"Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem (Ex-)Partner getötet, jeden Tag versucht es einer." Auf diese Tatsache wird aktuell häufig verwiesen, um auf Femizide aufmerksam zu machen.
Kleine Begriffsgeschichte
Heutige Verwendungen des Begriffs "Femizid" (englisch: femicide) beziehen sich meist auf die feministische Soziologin Diana E. H. Russell, die ihn beim Internationalen Tribunal gegen Gewalt an Frauen 1976 einführte.
Umfassende gesellschaftspolitische Bedeutung erlangte der Ausdruck insbesondere in Lateinamerika, wo er ab den 1990er Jahren von feministischen Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aufgegriffen, als femicidio oder feminicidio ins Spanische übersetzt und konzeptionell weiterentwickelt wurde.
In den 1990er Jahren gab es etwa in Costa Rica und Brasilien basierend auf Russells Konzept erste Forschungen zu Femiziden.
Die mexikanische Anthropologin und Kongressabgeordnete Marcela Lagarde erweiterte vor diesem Hintergrund Russells Definition und hob hervor, dass feminicidio nur die "Spitze des Eisberges" und die Folge struktureller und institutioneller Gewalt gegen Frauen und Mädchen darstelle, was die Straflosigkeit der Täter einschließe.
Familienangehörige der Opfer in Ciudad Juárez brachten ihren Protest bis vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser stellte 2009 im Fall "Campo Algodonero" fest, dass der mexikanische Staat die Menschenrechte der getöteten Frauen verletzt habe. Das vorherrschende Klima der Straflosigkeit normalisiere Gewalt gegen Frauen und trage dazu bei, dass diese weiterhin ausgeübt werde.
Die meisten lateinamerikanischen Autor*innen analysieren tödliche Gewalt gegen Frauen in einem engen Zusammenhang mit neoliberal-kapitalistischen, kolonial-rassistischen und heteronormativen Strukturen.
Inspiriert von Lateinamerika begannen Feminist*innen unter anderem in Spanien, Italien und Frankreich von Femiziden beziehungsweise Feminiziden zu sprechen. Stark in Europa wahrgenommen wurde die Bewegung Ni Una Menos, die ab 2015 massive Proteste in Argentinien mobilisierte.
Geschlechtsbezogene Gewalt gegen Frauen
Die unterschiedlichen Definitionen haben gemeinsam, dass sie Femizid als extreme Form von geschlechtsbezogener Gewalt gegen Frauen verstehen. Femizide stehen demnach in einem "Kontinuum" mit anderen, auch strukturellen Gewaltformen, die teils fließend ineinander übergehen, denselben Ursprung und ähnliche Funktionen haben.
Um geschlechtsbezogene Gewalt zu erfassen, muss Geschlecht als soziokulturelles Konstrukt (Gender) in einer binären Ordnung verstanden werden, die nur zwei Geschlechter kennt, die sich heterosexuell aufeinander beziehen sollen. Frauen beziehungsweise als weiblich definierte Personen sowie weiblich definierte Eigenschaften werden abgewertet und "dem Männlichen" untergeordnet. Dieses historisch gewachsene strukturelle Machtungleichgewicht zwischen Männern und Frauen wird als patriarchal bezeichnet. Geschlechtsbezogene Gewalt hält dieses Geschlechterverhältnis aufrecht, indem Abweichungen von Geschlechternormen sanktioniert werden. Insbesondere Frauen und Personen, die nicht ins binär-heteronormative System passen, sind von dieser Art von Gewalt betroffen.
Die Anthropologin Rita Segato nennt in diesem Zusammenhang die "zwei Gesetze des Patriarchats": das Gesetz der Kontrolle und des Besitzes des weiblichen Körpers und das Gesetz der männlichen Überlegenheit.
In Anlehnung an das Verständnis geschlechtsbezogener Gewalt als Diskriminierung lässt sich argumentieren, dass mit dem Femizidbegriff auf Sexismus beziehungsweise Misogynie im Kontext tödlicher Gewalt gegen Frauen aufmerksam gemacht wird. Dieser Sexismus kann sich in unterschiedlichen Dimensionen manifestieren.
Auf individueller Ebene können sich explizit frauenverachtende oder sexistische Motive zeigen.
Für eine kriminologisch-empirische Betrachtung reicht eine solch enge Definition allerdings nicht aus. Gleichzeitig können nicht alle Tötungen von Frauen Femizide sein, sondern nur jene, in denen Sexismus oder eine Abwertung von Weiblichkeit gefunden werden können. Ausgehend von einer Definition von Femiziden als geschlechtsbezogene Tötungsdelikte an weiblich definierten Personen stellen wir im Folgenden jene Ausprägungen dar, die für den deutschen Kontext relevant sind.
Ausprägungen von Femiziden
Auf Motivebene sind Tötungen am offensichtlichsten als Femizide einzuordnen, bei denen die Täter*innen ihren Frauenhass deutlich vermitteln. Diese Femizide sind als Hassverbrechen zu verstehen, bei denen die Opfer allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Kollektiv "Frauen" ausgewählt werden.
Eine weitere Form geschlechtsbezogener Hassverbrechen sind Tötungen aufgrund der Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung. Gewalt gegen LSBTIQ*-Personen kann als Bestrafung für die Abweichung von der Heteronorm erfolgen und gleichzeitig als doing masculinity, also zur Bestärkung von Männlichkeit dienen.
Wird die Tatausführung betrachtet, drückt sich Misogynie insbesondere in sexualisierter Gewalt aus. Dabei ist zu unterscheiden zwischen sexuell beziehungsweise sadistisch motivierten "Sexualmorden" und sexualisierter Gewalt im Zusammenhang mit Taten, denen primär andere Motive zugrunde liegen, wie etwa Raub. Für Deutschland zeigt die Juristin Dagmar Oberlies, dass circa 20 Prozent der von ihr untersuchten Tötungsdelikte von Männern an Frauen im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt standen.
Ein weiterer Kontext, in dem sexistische Bezüge naheliegen, sind Tötungen im Zusammenhang mit Sexarbeit. Wenn Frauen als konsumierbare Sexualobjekte oder Sexarbeiterinnen als moralisch "schlechte Frauen" betrachtet werden, scheint Gewalt gegen sie legitim. Einer Studie in Deutschland zufolge sind sie von allen erfassten Gewaltformen deutlich häufiger betroffen als andere Frauen.
Femizide können sich auch hinter sogenannten Ehrenmorden verbergen. Damit sind Tötungen gemeint, die zur Wiederherstellung einer vermeintlichen "Familienehre" begangen werden. Diese wird durch die Verletzung von Verhaltensnormen, die an Frauen und Mädchen gerichtet sind, als gefährdet angesehen. Diese Normen beziehen sich im Wesentlichen auf sexuelle Zurückhaltung, sodass vor- und außereheliche sexuelle Beziehungen, Interaktionen mit männlichen Personen außerhalb der Familie oder Autonomiebestrebungen als Affront gegen die Familie aufgefasst werden können. Es wird als Aufgabe der männlichen Familienmitglieder angesehen, die Frau beziehungsweise das Mädchen dafür zu bestrafen.
Auf den ersten Blick scheint westlich geprägten Gesellschaften die Vorstellung, dass nonkonformes weibliches Verhalten zu einem Ehrverlust anderer Personen führt, fremd zu sein. Die Juristin Nancy V. Baker und ihre Kolleg*innen zeigen jedoch auf, dass auch bei Tötungen von Partnerinnen Ehrkonzepte eine wesentliche Rolle spielen und sich lediglich der Bezugspunkt von Ehre verändert habe. Während sich Ehre in als traditionell bezeichneten Kontexten auf die Familie beziehe, betreffe sie in individualisierten Gesellschaften den einzelnen Mann. Der dahinterstehende Mechanismus sei jedoch im Wesentlichen derselbe. In beiden Fällen führe die Verletzung bestimmter Regeln durch eine weibliche Person zur "Schande" ihres Partners beziehungsweise ihrer männlichen Familienmitglieder, welche durch die Bestrafung – im Extremfall Tötung – der Frau beseitigt werden könne. Der Unterschied liege lediglich in der Beteiligung der Gemeinschaft an der Kontrolle und Sanktionierung der Frau.
Während "Ehrenmorde" im engeren Sinne in Deutschland sehr selten sind (schätzungsweise maximal drei Fälle pro Jahr), sind Frauentötungen im Kontext heterosexueller Paarbeziehungen die wohl häufigste Form von Femiziden.
"Ehrenmorde" und "Beziehungstaten" erfolgen am häufigsten, wenn die Frau beziehungsweise das Mädchen die Trennung vom Partner beabsichtigt und eine autonome Entscheidung über ihr Leben trifft. Eine überbetonte Unterscheidung zwischen diesen Femizidformen ist daher wenig zielführend: Die zugrundeliegende Motivation hat den gleichen Ursprung. Dennoch wird in der deutschen Medienberichterstattung anhand von Narrativen, die Gewalt gegen Frauen kulturalisieren, eine vermeintlich klare Grenze zwischen der "muslimischen Einwanderungsgesellschaft" und der "deutschen Mehrheitsgesellschaft" gezogen: "Ehrenmorde" wurzeln angeblich in den rückständigen und patriarchalen Traditionen von Migrant*innen, wohingegen deutsche Täter vermeintlich nicht vor dem Hintergrund einer sozialen und kulturellen Geschlechterungleichheit handeln, sondern im Kontext individueller "Beziehungsdramen".
Femizide im deutschen Strafrecht
In jüngerer Zeit wird vermehrt die Frage aufgeworfen, ob bei der strafrechtlichen Aufarbeitung von Femiziden der Geschlechtsbezug der Taten beziehungsweise deren sexistische Hintergründe ausreichend berücksichtigt werden. In Lateinamerika hat insbesondere die unzureichende Strafverfolgung zur Schaffung von Straftatbeständen geführt, die Femizide als spezifisches Delikt erfassen.
Häufig hängt das mit der Abgrenzung von Mord (§211 Strafgesetzbuch) und Totschlag (§212 Strafgesetzbuch) im deutschen Strafrecht zusammen. Für einen Totschlag ist erforderlich, dass ein anderer Mensch vorsätzlich getötet wird. Die Strafe liegt zwischen fünf und 15 Jahren Freiheitsstrafe. Für die Einstufung als Mord hingegen muss zusätzlich eines der in §211 Absatz 2 Strafgesetzbuch aufgezählten Mordmerkmale erfüllt sein. Wer zum Beispiel "heimtückisch" oder "aus niedrigen Beweggründen" tötet, wird wegen Mordes und dann grundsätzlich zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.
Eine Schräglage erkennt Dagmar Oberlies beispielsweise in der Auslegung des Mordmerkmals "Heimtücke", da diese "das Recht des Stärkeren" privilegiere.
Im Zentrum der aktuellen Debatte steht allerdings die Bewertung der Beweggründe als "niedrig" im Sinne des §211 Absatz 2 Variante 4 Strafgesetzbuch. Ein Beweggrund ist niedrig, wenn er "nach sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist" – ein freilich sehr unbestimmter Rechtsbegriff.
Hass auf das weibliche Geschlecht im oben beschriebenen Sinne ist ein solcher niedriger Beweggrund.
Problematische Tendenzen beschreiben auch die Rechtswissenschaftlerinnen Lena Foljanty und Ulrike Lembke bei der justiziellen Verarbeitung in einem Vergleich von Partnerschaftstötungen mit Fällen, die als "Ehrenmorde" gelabelt wurden. Während sich Landgerichte bei "Ehrenmorden" ausführlich mit dem kulturellen Werdegang, jedoch kaum mit der individuellen Motivation des Täters auseinandersetzen, stehen bei Partnerschaftstötungen wie gezeigt die individuellen Befindlichkeiten des Täters im Mittelpunkt.
Um diese Probleme anzugehen, liegt aktuell ein Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium vor, der §46 Absatz 2 Seite 2 Strafgesetzbuch reformieren soll. In §46 Strafgesetzbuch sind die allgemeinen Regeln zur Strafzumessung enthalten. Geplant ist, sogenannte geschlechtsspezifische Beweggründe explizit unter die menschenverachtenden Beweggründe zu fassen. Allerdings soll die Änderung auch auf die Auslegung des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe einwirken. Geschlechtsspezifische Beweggründe sind demnach mehr als Frauenhass im engeren Sinne: Diese sollen auch vorliegen, wenn die ausgeübte Gewalt "Ausdruck eines patriarchalischen Herrschafts- und Besitzanspruches" gegenüber dem Opfer ist.
Fazit
Der Begriff "Femizid" verweist auf unterschiedliche Formen und Ausprägungen von Sexismus im Kontext tödlicher Gewalt gegen Frauen. Dabei wird er verschiedentlich definiert und verwendet, weshalb ein Hinweis auf den jeweiligen Kontext unumgänglich ist, um Missverständnissen vorzubeugen. Während bei einer aktivistischen Verwendung strukturelle Aspekte im Vordergrund stehen, kommt es bei der strafrechtlichen Verarbeitung immer auf individuelles Verhalten an und wie sich darin frauenfeindliche Motive wiederfinden lassen. Die strafrechtliche Logik tut sich dabei schwer, strukturelle Hintergründe und Machtverhältnisse zu berücksichtigen. Das Strafrecht bietet sich deshalb nicht als bestes Mittel an, um geschlechtsbezogene Gewalt und damit Femizide zu verhindern. Da Femizide nur die "Spitze des Eisberges" darstellen, muss viel früher angesetzt werden: Neben einem konsequenten Gewaltschutz braucht es grundlegende Transformationen im Geschlechterverhältnis, die allen Personen unabhängig von ihrem Geschlecht ein freies Leben als gleichwertige Personen ermöglichen.