Mit dem Vertrag von Amsterdam nahm im Jahr 1999 eine gemeinsame EU-Politik zu Flucht und Asyl ihren Anfang, die sich über Richtlinien und Verordnungen zunächst rasant entwickelte.
Vor allem drei Gründe waren für diesen Integrationsschritt verantwortlich: Erstens war den Regierungen nach dem Wegfall der Binnengrenzen und der dadurch möglichen Bewegung von Asylsuchenden im Inneren der Europäischen Union beziehungsweise des Schengenraums daran gelegen, die gemeinsamen Außengrenzen besser zu schützen. Zweitens wichen die Regeln für die Schutzgewährung unter den Mitgliedstaaten so stark voneinander ab, dass es für die Antragsteller*innen und ihre Chancen, Schutz zu erhalten, einen großen Unterschied machte, in welchem Staat ein Asylgesuch gestellt wurde. Drittens schließlich sollte die Zuständigkeit der Staaten für die Asylverfahren klarer geregelt werden. Bislang war häufig unklar, welcher Staat für ein bestimmtes Asylverfahren zuständig war.
Aus dieser zunehmend vergemeinschafteten Politik entstand das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Dessen Kernstücke waren im Wesentlichen zwei Verordnungen und drei Richtlinien: Die Dublin-Verordnung regelt seither, welcher Staat für die Behandlung eines Asylgesuchs zuständig ist – in der Regel derjenige, den ein Asylsuchender zuerst betreten hat. Ihr Ziel lag auch darin, Sekundärwanderungen zwischen den Staaten zu vermeiden. Gewährleistet wurde dies durch die Registrierung der Fingerabdrücke der Asylsuchenden; dieses Fingerabdruck-Identifizierungssystem wurde in einer weiteren Verordnung, der EURODAC-Verordnung, fixiert.
Aus diesem Gesetzeswerk lassen sich zwei Leitmotive der EU-Asylpolitik ablesen: die Kontrolle von Migrationsbewegungen nach außen wie nach innen (Stichwort: Sekundärmigration) sowie die Schutzgewährung für jene, die des Schutzes bedürfen. Beide Ziele können miteinander in Konflikt geraten – und tatsächlich sollte die daraus resultierende Politik zusehends Schlagseite zugunsten der Kontrolle bekommen.
Gemeinsames Asylsystem und nationalstaatliche Alleingänge
Denn trotz dieser gemeinsamen Gesetzgebung stieß die tatsächliche Harmonisierung an Grenzen. Die in Brüssel vereinbarten Richtlinien mussten noch in nationales Recht überführt und durch die nationalen Verwaltungen umgesetzt werden. Hier ergaben sich für die Staaten beachtliche Spielräume, die oft zugunsten eines "Wettbewerbs nach unten" genutzt wurden, um möglichst wenige Asylsuchende aufnehmen zu müssen. Das ursprüngliche Ziel, eine "Schutzlotterie" zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden und stattdessen gemeinsame Standards für die Gewährung von Asyl zu etablieren, wurde letztlich nicht erreicht.
Auch die Dublin-Regeln, nach denen nur jener Staat für ein Asylgesuch zuständig ist, in den eine schutzsuchende Person zuerst einreist, waren zwar unmittelbar in den Mitgliedstaaten gültig, wurden in der Praxis aber oft unzureichend angewandt. Denn das Prinzip des Erstaufnahmestaates belastete vor allem die EU-Staaten an den Außengrenzen. Mit der starken Fluchtzuwanderung der Jahre 2015/2016 kollabierte "Dublin" vollends, als Registrierungen in den Außengrenzstaaten oft unterblieben und Geflüchtete schlicht weiterwanderten – mit dem Resultat, dass neue Grenzen an den Einreisestaaten "nach außen" errichtet wurden. Der Versuch einer Reform in Richtung einer fairen und solidarischen Verteilung der Asylsuchenden, die das ausschließlich auf die Zuständigkeit des ersten Zutrittsstaats ausgerichtete Dublinsystem hatte ablösen sollen, entzweite die Mitgliedstaaten im Inneren. Die ohnehin zähen Reformansätze zu einer Verbesserung des GEAS und seiner Standards für die Schutzsuchenden gerieten ganz und gar ins Stocken.
Letztlich manifestierte sich hier eine tief reichende, normative Spaltung der Mitgliedstaaten über die Frage der EU-Kompetenzen im Bereich der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Die einst so schnell zugunsten gemeinsamer europäischer Regelungen abgetretene Souveränität im Bereich Asyl und Migration wurde wieder infrage gestellt: Welche Kompetenzen sollten der EU mit ihren supranationalen Instanzen, welche hingegen (wieder) den Nationalstaaten zukommen? Und wie sollte angesichts der starken Fluchtzuwanderung und der folgenden Sekundärwanderungen im Inneren der EU mehr Verteilungsgerechtigkeit hergestellt werden?
Kontrolle der Migrationsbewegungen versus Schutzgewährung
Das Bemühen, möglichst kein "zweites 2015" mit einem so empfundenen Kontrollverlust der politischen Steuerungsfähigkeit zu riskieren, führte zwischen den EU-Staaten zu einem weiteren Absenken der einst gemeinsam etablierten Standards. Ziel der Mitgliedstaaten war es, den jeweils eigenen Staat möglichst unattraktiv erscheinen zu lassen. Auch flackerte die Debatte um "mehr Sicherheit" erneut auf. Nach den Terrorattacken des 11. September 2001 und den Anschlägen von Madrid 2004 hatten Asyl und Migration immer stärker im Zeichen einer Perzeption von Neuzuwanderung als Sicherheitsproblem gestanden.
Flucht und Migration wurden in der Folge zusehends in ihrer "externen Dimension" als ein außen-, entwicklungs- und sogar verteidigungspolitisches Politikfeld begriffen: Die Bearbeitung von Fluchtursachen und die Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten gerieten ebenso in das Blickfeld wie der Außengrenzschutz mitsamt einer Bekämpfung des Schmuggler- und Menschenhändlerwesens, Fragen der Seenotrettung oder die Rückführung und Reintegration abgelehnter Asylsuchender. Die EU und ihre Mitgliedstaaten tendierten dabei mehr und mehr zu einer Externalisierung,
Mit der von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen "Agenda für Migration" im Zuge der starken Fluchtzuwanderung 2015/2016 erhielt die Asylpolitik erneut eine sicherheitspolitische Schlagseite, zugunsten einer weiteren Externalisierung und mit starker Betonung der Rückkehrpolitik. Auch dies ging tendenziell auf Kosten des Flüchtlingsschutzes.
Obwohl die Versicherheitlichung wie auch die Externalisierung der europäischen Migrationspolitik schon seit Langem auf harsche Kritik von Wissenschaft und Nichtregierungsorganisationen stoßen, weisen auch die Kommissionsvorschläge von 2020 nur zu einem geringen Teil in eine neue Richtung.
"Neuer" Pakt für Migration und Asyl 2020: ein Etikettenschwindel?
Im September 2020 legte die Europäische Kommission zur Konkretisierung des GEAS das neue Migrations- und Asylpaket vor, das nach und nach zwischen Parlament und Rat verhandelt wird.
Zwischen dem grundlegenden Ziel, Flüchtlings-, Grund- und Menschenrechte zu garantieren, und dem Bestreben, Wanderungsbewegungen zu steuern, bleibt das EU-Migrations- und Asylpaket allerdings weiterhin unausgewogen.
Primär beabsichtigt der Pakt, die Kooperation mit Partnerländern weiter auszubauen. Der Fokus bleibt dabei auf der Ausführung von EU-Zielen in und durch Drittstaaten, inklusive der Rückführung von abgelehnten Asylsuchenden. Folgt man dem Rahmentext, geschieht dies allerdings weitgehend, ohne die Interessen und Voraussetzungen nicht-europäischer Partner in ausreichendem Maße einzubeziehen. Zudem ist bisher unklar, welche Anreize den Drittstaaten für die Kooperation geboten werden sollen.
Reguläre humanitäre Zugangswege, Möglichkeiten zur wirtschaftlich motivierten Migration und – besonders vielversprechend – Ausbildungspartnerschaften sollen dem Pakt zufolge ausgebaut werden. Wie und in welchem Umfang dies erfolgen soll, bleibt allerdings offen. Gerade in solchen mit diplomatischem Feingefühl geführten migrationspolitischen Dialogformaten "auf Augenhöhe" läge viel Potenzial – wenn eine solche Kooperation sich nicht, wie bisher, einseitig auf Rückführungs- und Reintegrationsmaßnahmen beschränkt. Politisches Einvernehmen besteht bereits über einen seit 2016 vorliegenden Verordnungsentwurf zum sogenannten Resettlement, der dauerhaften Aufnahme besonders schutzbedürftiger Personen.
An den Grenzen hat sich in den vergangenen Jahren die Praxis illegaler Pushbacks als größtes Hindernis zur Gewährung der Flüchtlingsrechte erwiesen, namentlich des Gebots der Nicht-Zurückweisung ("non-refoulement"), des Verbots der kollektiven Ausweisung und des Rechts, um Asyl zu ersuchen. Diese Praxis ist in verschiedenen Mitgliedstaaten zu Recht scharf kritisiert worden. Außerdem haben sich die Hinweise verdichtet, dass Frontex von rechtswidrigen Zurückweisungen wusste und seine menschen- und flüchtlingsrechtlich gebotenen Aufgaben nicht hinreichend erfüllt hat.
Diese Verantwortungsfrage für die Schutzsuchenden leitet über zur "Ursünde" des GEAS im Inneren der EU: der Tatsache, dass sich die Mitgliedstaaten seit Jahren nicht auf einen Mechanismus einigen können, der das mit dem Dublin-Prinzip festgelegte Zuständigkeitssystem in ein solidarischeres Verantwortungssystem überführen könnte. Die von der Kommission erarbeiteten Vorschläge des Neuen Paktes für Migration und Asyl haben hier einen besonderen Kniff vorgesehen: Die Dublin-Verordnung soll nominell ersetzt werden durch ein Screening vor der Einreise sowie gegebenenfalls durch Asylverfahren an den EU-Außengrenzen. Von dem faktisch nicht umgesetzten Prinzip der fairen Verteilung von Schutzsuchenden auf die Mitgliedstaaten rückt die Kommission ab. Nach dem "neuen Solidaritätsmechanismus" muss nicht jeder Mitgliedstaat Schutzsuchende aufnehmen, sondern kann stattdessen eine sogenannte Patenschaft für Rückkehrer übernehmen. Gelingt es binnen acht Monaten nicht, die entsprechende Person zurückzuführen, muss er sie auf seinem Territorium aufnehmen. Weitere operative und technische Unterstützungsleistungen will die Kommission erst in einem späteren Katalog spezifizieren. Im Falle einer Überlastung des Migrationssystems eines Mitgliedstaates sollen die anderen Mitgliedstaaten allerdings einen jeweils "gerechten Anteil" an Flüchtlingen übernehmen; auch anerkannte Flüchtlinge sollen dann umgesiedelt werden.
Immerhin hatten sich im Sommer 2022 schon 18 EU-Mitgliedstaaten und drei assoziierte Staaten erstmals für einen Umsiedlungsmechanismus ausgesprochen, der die südlichen Grenzstaaten, die durch das Dublin-Prinzip über Gebühr beansprucht sind, temporär entlasten soll. Noch geht es um kleine Zahlen: 13 Länder wollen insgesamt 8000 Personen aufnehmen, davon allein Deutschland 3500 Menschen. Allerdings stehen die Außengrenzstaaten vor der im Neuen Pakt vorgesehenen Aufgabe, die Sicherheit, Gesundheit und Schutzbedürftigkeit der neu Ankommenden zu kontrollieren. Denn das bislang geltende Prinzip der Zuständigkeit des Erstaufnahmestaates für das folgende Asylverfahren schreibt den Grenzstaaten nunmehr eine Art Drehkreuzfunktion zu: Nach den Sicherheits- und Gesundheitschecks soll ein Grenzverfahren für Asylsuchende aus Staaten "mit niedriger Anerkennungsquote" stattfinden sowie für solche Personen, deren Antrag falsche beziehungsweise missbräuchliche Angaben enthält oder die eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen. Entsprechend der Einordnung der Antragsteller werden diese vier möglichen Pfaden zugeleitet: der Rückführung, "normalen Asylverfahren" (mit allerdings sehr straffen Fristen), beschleunigten Asylverfahren oder einer "relocation" (Umsiedlung) in einen anderen Mitgliedstaat, in dem dann das Asylverfahren stattfinden soll. Dieses Prinzip stieß auf den unmittelbaren Widerstand der Slowakei, die sich bei der entsprechenden Abstimmung im Rat enthielt, und auf Ablehnung durch Ungarn und Polen.
Ukraine-Flüchtlinge: Mehr Schutz, mehr Einigkeit?
Fraglich ist, ob die überraschend bereitwillige Aufnahme so vieler Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die überwiegend in den östlichen Mitgliedstaaten erfolgte, nunmehr ein Gelegenheitsfenster für die Verhandlungen im Rat öffnet. Zum einen war die einstimmige Zustimmung zur sogenannten Massenzustromrichtlinie, über die sehr viele Menschen gleichzeitig Zugang zu vorübergehendem Schutz, zu Unterbringung, sozialen Leistungen, Bildung und Arbeit erhalten, ein historischer Akt – ein Akt, der das Ziel der raschen, unbürokratischen Schutzgewährung über den Kontrollaspekt stellt.
Zum anderen würde es die Richtlinie sogar erlauben, Geflüchtete gemäß der jeweiligen Kapazitäten mithilfe selbstverpflichtender Aufnahmekontingente ("pledges") solidarisch zu verteilen. Dies könnte unter Umständen, über die Aufnahme der Ukraine-Flüchtlinge hinaus, ein Schritt hin zu einer gemeinsamen EU-Asylpolitik sein, die bisher immer wieder aufs Neue am Streit über die Verantwortung für die Flüchtlinge gescheitert ist. Allein: Bisher ist von Aufnahmekontingenten noch nichts nach außen gedrungen.
Darüber hinaus erscheint es nicht mehr völlig unplausibel, dass sich die Staaten an den EU-Außengrenzen nunmehr zusammentun, um auf eine echte Verantwortungsteilung zwischen den Mitgliedstaaten zu drängen. Denn neben den Staaten an den südlichen Grenzen haben durch den Ukraine-Krieg nun auch jene am östlichen Grenzverlauf eine große Zahl an Geflüchteten aufgenommen. Allerdings lässt die bereits erwähnte Ablehnung des auf ein Jahr befristeten Umsiedlungsmechanismus durch Ungarn, Polen und die Slowakei, mit dem Flüchtlinge aus Italien umverteilt werden sollen, es fraglich erscheinen, dass sich hier wirklich ein "Window of Opportunity" öffnet. Gerade gegenüber muslimischen Flüchtlingen haben die Visegrád-Staaten schon vor Jahren Vorbehalte geltend gemacht – ob diese nunmehr einer pragmatischen Lösung weichen, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.
Im Sinne einer solchen pragmatischen Lösung hat der deutsche Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) unlängst ein dreigleisiges Vorgehen empfohlen: Erstens entscheiden gerade viele Geflüchtete aus der Ukraine gemäß der für sie geltenden Richtlinie für die vorübergehende Schutzgewährung selbst, in welche Mitgliedstaaten sie gehen – sie gehen in jene, in denen sie Netzwerke vorfinden. Das scheint ein sinnvolles Vorgehen zu sein. Zweitens könnten solche EU-Mitgliedstaaten, die vergleichsweise wenige Flüchtlinge aufnehmen, entsprechend ihrer ökonomischen Möglichkeiten Ausgleichsleistungen erbringen, indem sie zum Beispiel Mindestkontingente für eine Flüchtlingsaufnahme benennen oder logistische Hilfe bei der Verteilung und Aufnahme leisten, wie es auch der Katalog der Europäischen Kommission anvisiert. Drittens könnten mittelfristig sogenannte Matching-Verfahren auf einer Art Vermittlungsplattform eingerichtet werden. Auf dieser könnten sich potenzielle Aufnahmekommunen in Absprache mit Mitgliedstaaten und subnationalen Einheiten (wie etwa den deutschen Bundesländern) präsentieren; die Schutzsuchenden könnten sich dann entsprechend ihrer Bedarfe und Möglichkeiten zuordnen.