Das Thema "Femizid" ist seit den 1990er Jahren in der öffentlichen und medialen Aufmerksamkeit sowie auf der Agenda internationaler Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) und dem Europarat angekommen – nicht zuletzt, weil Anti-Gewalt-Bewegungen die Ermordung von Frauen aufgrund des Geschlechts anprangerten und politisierten. Frauenbewegungen im Globalen Süden, insbesondere in Lateinamerika, nutzen den Internationalen Frauentag am 8. März zu Frauenstreiks, um auf die hohe Zahl von Femiziden hinzuweisen. "Ni una menos" (deutsch: nicht eine weniger) ist der Slogan dieser Bewegungen.
Bislang gibt es in keinem EU-Mitgliedstaat eine rechtliche Definition oder Verankerung von Femizid, wohl aber wird die Tötung von Frauen auf unterschiedliche Weise klassifiziert – als Mord, meist aber als Totschlag.
Denn trotz globaler Proteste und internationaler Aufmerksamkeit für den Tatbestand werden jährlich noch immer zahllose Frauen getötet, so 2018 in den 14 EU-Staaten, für die es Daten gibt, über 600 Frauen, meist durch einen (Ex-)Partner oder ein Familienmitglied: Die höchsten Femizidraten hatten Malta, Finnland und Schweden (Mord durch einen (Ex-)Partner) sowie Lettland, Malta und Österreich (Mord durch ein Familienmitglied oder einen Verwandten).
Global sieht es kaum anders aus. Weltweit waren 2021 zwar nur 19 Prozent aller Opfer von Tötungsdelikten weiblich, doch 56 Prozent aller getöteten Frauen wurden durch eine*n (Ex-)Partner*in oder durch ein Familienmitglied umgebracht. Asien nimmt in 2021 den traurigen Spitzenplatz mit 17.800 getöteten Frauen ein, in Afrika wurden 17.200 Frauen Opfer eines Femizids und in den Amerikas 7.500.
Offensichtlich sind lokale, nationale und internationale Mobilisierungen und Maßnahmen bislang nicht in der Lage, Frauenmorde wirksam zu verhindern. Zwar existieren inzwischen nationale Maßnahmen gegen Gewalt im familiären Nahraum, die durchaus zur Verhinderung von Femiziden durch (Ex-)Partner beitragen, doch andere Formen von Frauenmorden aufgrund des Geschlechts bleiben unentdeckt. Die Fokussierung der Statistiken auf Femizide durch (Ex-)Partner deutet auf eine hohe Dunkelziffer hin, denn nicht alle Frauenmorde werden im familiären und verwandtschaftlichen Umfeld verübt.
Außerdem sind statistische Angaben über Femizide oftmals nicht gesichert. Sie werden in einigen Ländern von NGOs aus Medienberichten oder aus teilweise unvollständigen Polizeistatistiken sowie Daten des Justiz- oder Gesundheitssystems zusammengestellt. Auch die deutschen Datensammlungen sind unzureichend, weil sie zu stark auf Partnerfemizide fokussieren. Dies liegt vor allem daran, dass es keine einheitliche, operationalisierbare Definition von Femizid gibt und zu wenige Indikatoren zur Identifizierung von Femizid berücksichtigt werden.
Das Europäische Institut für Geschlechtergleichheit (EIGE) hat daher 2021 damit begonnen, Vorschläge für ein Klassifikations- und Indikatorensystem von Tötungsdelikten an Frauen zu entwickeln, auf dessen Grundlage vergleichbare Daten zu Femiziden in den EU-Ländern erhoben werden können: "Name it, count it, end it" lautet der Dreischritt. Dazu gehören eine möglichst anerkannte, umfassende und operationalisierbare Definition von Femizid, eine standardisierte Datenerhebung und darauf fußende Maßnahmen zur Verhinderung von Femiziden. Zu diesem Zweck erstellte die Organisation 2021 mehrere Berichte über den Stand der wissenschaftlichen Diskussion zu Femiziden, einen Überblick über existierende Datenbanken sowie ein Klassifikations- und Indikatorensystem zur Erfassung von Femiziden.
Name it
Der Begriff "Femizid" kursiert seit geraumer Zeit in der wissenschaftlichen, politischen und medialen Debatte. In seiner heutigen Bedeutung wurde er 1976 von der Soziologin Diana E.H. Russell eingeführt als "die Ermordung von Frauen durch Männer, die durch Hass, Verachtung, Vergnügen oder ein Gefühl des Eigentums an Frauen motiviert" ist, und als "die Tötung von Frauen durch Männer, weil sie Frauen sind".
Bis heute werden nicht alle Tötungsdelikte an Frauen, die als Femizide eingestuft werden könnten, auch als solche klassifiziert – eben weil eine gemeinsame Definition fehlt, auf deren Grundlage Faktoren entwickelt werden können, die die Tötung von Frauen als Femizid identifizieren. Daher fokussieren Kriminalstatistiken bis heute auf die Tötung einer Frau im Rahmen einer existierenden oder aufgelösten Partnerschaft und, damit verknüpft, auf vorsätzliche Femizide.
2021 schlug EIGE eine weite Definition vor und begreift seither Femizid als "the killing of women and girls because of their gender". Schlüsselkomponenten der EIGE-Definition sind die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die geschlechtsspezifische Motivation einer Tötung. Allerdings bedarf diese Definition einer präzisen Bestimmung, was eine Tötung "aufgrund des Geschlechts" genau meint. Daraus schließen Expert*innen einen deutlichen Bedarf an Wissen über die Motivation des Täters und das Verhältnis von Opfer und Täter, also Wissen um die subjektiv-individuelle Seite eines Mordes sowie über den Tathergang.
Feministische Herangehensweisen betonen außerdem den Zusammenhang der individuellen Tat mit ungleichen geschlechtsspezifischen sozialen und ökonomischen Normen, Geschlechterrollen und Bildern von Weiblichkeit und Männlichkeit, die ein "System der Gewalt" gegen Frauen bilden können.
Unterschiedliche Typen
Auf der Basis der Beschreibung des Tötungskontextes und der gesellschaftlichen Gewaltstruktur lässt sich eine Typologie unterschiedlicher Femizide erstellen,
Diese erweiterte Typologie von Femiziden macht es möglich, weit mehr Morde von Frauen und Mädchen als Femizid zu klassifizieren. Dazu bedarf es aber auch eines Indikatorensystems, das die jeweiligen Kontexte, Hintergründe und Motive ausleuchten hilft. Auch in dieser Richtung haben die EU und internationale Organisationen in den vergangenen Jahren weitere Arbeit geleistet. Zahlreiche nationale und internationale Datenbanken haben dazu beigetragen, ein solches Indikatorensystem zu verfeinern. Diese Datenbanken zur statistischen Erfassung von Femiziden werden im Folgenden vorgestellt, um deutlich zu machen, dass es zwar Fortschritte gibt, dass die Vergleichbarkeit der Daten aber noch nicht gewährleistet ist.
Datenbanken
In den vergangenen zehn Jahren haben mehrere Länder, internationale Organisationen und Erklärungen wie die Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women (CEDAW) Definitionen von Femizid, verschiedene Klassifizierungen und Indikatoren für die Datenerfassung vorgeschlagen. Seit 2015 wird die Internationale Klassifikation der Kriminalität für statistische Zwecke (ICCS) der Statistischen Kommission der Vereinten Nationen und der Kommission für Verbrechensverhütung und Strafrechtspflege (CCPCJ) als internationaler statistischer Standard für die Datenerhebung anerkannt. Hier werden Tötungsdelikte nach Geschlecht aufgeschlüsselt, eine Definition von Femiziden fehlt jedoch, auch wenn das ICCS über einen eigenen Code das "intentional killing of a woman for misogynous or gender-based reasons" statistisch erfasst werden kann.
Neben diesen internationalen Organisationen erfassen einige nationale und regionale Monitoring-Systeme Femizide und schlagen Indikatoren für die Datenerfassung vor. Das Monitoring wird entweder von Regierungen und statistischen Ämtern, von Wissenschaftler*innen oder von Anti-Gewalt-NGOs durchgeführt.
International existieren der Minnesota Femicide Report (heute: Intimate Partner Homicide Report: Relationship Abuse in Minnesota) der NGO Minnesota Coalition for Battered Women (heute: Violence Free Minnesota, VFM), die 2017 ins Leben gerufene Datenbasis des Canadian Femicide Observatory for Justice and Accountability und das Australische National Homicide Monitoring Program, das seit 1989 Daten erhebt. Der Schwerpunkt dieser Datenbanken liegt auf häuslicher Gewalt und Femizid im sozialen Nahbereich. Die Lateinamerikanische Initiative für offene Daten startete 2017 eine "Sondierungsstudie" über Daten zu Femiziden in Lateinamerika.
Erwähnenswert für Europa sind der European Homicide Monitor, die im Februar 2015 ins Leben gerufene UK Femicide Census Database sowie das European Observatory on Femicide. Mit Ausnahme von Finnland gibt es in keinem europäischen Land ein Register für Tötungsdelikte, in dem Femizide explizit erfasst werden. Der European Homicide Monitor begann 2007 als Pilotprojekt in Finnland, den Niederlanden und Schweden, um die Tötungs-Datenbanken dieser Länder zusammenzuführen, und enthält mittlerweile auch Daten aus der Schweiz.
Für Europa bildet die Istanbul-Konvention eine solide Grundlage, um einheitliche statistische Daten über Femizide zu erheben. Die Group of Experts on Action Against Violence against Women and Domestic Violence of the Council of Europe, die zur Umsetzung der Istanbul-Konvention eingerichtet wurde, etablierte eine Datenbank zur statistischen Erfassung von Femiziden. Darin werden die bereits existierenden Indikatoren wie Geschlecht von Opfer und Täter sowie ihr Verhältnis um administrative und rechtliche Daten über Frauenmorde wie beispielsweise die dem Mord vorhergegangene Gewalt, die Anzahl der wegen der Tötung von Frauen verurteilten Täter insgesamt in einem Land sowie die Arten von Sanktionen und Maßnahmen gegen diese Täter erweitert.
EIGE erhob 2021 die Lage in der EU: Verwaltungsdaten über Femizide werden in 26 der 27 EU-Mitgliedstaaten (außer Luxemburg) sowie im Vereinigten Königreich in der Regel von Gleichstellungsabteilungen der Ministerien für Geschlechtergleichstellung oder Gesundheit erhoben. Sieben EU-Länder erfassen Daten zu geschlechtsspezifischen Tötungen, meist anhand des Geschlechts des Opfers und der Opfer-Täter-Beziehung. Die in den nationalen Datenerhebungssystemen am häufigsten ermittelten Femizide sind Partnerfemizide. 18 Mitgliedstaaten haben auf die EIGE-Anfrage keine Klassifizierung gemeldet.
Nur etwa die Hälfte der EU-Staaten benutzt die von der UNO vorgeschlagene Definition von Femizid und das Indikatorensystem bei der Protokollierung von Tötungsmethoden und Tatort. Nur in manchen EU-Staaten werden sexuelle Motivation, frühere Gewalt in der Partnerschaft und vorausgegangene Anzeigen oder einstweilige Verfügungen gegen den Täter registriert.
Die nationalen Datenerhebungen unterscheiden sich insgesamt stark voneinander. NGOs und öffentliche Einrichtungen verfügen in einigen EU-Ländern über genaue und umfassende Datenerfassungssysteme, während andere weniger aussagekräftig sind. Dies beeinträchtigt die Qualität der Daten und insbesondere ihre Vergleichbarkeit. Aus diesen Gründen fordert EIGE für die EU, einen Katalog von Indikatoren zur Identifikation von Femiziden zu vereinbaren.
Count it
Um alle Typen von Femiziden erfassen zu können, schlagen Expert*innen vor, drei Schritte der Datengewinnung und -verwaltung in allen EU-Staaten zu implementieren: Erstens sollte eine Auswertung von Verwaltungsdaten – von Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichten oder Medien – vorgenommen werden.
EIGE schlägt in einem ersten Schritt vor, dass sich alle EU-Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Definition von Femizid einigen als jede Tötung einer Frau in einer geschlechtsspezifischen Situation und/oder in einer geschlechtsspezifischen Struktur von Ungleichheit und Herrschaft. Darauf aufbauend sollten vergleichbare und disaggregierte Daten in administrativen Datenerfassungssystemen gesammelt werden.
EIGE empfiehlt, dass für die administrative Datenerhebung bei Tötungsdelikten an Frauen und Mädchen zumindest folgende Fragen beantwortet werden sollten:
Wer waren Täter und Opfer? Zu den Daten zählen Geschlecht, Alter, Geburtsort, Nationalität, Bildungsgrad, Beruf, Wohnort, Migrationshintergrund, ethnische Zugehörigkeit, beim Opfer außerdem noch Schwangerschaft, Kinder, Behinderung, sexuelle Orientierung. Informationen über den Täter sollten psychische Krankheiten, Alkoholmissbrauch oder Wohnungsprobleme und die Verfügbarkeit von Waffen, aber auch frühere Vorfälle von (häuslicher) Gewalt oder Vorstrafen umfassen.
In welcher Beziehung standen Opfer und Täter zueinander? Waren sie beispielsweise Partner oder Ex-Partner? Fand die Tötung nach einer Trennung statt? Handelte es sich beim Täter um den Sohn oder ein sonstiges männliches Familienmitglied oder um einen Fremden? Lagen geschlechtsspezifische Ungleichheiten und Abhängigkeiten zwischen Opfer und Täter vor?
Wie zeigte sich die Frauenfeindlichkeit des Täters sowie das Machtgefälle zwischen Opfer und Täter?
In welchem Kontext ereignete sich die Tötung? An welchem Ort fand sie statt? Handelte es sich um einen Mord im Rahmen einer anderen Straftat wie zum Beispiel Raub?
Wie war der Modus Operandi? Hierzu zählen Mittel und Mechanismen der Tötung wie Übertötung, Kinder als Zeugen, getötete Kinder.
Gab es einen sexuellen oder sexualisierten Gewaltkontext wie Sexarbeit oder Kontexte weiblicher Genitalbeschneidung?
Als zusätzliche Indikatoren schlägt EIGE vor, den intersektionalen Hintergrund von Opfer und Täter zu protokollieren wie Alter, Ethnizität, Nationalität, staatsbürgerlicher Status, Klasse, Religion, sexuelle Orientierung und Geschlechteridentität. Um Morde an lesbischen und bisexuellen oder Transgender-Personen zu beleuchten,
End it
Wie können eine einheitliche Definition und eine verbesserte Datenerfassung und -verwaltung zur Verhinderung von Femiziden beitragen? Sollten diese Maßnahmen zu einer Kodifizierung der expliziten Strafbarkeit von Femiziden in den Strafgesetzbüchern führen? In Europa gibt es in keinem Land einen ausdrücklichen Straftatbestand des Femizids.