Von Fachkrafttätigkeiten spricht man, wenn für die Ausübung eines Berufs ein mindestens voll qualifizierender Berufsabschluss erforderlich ist. Fachkräfte sind somit eine spezifische Teilgruppe der Erwerbstätigen. Unerfüllte Fachkräftebedarfe, sogenannte Fachkräftelücken oder -engpässe, sind häufig das Ergebnis eines Marktprozesses – und damit zum Teil auch das Ergebnis unerfüllter Wünsche. Arbeitgeber können in Stellenanzeigen ihre Erwartungen an die Fähigkeiten der Bewerber/-innen formulieren und bestimmte Arbeitsbedingungen anbieten. Potenzielle Arbeitskräfte können diese Fähigkeitsvorstellungen in unterschiedlichem Maße erfüllen oder auch andere Vorstellungen von den Arbeitsbedingungen haben.
Warum gibt es Fachkräfteengpässe?
Abseits dieser Anpassungsmechanismen können am Arbeitsmarkt aber auch Trends beobachtet werden, die Engpässe in bestimmten Berufen hervorrufen. In den Gesundheitsberufen und der Informations- und Telekommunikationstechnologie etwa beobachten wir ein starkes Wachstum der Erwerbstätigennachfrage. Hier steigt zwar auch das entsprechend qualifizierte Arbeitsangebot, es könnten aber deutlich mehr Personen eingestellt werden, als derzeit zur Verfügung stehen. Anders ist es in den Handwerksberufen und den technischen Produktionsberufen: Hier geht die Nachfrage nach diesen Tätigkeiten langfristig zurück. Durch das Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Arbeitsmarkt sinkt das Angebot an entsprechend qualifizierten Personen in einigen dieser Berufe jedoch schneller als der Bedarf der Wirtschaft.
Wenn wir von Fachkräfteengpässen sprechen, nehmen wir automatisch den Blickwinkel des Arbeitgebers ein. Für diesen erleichtert ein höheres Angebot an Fachkräften die Auswahl, weshalb aus seiner Sicht Fachkräftezuwanderung eine naheliegende Lösung ist. Tatsächlich wird die reine Fokussierung auf Zuwanderung die Engpassproblematik am Arbeitsmarkt jedoch nicht zufriedenstellend lösen können, wenn sie nicht von einer entsprechenden (inklusiven) Bildungspolitik begleitet wird.
Sinkendes Arbeitsangebot und Passungsprobleme
In den kommenden Jahren werden voraussichtlich mehr Menschen nach Deutschland zu- als abwandern.
Bereits heute sehen wir am Arbeitsmarkt aber nicht nur Fachkräfteengpässe, sondern in einzelnen Berufen auch Fachkräfteüberhänge.
Im Folgenden werden zunächst die wichtigsten Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre im Bildungssystem beleuchtet und anhand dieser aufgezeigt, welche Folgen eine Fortsetzung dieser Trends für die Fachkräftesicherung hätte. Anschließend werden Stellschrauben identifiziert, die Ansatzpunkte für politisches Handeln bieten können.
Bildungstrends
Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Schulabgänger/-innen aus allgemeinbildenden Schulen sowie der Anfänger/-innen im dualen System
Die zunehmende Anzahl an Abiturientinnen und Abiturienten überträgt sich auch auf die Zahl der Studienanfänger/-innen. Begannen im Studienjahr 2000 nur 315.000 Personen ein Studium, waren es – nicht zuletzt wegen der doppelten Abiturientenjahrgänge aufgrund der Einführung von G8 – im Jahr 2011 rund 519.000 Personen. Seitdem lag die Zahl der Studienanfänger/-innen bis zum demografischen Einbruch 2020 infolge der Coronapandemie bei über 500.000 Personen.
Das duale System stellt weiterhin den größten Teil der Auszubildenden für eine Berufsausbildung. Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge sank von rund 622.000 im Jahr 2000 auf rund 467.000 im Jahr 2020. Seitdem liegt die Zahl der Ausbildungs- und Studienanfänger/-innen nah beieinander, es ist keine weitere Abkehr der Jugendlichen vom dualen System erkennbar. Dies verdeutlicht auch der zunehmende Anteil von Personen mit einer Hochschulzugangsberechtigung an den Anfängerinnen und Anfängern im dualen System.
(© Fachserie 11, Reihe 1, 2 und 3 (ab 2021 Statistische Berichte) des Statistischen Bundesamtes für die Jahre 2000 bis 2022, eigene Berechnungen)
(© Fachserie 11, Reihe 1, 2 und 3 (ab 2021 Statistische Berichte) des Statistischen Bundesamtes für die Jahre 2000 bis 2022, eigene Berechnungen)
Für die Fachkräftesicherung ist aber nicht nur entscheidend, wie viele Menschen in das berufliche und akademische Bildungssystem eintreten, sondern auch, wie viele es erfolgreich abschließen. Die Erfolgsquoten in den Bildungsstätten sind ohne Bildungsverlaufsstatistiken nur schwer abzuschätzen, da die Lösung eines Ausbildungsvertrages oder der Abbruch eines Studiums immer auch mit einem Neuabschluss eines Ausbildungsvertrags in einem anderen Betrieb oder einem Ausbildungs-
Der geringste Unterschied zwischen Deutschen und Nichtdeutschen zeigt sich in den Schulen des Gesundheitswesens, die insgesamt auch die höchsten Erfolgsquoten aufweisen. Den Fachschulen, als Einrichtungen der beruflichen Weiterbildung, gelingt es, die Lücke zwischen Deutschen und Nichtdeutschen von rund acht Prozentpunkten 2010 auf rund fünf Prozentpunkte 2022 fast zu halbieren. Auch den Berufsfachschulen gelingt zwischen 2000 und 2022 eine Halbierung der Erfolgsquotenlücke von 16 auf acht Prozentpunkte. In beiden Schulformen lässt sich in den vergangenen Jahren auch insgesamt eine Steigerung der Erfolgsquoten feststellen.
Bei Fachoberschulen und im dualen System konnte die Erfolgsquote von Personen nichtdeutscher Herkunft bis zu Beginn der 2010er Jahre erhöht werden, seitdem nimmt sie aber wieder kontinuierlich ab. Lediglich in den Fachgymnasien sind die Erfolgsquoten sowohl bei Deutschen als auch bei Nichtdeutschen generell rückläufig. Auffällig ist zudem, dass auch Deutsche im dualen System Probleme haben, ihre Ausbildung erfolgreich zu Ende zu führen. Im Schnitt verlassen hier weniger als vier von fünf Personen die berufliche Schule mit einem Abschluss, bei den nichtdeutschen sind es sogar nur drei von fünf.
Dies hat langfristige Folgen. So ist die Zahl der jungen Erwachsenen ohne formalen Berufsabschluss im Alter von 20 bis unter 35 Jahren in den vergangenen Jahren angestiegen. 2022 waren dies 2,9 Millionen Personen – und damit der höchste Wert seit mehr als 25 Jahren. Der Anteil dieser Gruppe war bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund (38,1 Prozent) dreimal so hoch wie bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (12,7 Prozent).
Bis zum Jahr 2040 wird der Anteil der ausländischen Bevölkerung aufgrund der zu erwartenden Wanderungsgewinne voraussichtlich weiter ansteigen.
Berücksichtigt man die Forschungslage hinsichtlich der individuellen Merkmale der Auszubildenden, so lässt sich zusammenfassen, dass vor allem "Auszubildende mit einem niedrigen Schulabschluss, die aus einem Elternhaus mit geringen Bildungsressourcen und niedrigem sozioökonomischen Status stammen, ein besonders hohes Risiko [aufweisen], ihre Ausbildung vorzeitig zu beenden".
Bei allen Abschlussarten hat somit der Anteil von Personen ohne voll beruflich qualifizierenden Abschluss zugenommen. Nach wie vor ist er umso höher, je niedriger der allgemeinbildende Schulabschluss ist. Trotz des zunehmenden Anteils an Studienberechtigten in der dualen Ausbildung kann aber nicht von einem Verdrängungsprozess am Ausbildungsmarkt gesprochen werden. Denn Studienberechtigte interessieren sich in der Regel für andere Berufe als Personen mit niedrigeren Schulabschlüssen.
Zukünftige Fachkräfteengpässe am Arbeitsmarkt sind vor allem dort zu erwarten, wo Betriebe bereits heute Probleme haben, ihre Ausbildungsstellen zu besetzen.
Lösungsansätze
Die aufgezeigten Entwicklungen zeigen, dass Lösungen vor allem dazu führen müssen, die Erfolgschancen im Bildungssystem zu steigern – nicht nur, aber vor allem bei Personen ausländischer Herkunft, deren Anteil in den kommenden Jahren voraussichtlich zunehmen wird. Wenn es gelingt, die Abbruchquoten in den beruflichen und akademischen Bildungsstätten bis zum Jahr 2040 zu halbieren, könnten über eine Million zusätzliche Fachkräfte gewonnen werden.
Ansatzpunkt hierfür ist die oft mangelhafte Berufsorientierung von Jugendlichen. Ziel muss es sein, die Wünsche der Jugendlichen mit denen der Wirtschaft in Einklang zu bringen. Auch wenn über die tatsächlichen kausalen Effekte der Berufsorientierung auf die Passungsproblematik kaum wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen,
Für neu Zugewanderte ist zweitens das Erlernen der deutschen Sprache unerlässlich. Dies zeigt nahezu jede Forschungsarbeit zur Integration von nichtdeutschen Personen in den Arbeitsmarkt. Die Angebote hierfür müssen niedrigschwellig sein und für neu Zugezogene möglichst früh beginnen – und zwar auch dann, wenn der rechtliche Zuzugsgrund nicht arbeitsmarkt-, sondern fluchtbezogen ist. Zwar zieht langfristig jede zweite nach Deutschland zugezogene Person wieder fort,
Für Kinder von Migrantinnen und Migranten ist drittens bekannt, dass sie in institutionalisierten Kontexten größere Lernerfolge beim Spracherwerb zeigen.
Herausforderungen für die Schulen
Mit zunehmendem Anteil nichtdeutscher Jugendlicher werden auch die Herausforderungen für die allgemeinbildenden Schulen steigen. Die ungleichen Erfolgschancen in den beruflichen Schulen zwischen Deutschen und Nichtdeutschen zeigen sich bereits in den allgemeinbildenden Schulen. So hat etwa die Deutschkompetenz unter den Schüler/-innen der neunten Klasse in den allgemeinbildenden Schulen seit 2009 abgenommen, und zwar sowohl unter Personen mit Zuwanderungshintergrund, deren Anteil im Zeitverlauf zugenommen hat, als auch unter Personen ohne Zuwanderungshintergrund. Zugleich ist der Abstand in der Deutschkompetenz zwischen beiden Gruppen gewachsen.
An den beruflichen Schulen zeigt sich, dass die Integrationsfähigkeit des dualen Systems an Grenzen zu stoßen scheint. Es gelingt den Betrieben, Praxen und Verwaltungen immer schlechter, die einmal unter Vertrag genommenen Jugendlichen zu einem Abschluss zu führen. Und während zu Beginn der 2000er Jahre, in der Blütezeit des "Übergangssystems", Betriebe noch unter mehreren Jugendlichen auswählen konnten, ist das vielfach nicht mehr der Fall. Dennoch können die Veränderungen in den Erfolgsquoten nicht nur über die (Selbst-)Selektionsmechanismen der Jugendlichen erklärt werden. Denn blickt man auf die Unterschiede in den Erfolgsquoten zwischen den Bildungsstätten, stellt man fest, dass die Erfolgsquoten in den – landesrechtlich geregelten – Berufsfachschulen in der jüngeren Vergangenheit sogar angestiegen sind. Was auffällt: Die dort angebotenen Bildungsgänge sind im Schnitt etwas kürzer als im dualen System.
Eventuell könnte eine Ausweitung von Teilqualifizierungen im dualen System den Anteil der erfolgreichen Abgänge erhöhen. Das volle Spektrum berufsfachlicher Kompetenzen wird für den selbstständigen Einsatz in Unternehmen nicht immer benötigt. Für Jugendliche mit geringeren schulischen Vorkenntnissen hätte eine Teilqualifizierung den Vorteil, dass Komplexität, die häufig zu einem Ausbildungsabbruch führt, verringert würde,
Die Attraktivität von Bildungsangeboten lässt sich aber nicht per Dekret verordnen. Gerade wenn über Teilqualifizierungen auf dem Weg zu einem vollqualifizierenden Berufsabschluss gesprochen wird, muss für die Beteiligten klar sein, dass sich eine Weiterführung des Bildungsweges auch monetär lohnen kann: Verspricht der Beruf geringe Einkommen, ist ein Ausbildungsabbruch wahrscheinlicher.
Pädagogische Unterstützung und Flexibilität
Die größten Erfolgswahrscheinlichkeiten für einen Bildungsabschluss bieten unter den beruflichen Schulen die Schulen des Gesundheitswesens. Dies mag einerseits an den Fähigkeiten der Jugendlichen liegen. Es könnte andererseits aber auch auf die pädagogische Ausstattung der Bildungsgänge im Gesundheitswesen zurückzuführen sein, in denen die Anforderungen an das betriebliche Bildungspersonal vergleichsweise hoch sind. Zudem verbringen die Auszubildenden trotz hoher Praxisanteile mehr Zeitanteile in den Schulen und damit bei pädagogisch geschultem Personal. Womöglich sollte also über eine Stärkung der pädagogischen Ausstattung in der beruflichen Ausbildung nachgedacht werden. Denn wenn die Leistungsfähigkeit der Jugendlichen aus Sicht der Betriebe abnimmt, muss die pädagogische Kompetenz des Ausbildungspersonals gestärkt werden, um die Faktoren, die häufig zu Ausbildungsabbrüchen führen – mangelnde Freude an der Arbeit, körperliche Überlastung – zu reduzieren.
Wenn der Ausbildungsaufwand für die betriebliche Seite steigt, könnte darüber nachgedacht werden, die Mehrkosten durch Dritte abzufangen, wie zum Beispiel bei der "assistierten Ausbildung", bei der Externe für die Betriebe das Ausbildungsmanagement übernehmen und den Jugendlichen auch als Ansprechpartner zur Verfügung stehen.
Zur Heterogenität des dualen Systems gehört, dass es neben seiner sozial-inklusiven Komponente, die in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird, auch berufliche Aufstiege in einer Vielzahl von Tätigkeitsbereichen bietet, die von Jugendlichen mit unterschiedlichen schulischen Vorkenntnissen gewählt werden können. "Aufstiegsfortbildungen" ermöglichen die Chance der Selbstständigkeit und auch hohe Einkommen.
Eine gelebte Flexibilität ist auch zwischen den Bildungsstätten mit unterschiedlichen Länder- und Bundeszuständigkeiten sinnvoll. Aussteiger/-innen aus dem Studium müssen aufgefangen werden. Jugendliche, die nach der allgemeinbildenden Schule weniger auf die Art der später auszuübenden Tätigkeit als auf die Bildungsstätte fixiert sind, haben eventuell weniger Hemmnisse, sich zunächst für einen beruflichen Bildungsweg zu entscheiden, wenn die Möglichkeit des beruflichen Aufstiegs deutlich wird. Wenn die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt häufigere Bildungsanpassungen erfordern, dann sollten die bürokratischen Hemmschwellen dafür so gering wie möglich sein.