Auf dem Arbeitsmarkt fehlen Fachkräfte. Die Diskussion um die Fachkräftesituation wird dabei auch oft mit Verweis auf eine neue Arbeitsmoral der sogenannten Generation Z geführt, die nicht mehr bereit sei, sich leistungsorientiert in den Arbeitsmarkt einzubringen, und die aufgrund des Fachkräftebedarfs der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber ihre Vorstellungen von verkürzten Arbeitszeiten, Homeoffice und anderen Annehmlichkeiten mühelos durchsetzen könne. Fast selbstverständlich wird in solchen Debatten unterstellt, dass sich der Angebotsmarkt zu einem Bewerbermarkt gewandelt habe. Letzteres würde bedeuten, dass sich die Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit zugunsten der Beschäftigten verschoben hätten. Ein Blick auf die Situation der abhängig Beschäftigten bestätigt dies jedoch zunächst nicht. So hat die Inflation für diese Gruppe zu Reallohnverlusten geführt, und die Sorge um die eigene berufliche Zukunft nimmt nicht ab, sondern ist in den vergangenen vier Jahren bei etwa einem Sechstel der Beschäftigten stabil hoch.
In diesem Beitrag argumentieren wir, dass die berufliche Qualifizierung eine entscheidende Komponente ist, um das in Deutschland vorhandene Fachkräftepotenzial zu heben. Obwohl diese Einschätzung von Politik, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften geteilt wird, hat sich die Ungleichheit beim Zugang zu berufsqualifizierenden Abschlüssen in jüngster Zeit weiter verschärft. Maßnahmen wie die Ausbildungsplatzgarantie konnten nur gegen erheblichen Widerstand der Arbeitgeberseite durchgesetzt werden.
Im Folgenden werden die Hintergründe der aktuellen Fachkräftesituation beleuchtet und die Ursachen des Fachkräftemangels aufgezeigt. Am Beispiel des Zugangs zu berufsqualifizierenden Abschlüssen wird diskutiert, wie dies mit dem Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite zusammenhängt.
Mangel oder Engpass?
Um die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt besser verstehen zu können, ist es hilfreich, sich mit den Begrifflichkeiten auseinanderzusetzen. Gängig und vielen geläufig ist der Begriff "Fachkräftemangel", mit dem die Situation beschrieben wird, dass es generell zu wenige oder in gewisser Weise nicht passende Arbeitskräfte gibt. Ein Fachkräftemangel ist also nicht zwangsläufig das Ergebnis einer zu geringen Zahl von Erwerbspersonen, sondern auch von Passungsproblemen auf dem Arbeitsmarkt.
Die Situation erscheint paradox: Ende 2023 gab es 1,7 Millionen offene Stellen auf dem Arbeitsmarkt. Während der Coronapandemie war dieser Wert stark angestiegen. In jüngster Zeit ist er zwar leicht zurückgegangen, aber immer noch hoch. Gleichzeitig waren aber im Jahresdurchschnitt 2023 rund 2,6 Millionen Personen arbeitslos gemeldet – ein Wert, der angesichts des vieldiskutierten Bedarfs an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern äußerst hoch erscheint. Dies spricht eher für einen Fachkräftemangel als für einen Arbeitskräftemangel.
In Deutschland besteht derzeit kein flächendeckender Fachkräftemangel. Vielmehr stellt sich das Matching von Arbeitskräften und Arbeitsplätzen als regionale, qualifikatorische und/oder berufsspezifische Herausforderung dar. Die Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit identifiziert 200 Engpassberufe, in denen es mehrheitlich immer schwieriger wird, Fachkräfte zu finden. Dies gilt insbesondere für die Berufsgruppen der Pflege- und Medizinberufe, der Metall- und Elektroberufe, der IT-Berufe, aber auch der Lebensmittelverkaufsberufe und der Berufskraftfahrer. Allerdings ist die Zahl der Engpassberufe in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.
Eine wichtige Ursache für den Fachkräftemangel ist die demografische Entwicklung. Aufgrund der Alterung der Bevölkerung wird das inländische Erwerbspersonenpotenzial in den kommenden Jahren weiter zurückgehen. Ein Anstieg der Zahl der Erwerbspersonen ist nur noch auf Personen zurückzuführen, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, nur die Alterung der Bevölkerung in den Blick zu nehmen. Denn derzeit werden in Deutschland die vorhandenen Potenziale an Arbeitskräften nicht ausreichend mobilisiert. So ist die Teilzeitquote von Frauen nach wie vor sehr hoch.
Ein weiterer Hebel zur Hebung des Fachkräftepotenzials ist die Qualifizierung. Durch die starke Fokussierung auf die berufliche Weiterbildung gerät die äußerst problematische Entwicklung des Zugangs zu schulischer und beruflicher Bildung aus dem Blick: Betrachtet man die Entwicklung des Bildungsniveaus der Bevölkerung über mehrere Jahrzehnte, so zeigt sich eine problematische Konstante: Sowohl in den jüngeren als auch in den älteren Altersgruppen haben immer noch fünf Prozent der Bevölkerung keinen Schulabschluss.
Damit verbunden ist auch, dass sich die Probleme auf dem Ausbildungsmarkt weiter verschärft haben und die Passungsprobleme gerade in der Coronapandemie zugenommen haben. Vor dem Hintergrund, dass die Beteiligung an der dualen Ausbildung für viele Betriebe die zentrale Strategie zur Fachkräftesicherung ist, wiegen diese Probleme besonders schwer. Angesichts der hohen Bedeutung der dualen Berufsausbildung für viele Betriebe erscheint es kontraintuitiv, dass der Anteil der ausbildenden Betriebe stark rückläufig ist.
Neben diesen Ursachen, die auf Potenziale verweisen, die dem Arbeitsmarkt in Deutschland bereits zur Verfügung stünden, gibt es weitere Möglichkeiten, den demografisch bedingten Fachkräftemangel zu lindern. Vielversprechend ist insbesondere ein Blick auf Personengruppen aus dem Ausland.
Insgesamt wird deutlich, dass der Fachkräftemangel nicht zuletzt daraus resultiert, dass viele Potenziale der Beschäftigten nicht genutzt werden. Insbesondere im Segment der niedrig Qualifizierten zeichnet sich keine Ausweitung des Zugangs zu Qualifizierungen ab, die deren Position auf dem Arbeitsmarkt deutlich stärken würde. Der Fachkräftemangel führt also nicht automatisch zu einer Stärkung der Verhandlungsposition der Beschäftigten, insbesondere dann nicht, wenn es sich um ohnehin tendenziell benachteiligte Beschäftigungsgruppen handelt.
Sozialpartnerschaftliche Aushandlung
Folgende Beispiele zeigen jedoch, dass der Fachkräftemangel punktuell durchaus zu einer strukturellen Verbesserung der Arbeitssituation führen kann. Die Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt sind nicht zuletzt Ergebnis schlechter Ausbildungsbedingungen und unzureichender Ausbildungsvergütungen in einigen Berufen. Zwar wurde 2020 eine Mindestausbildungsvergütung von anfänglich 515 Euro eingeführt für Auszubildende, deren Ausbildungsbetrieb keiner Tarifbindung unterliegt. Auch wenn die Vergütung mit den Ausbildungsjahren schrittweise ansteigt und seit der Einführung im Jahr 2020 sukzessive auf heute 649 Euro angehoben wurde,
Die tariflichen Ausbildungsvergütungen werden im Rahmen der allgemeinen Tarifverhandlungen mitverhandelt. In den vergangenen Tarifrunden war das wesentliche Ziel der Forderungen, die Reallohneinbußen für Beschäftigte auszugleichen. Dies wurde zwar für Auszubildende mit einer durchschnittlichen Erhöhung der Ausbildungsvergütungen um 3,7 Prozent nicht ganz eingelöst,
Berechnungen auf Basis des WSI-Tarifarchivs zeigen, dass die tariflichen Ausbildungsvergütungen eine große Spannweite aufweisen.
Neben der sozialpartnerschaftlichen Aushandlung über das Tarifsystem ist die betriebliche Mitbestimmung eine zusätzliche bedeutsame Verhandlungsebene, wenn es um die Attraktivität der betrieblichen Ausbildung geht. Denn die Mitbestimmungsakteure können sich für eine bessere Ausbildungsqualität und bessere Ausbildungsbedingungen einsetzen, was zu einer höheren Zufriedenheit mit der betrieblichen Ausbildung beitragen kann. Daraus ergeben sich auch unmittelbare positive Effekte für den Ausbildungsbetrieb, die bei der Suche nach zukünftigen Fachkräften einen entscheidenden Beitrag leisten können: Weniger als die Hälfte der Auszubildenden in Betrieben ohne Interessenvertretung würde die Ausbildung in ihrem Betrieb weiterempfehlen, aber fast 70 Prozent der Jugendlichen, die ihre Ausbildung in Betrieben mit Jugend- und Auszubildendenvertretung absolvieren.
Auch für die Lohnentwicklung zeigt sich, dass sich der Fachkräftemangel nur dann in besseren Löhnen niederschlägt, wenn entsprechende institutionelle Rahmenbedingungen vorhanden sind. Insgesamt lässt sich nicht feststellen, dass die Löhne in den Bereichen, in denen der Fach- und Arbeitskräftemangel besonders ausgeprägt ist, besonders stark gestiegen sind. Zwar reflektiert die Lohnentwicklung, wie bei den Ausbildungsvergütungen, schlechte Entlohnung – dies führt aber nicht automatisch zu einer positiveren Lohnentwicklung. Ein genereller statistischer Zusammenhang zwischen Lohnentwicklung und Fachkräftenachfrage ist nicht erkennbar. Punktuell, beispielsweise bei Tarifabschlüssen im Wach- und Sicherheitsgewerbe, kam es jedoch zu deutlichen Lohnsteigerungen – mit explizitem Verweis auf eine Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit um Fachkräfte. Dies war allerdings nur möglich, wenn in der Branche funktionierende korporatistische Strukturen vorherrschten. Hierzu gehören zum einen eine kollektive Vertretung der Beschäftigten, aber auch Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitgeber, die in der Lage sind, im Interesse der gesamten Branche zu sprechen. Zudem erleichterte die Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Tarifabschlusses die Durchsetzung kräftiger Lohnerhöhungen.
Schluss
Die Fachkräftesituation in Deutschland erscheint paradox. Einerseits ist Qualifizierung der Schlüssel zur Behebung des Fachkräftemangels, andererseits ist die Zahl der Personen ohne Berufsabschluss in jüngster Zeit deutlich gestiegen. Engpässe auf dem Arbeitsmarkt führen nicht zu höheren Löhnen in diesen Bereichen, obwohl diese die entsprechenden Berufe deutlich attraktiver machen würden. Die aktuelle Lage auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt spricht also derzeit nicht dafür, dass sich allein die Situation eines Fachkräftemangels von selbst in veränderte Machtverhältnisse zwischen Arbeitgeberseite und Arbeitnehmerseite übersetzt. So zeichnet sich trotz des dringenden Bedarfs an qualifizierten Fachkräften eher eine Verschlechterung des Zugangs zu Qualifizierung ab. Dies scheint insbesondere ohnehin benachteiligte Beschäftigtengruppen wie Menschen mit Migrationshintergrund und Geringqualifizierte zu treffen. Auch bei der Lohnentwicklung zeigt sich kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Lohnentwicklung und Fachkräfteengpässen.
All dies macht deutlich, dass die aktuelle Fachkräftesituation kein Automatismus für Veränderungen ist. Sie führt nicht zwangsläufig zu mehr Mitsprache und besseren Arbeitsbedingungen. Mit Blick auf die Debatte um die Generation Z verdeutlichen die Befunde, dass trotz eines möglicherweise neuen Selbstbewusstseins insbesondere die Jüngeren weiterhin daran arbeiten müssen, ihre Interessen sichtbar zu machen und durchzusetzen. Dabei ist es wenig zielführend, die Auseinandersetzung um konkrete Verbesserungen der Arbeitssituation vieler Menschen wie Familienfreundlichkeit, Work-Life-Balance oder arbeitnehmerorientierte Flexibilität als Generationenkonflikt herbeizureden, nicht nur, weil die Datenlage diese Sichtweise nicht stützt.
Wenn Strukturen und Instrumente wie Tarifbindung oder Mitbestimmungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf kollektiver Ebene Veränderungen anstoßen, tragen sie dazu bei, die Situation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Auszubildenden deutlich zu verbessern. Statt an die Arbeitsmoral des Einzelnen zu appellieren, erscheint es daher notwendig, Strukturen in den Blick zu nehmen, die sicherstellen, dass das kollektive gesellschaftliche Interesse an qualifizierten Fachkräften nicht individuellen betrieblichen Interessen zum Opfer fällt. Die angeführten Beispiele zeigen, dass eine starke Tarifbindung eine solche Struktur bietet. Wenn Löhne und Investitionen in Qualifizierung kollektiv geregelt werden, wird ein Unterbietungswettbewerb zwischen Betrieben und Unternehmen verhindert und sichergestellt, dass diese die notwendigen Investitionen in Qualifizierung und gute Arbeitsbedingungen auch tatsächlich tätigen.