriffe und Anschläge das Klima, während 2022 die Schrecken der russischen Kriegsführung die Schlagzeilen prägen. Der entscheidende Unterschied ist jedoch das neue Aufnahmeregime, das der Gesellschaft breite Solidarität ermöglicht und so trotz der viel höheren Flüchtlingszahlen keinen Belastungsdiskurs entstehen lässt.