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Europa der Regionen? Wahlbeteiligung und Euroskepsis bei den Europawahlen

Matthias Diermeier Christian Oberst Samina Sultan

/ 14 Minuten zu lesen

Die regionale Analyse der Europawahlen zeigt eine zunehmende Mobilisierung der Euroskeptiker. Insbesondere am rechten Rand des Parteienspektrums hat die regionale Streuung zugenommen. Auch 2024 könnten die Euroskeptiker bei den Wahlen zulegen.

Vom 6. bis 9. Juni 2024 findet die zehnte Direktwahl zum Europäischen Parlament statt. Zwar wird die Europawahl voraussichtlich auch in diesem Jahr stark von der nationalen politischen Kultur, den länderspezifischen Diskursen sowie den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in jedem der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union geprägt sein. Aber auch die unterschiedlichen regionalen Perspektiven, Identitäten und kleinräumigen wirtschaftlichen Herausforderungen innerhalb eines Staates dürften das Wahlverhalten beeinflussen. Besonders ausgeprägt sind diese regionalen Differenzen in den mittel- und osteuropäischen Ländern, wo die Hauptstadtregionen zum Teil mehr als dreimal so wirtschaftsstark sind wie manche ländliche Gebiete innerhalb derselben Staatsgrenzen.

Die EU hat die Problematik der regionalen Unterschiede in ihren Mitgliedstaaten seit Langem erkannt und die regionale Perspektive mit dem Europäischen Ausschuss der Regionen im Vertrag von Maastricht 1992 formal institutionalisiert. In Artikel 174 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist das Ziel verankert, den Entwicklungsstand besonders benachteiligter Regionen zu verbessern. Bereits EU-Kommissionspräsident Jacques Delors (1985 bis 1995) setzte sich nachdrücklich für eine europäische Kohäsionspolitik als Gegengewicht zu den durch den Binnenmarkt zunehmenden regionalen Ungleichheiten ein. Tatsächlich ist ein erheblicher Teil der Kohäsions-Förderarchitektur im langfristigen EU-Haushalt 2021–2027 (insgesamt 30 Prozent beziehungsweise 330 Milliarden Euro) auf die regionale und nicht auf die nationale Ebene ausgerichtet. Gemäß der geografischen Systematik der EU orientiert sich diese Politik weitgehend an der sogenannten NUTS-2-Ebene, die auch der Bezugspunkt dieses Beitrags ist. Nuts-2-Regionen haben zwischen 800.000 und 3 Millionen Einwohner und umfassen beispielsweise in Deutschland Regierungsbezirke wie Oberbayern oder das Saarland, in Italien Regionen wie das Piemont oder Bozen-Südtirol, in Spanien autonome Gemeinschaften wie Galizien oder das Baskenland. Ausnahmen sind Malta und Luxemburg mit rund 500.000 bis 640.000 Einwohnern.

Ein Ziel der EU-Regionalpolitik ist es, die politische Verschärfung regionaler Fliehkräfte zu verhindern. Spätestens mit dem Brexit, der sich auch im vielschichtigen Widerstand gegen die ökonomische und kulturelle Vormachtstellung der City of London manifestierte, zeigt sich die Tragik dieser präventiven Regionalpolitik: In einigen der ärmsten Regionen des Vereinigten Königreichs mit der höchsten Förderintensität wie Cornwall oder South Yorkshire haben sich besonders viele Menschen für den Austritt aus der Staatengemeinschaft entschieden. Gleichzeitig konzentrieren sich die stärksten Gegner der europäischen Integration am rechten Rand des politischen Spektrums in den ärmsten Regionen der osteuropäischen Mitgliedstaaten – und das, obwohl dort die Fördermittel aus Brüssel am höchsten sind.

Diese Gemengelage hat den britischen Journalisten David Goodhart dazu veranlasst, eine nicht unumstrittene Dichotomie zwischen kommunitaristischen somewheres und kosmopolitischen anywheres zu diagnostizieren, die eine grundlegende Spaltung zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung nachzeichnen soll. Im Sinne dieser sozialräumlichen Spaltung wurde ein Gefälle der Bevölkerungsdichte, eine Geografie der Unzufriedenheit oder auch eine Rebellion der wirtschaftlich und kulturell unbedeutenden Orte festgestellt. In jüngster Zeit sind einige Beiträge erschienen, die sich mit dem zunehmenden Auseinanderdriften zwischen den sogenannten „Superstar-Städten“ und den restlichen Landesteilen befassen.

Die aus diesem Trend resultierende politische Entfremdung, so die Argumentation, schlage sich auch politisch nieder: zunächst in einer zunehmenden Wahlenthaltung in den entfremdeten Gebieten und schließlich in der Wahl extremer, populistischer oder systemfeindlicher Parteien. Für die Europawahlen kommt hinzu, dass es sich hierbei um eine Wahl zweiter Ordnung handelt, für die ein geringeres Interesse besteht und in der sich vor allem die aktuellen nationalen Konflikte widerspiegeln.

Im Folgenden werden die sechs Europawahlen zwischen 1994 und 2019 auf regionaler Ebene auf Grundlage der European NUTS-Level Election Database und der Daten zu den Einstellungen der Parteien aus der PopuList-Datenbank untersucht. Die Analyse von insgesamt 226 Regionen der NUTS-2-Ebene ermöglicht es, sowohl Unterschiede innerhalb der Nationalstaaten als auch Unterschiede zwischen den Nationalstaaten zu berücksichtigen. Eine Sonderstellung in Fragen der politischen Kultur nehmen die postsowjetischen EU-Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa ein, die in den vergangenen 20 Jahren der EU beigetreten sind. Sie werden im Folgenden als eine Ländergruppe behandelt. Malta und Zypern, die ebenfalls erst 2004 der EU beigetreten sind, werden als Mittelmeeranrainer nicht der Ländergruppe Mittel- und Osteuropa, sondern Nord-, Süd- und Westeuropa zugeordnet. Aus Gründen der Datenverfügbarkeit muss auf eine Analyse Sloweniens und Irlands, der Region Åland (Finnland) sowie des Vereinigten Königreichs, das mit dem Brexit-Referendum bereits 2016 den Weg aus der Staatengemeinschaft eingeschlagen hat, verzichtet werden.

Wiederentdeckung der Europawahl?

Bei den vergangenen sechs Europawahlen gab es große Unterschiede zwischen den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten und dem Rest der Staatengemeinschaft (Abbildung 1). Die Wahlbeteiligung in den Regionen der EU-Mitgliedstaaten Nord-, Süd- und Westeuropas sank im Median von rund 57,5 Prozent im Jahr 1994 auf 43,4 Prozent in den Jahren 2004 und 2009. Erst bei der Europawahl 2019 konnte mit 56,6 Prozent wieder ein deutlich höherer Anteil der Wahlberechtigten mobilisiert werden. Damit erreichte die Wahlbeteiligung erstmals wieder das Niveau von vor 25 Jahren.

Demgegenüber steht eine deutlich niedrigere regionale Wahlbeteiligung in den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten, die ab 2004 der EU beigetreten sind und dann sukzessive an den Europawahlen teilgenommen haben. 2004 lag der Anteil der gültigen Stimmen im Median der Regionen bei nur 23,4 Prozent und damit unter der niedrigsten Wahlbeteiligung, die 2004 in allen Regionen der „alten“ Mitgliedstaaten gemessen wurde. Im Durchschnitt lag die Mobilisierung in Mittel- und Osteuropa sogar um 20 Prozentpunkte niedriger. Erst für die Europawahlen 2019 konnte ein größerer Anteil der Wählerinnen und Wähler mobilisiert werden. Die durchschnittliche regionale Wahlbeteiligung stieg 2019 gegenüber 2014 um ganze 15 Prozentpunkte auf 40,5 Prozent – lag aber immer noch 16 Prozentpunkte unter der Wahlbeteiligung der übrigen Regionen der EU.

Um der Sonderstellung von EU-Wahlen im Vergleich zu nationalen Wahlen nachzugehen, können die Wahlbeteiligungen auf regionaler Ebenen verglichen werden. Bei der Europawahl 2019 lag die Wahlbeteiligung im vorliegenden regionalen Datensatz durchschnittlich 13 Prozentpunkte unter der Wahlbeteiligung der vorangegangenen nationalen Wahl – in vier von fünf Regionen war eine geringere Wahlbeteiligung zu verzeichnen. Besonders niedrig war die Mobilisierung im Vergleich zur vorangegangenen Parlamentswahl 2017 in einigen niederländischen Provinzen. Hier lag die Wahlbeteiligung teilweise mehr als 40 Prozentpunkte niedriger als bei der nationalen Wahl. Auch in den mittel- und osteuropäischen Staaten ist die Differenz mit durchschnittlich 17 Prozentpunkten groß. Eine Ausnahme bildet Polen mit einer vergleichsweise hohen Mobilisierung bei den Europawahlen 2019. Hier betrug die Differenz zwischen europäischer und nationaler Wahlbeteiligung im regionalen Durchschnitt nur 4 Prozentpunkte – bei den vorangegangenen Europawahlen lag sie noch bei rund 25 Prozentpunkten.

In den „neuen“ Mitgliedstaaten waren es durchweg die Hauptstadtregionen, die den größten Andrang zur Wahlurne verzeichneten. Zwischen 2004 und 2019 wechselten sich Budapest, Vilnius und schließlich Warschau an der Spitze ab. Die polnische Hauptstadt machte einen enormen Mobilisierungssprung. Die Wahlbeteiligung verdoppelte sich im Laufe der vier Europawahlen von 30 Prozent auf fast 60 Prozent; Warschau war damit die einzige Region in Mittel- und Osteuropa, die 2019 eine höhere Wahlbeteiligung verzeichnete als der Durchschnitt der Nord-Süd-West-Regionen. Zu den Gebieten mit der geringsten Mobilisierung zählten die ländlichen Regionen der Slowakei mit einer Wahlbeteiligung von nur 10 bis 20 Prozent. Wobei auch hier bei den Europawahlen 2019 ein starker Anstieg zu verzeichnen war und die Wahlbeteiligung im Vergleich zu 2014 um knapp 8 bis 9 Prozentpunkte zunahm.

Damit näherten sich die Schlusslichter der Wählermobilisierung in Mittel- und Osteuropa ihren Pendants in der übrigen EU an, wozu vor allem portugiesische Regionen wie die Algarve gehören, wo nur 25 bis 35 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl gingen. Auffällig ist, dass 1994 selbst die Hauptstadtregion um Lissabon mit 32 Prozent auf dem vorletzten Platz lag. Brandenburg verzeichnete bei den Wahlen 2004 und 2009 die niedrigste Wahlbeteiligung außerhalb Ost- und Mitteleuropas (26 beziehungsweise 29 Prozent). Im Gegensatz dazu erreicht die Wahlbeteiligung in einigen Regionen Belgiens und in Luxemburg knapp 85 Prozent.

Auch zwischen den Mitgliedstaaten gibt es große Unterschiede (Abbildung 2). Besonders hoch war die Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2019 in den dunkelblau eingefärbten Ländern Luxemburg (84 Prozent), Belgien (83 Prozent) und Malta (70 Prozent). Dagegen gingen in der Slowakei (22 Prozent), Kroatien (29 Prozent) und der Tschechischen Republik (29 Prozent) besonders wenige Menschen zur Wahl. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Belgien, Bulgarien, Luxemburg, Zypern und Griechenland eine Wahlpflicht besteht, die allerdings nur teilweise juristisch durchgesetzt wird. Zudem fanden in Belgien zeitgleich nationale Wahlen statt, was zu einer zusätzlichen Mobilisierung geführt haben dürfte.

Zusätzlich zu den nationalen Gemeinsamkeiten zeigen sich auch innerhalb der Länder Diskrepanzen. Besonders auffällig sind diese in Italien, wo die Wahlbeteiligung zwischen der Region Emilia-Romagna (65 Prozent) und Sardinien (36 Prozent) sowie Sizilien (35 Prozent) deutlich variiert. Auch wenn man die Ausreißer nach oben und unten außer Acht lässt und nur die mittleren 50 Prozent der Werte betrachtet, liegt Italien bei den regionalen Disparitäten an der Spitze der EU-Mitgliedstaaten: Mit 15 Prozentpunkten streuen diese Unterschiede in Italien noch stärker als in Spanien (10 Prozentpunkte) oder Österreich (7 Prozentpunkte). Die regionalen Differenzen in Deutschland liegen mit 3,5 Prozentpunkten erst an elfter Stelle. Auch der Unterschied zwischen der höchsten und der niedrigsten Wahlbeteiligung in Deutschland ist mit 12 Prozentpunkten zwischen dem Saarland (65 Prozent) und Sachsen-Anhalt (53 Prozent) moderat.

Deutliche Unterschiede zeigen sich auch in Polen, wo die Wahlbeteiligung von 60 Prozent in Warschau bis zu 37 Prozent in der Woiwodschaft Ermland-Masuren reicht. Die hohen Werte zeigen eine höhere europapolitische Partizipation in den Hauptstadtregionen. Dieser Effekt zeigt sich in Abbildung 2 als blaue „Hauptstadtflecken“ vor allem in den mittel- und osteuropäischen Ländern. Neben Warschau (15,6 Prozentpunkte mehr) weisen auch Budapest (10,3 Prozentpunkte), Prag und Bratislava (jeweils 9,4 Prozentpunkte) deutlich höhere Wahlbeteiligungen auf. Lediglich in der Hauptstadtregion um Brüssel (5,6 Prozentpunkte weniger), in Latium um Rom (minus 3,3 Prozentpunkte), in der Île-de-France (minus 1 Prozentpunkt) und in Berlin (minus 0,8 Prozentpunkte) ist die Differenz zum nationalen Durchschnitt leicht negativ. Die gerade in Mittel- und Osteuropa ausgeprägte hohe politische Partizipation in den wohlhabenden, kosmopolitischen Hauptstädten steht paradigmatisch für einen grundsätzlich positiven Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte und Wahlbeteiligung. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: Wenn wir es mit einer politischen Revolte der abgehängten Regionen zu tun haben, dann spiegelt sich diese – zumindest was die Wahlbeteiligung betrifft – bisher in einer stillen „Revolte an der Wahlurne“ im Sinne der Wahlabstinenz wider.

Politische Kluft

Politische Entfremdung kann sich neben der Wahlenthaltung auch in der Wahl von Anti-Establishment- oder systemkritischen Parteien äußern. Im Kontext der Europawahlen versammeln sich solche Parteien häufig unter dem Etikett des Euroskeptizismus. Die Vorbehalte gegen die europäische Integration finden sich sowohl im rechten als auch im linken Spektrum und zersplittert sich im Europäischen Parlament in verschiedene Fraktionen.

Bei der Betrachtung der Entwicklung der euroskeptischen Stimmenanteile ist erneut die Differenzierung nach Ländergruppen aufschlussreich (Abbildung 3). Euroskeptizismus ist keineswegs ein Phänomen der Regionen Mittel- und Osteuropas, sondern seit Langem im europäischen Parteienspektrum verankert. Schon zwischen 1994 und 2009 rangierte der durchschnittliche regionale Stimmenanteil von Euroskeptikern in Nord‑, Süd- und Westeuropa zwischen 7,5 und 10 Prozent. Zwar erzielten euroskeptische Parteien in den Regionen Mittel- und Osteuropas bei ihrer ersten EU-Wahl 2004 einen um 10 Prozentpunkte höheren Stimmenanteil, bei der Europawahl 2014 lagen die beiden Ländergruppen jedoch gleichauf: Hier wie dort wurde jede fünfte Stimme für eine euroskeptische Partei abgegeben.

Insbesondere in Südeuropa ist die Zunahme des Euroskeptizismus nicht zuletzt auf die EU-Staatsschuldenkrise und die damit einhergehende Austeritätspolitik zurückzuführen. Die größten Stimmenzuwächse für euroskeptische Parteien gab es in den Regionen Griechenlands und in den weniger wohlhabenden Regionen Süd- und Mittelitaliens wie Sardinien und den Abruzzen (rund 30 Prozent Zuwachs). Dies zeigt sich beispielsweise im Erstarken der linksgerichteten Parteien Syriza in Griechenland und Movimento 5 Stelle (M5S) in Süditalien. Aber auch der rechte Front National (heute Rassemblement National) reüssierte – vor allem in Nordfrankreich. In Mittel- und Osteuropa liegen die Regionen mit den höchsten Zuwächsen euroskeptischer Wähleranteile 2014 im Vergleich zu 2009 in Ungarn. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Fidesz-Partei unter ihrem Vorsitzenden Viktor Orbán seit 2010 zu den Euroskeptikern gezählt wird, nachdem sie in der Europapolitik auf einen dezidierten Konfrontationskurs mit der EU eingeschwenkt ist.

Bei den Europawahlen 2019 haben die regionalen Stimmenanteile euroskeptischer Parteien in Ost- und Mitteleuropa weiter zugenommen, während sie in den übrigen Mitgliedstaaten auf hohem Niveau stagnierten. Mit der Zunahme der Fluchtmigration in den Jahren 2015 und 2016 kam es jedoch zu einer Verschiebung der Anteile vom linken zum rechten euroskeptischen Lager. In Italien wurde die Lega Nord (heute Lega) erstmals stärkste Kraft, während das M5S Verluste hinnehmen musste. In Portugal und Spanien verloren die linken Euroskeptiker in vielen Regionen erneut Stimmenanteile. In Deutschland kommt ein Erstarken der AfD hinzu, die insbesondere in Ostdeutschland – mit Ausnahme von Berlin – ihre Ergebnisse noch einmal deutlich verbessern konnte. Allein im Regierungsbezirk Dresden erreichte die AfD mit 28 Prozent einen Stimmenanteil, der eher in das Bild euroskeptisch dominierter Regionen in Frankreich, den Niederlanden oder Schweden passt als nach Deutschland (Abbildung 4). Am wenigsten verbreitet ist der Euroskeptizismus wiederum in den europäischen Hauptstädten. Dies gilt sowohl für die Regionen um Helsinki, Paris, Stockholm und Wien als auch für die Hauptstadtregionen Budapest, Prag, Sofia und Warschau.

Auffallend ist in beiden Ländergruppen, wie stark die Spannweite zwischen minimalem und maximalem Stimmenanteil der Euroskeptiker zugenommen hat. In Nord-, Süd- und Westeuropa lag das stärkste euroskeptische Wahlergebnis 1994 mit rund 30 Prozent in der portugiesischen Region Alentejo. 2014 betrug der Höchstwert bereits rund 53 Prozent auf den Ionischen Inseln in Griechenland, 2019 66 Prozent im norditalienischen Venetien, dicht gefolgt von den Abruzzen (65 Prozent) in Mittelitalien und der Basilikata (61 Prozent) in Süditalien. Italien ist insofern ein Sonderfall, als euroskeptische Parteien sowohl auf der Rechten (Lega) als auch auf der Linken (M5S) große Wähleranteile mobilisieren können und 2018 bis 2019 sogar gemeinsam die Regierung stellten. Aufgrund der unterschiedlichen geografischen Schwerpunkte der Wahlerfolge (Lega im Norden, M5S im Süden) sind die Euroskeptiker des Mezzogiorno zwar insgesamt etwas erfolgreicher, doch sind die Wahlergebnisse in dieser Hinsicht deutlich ausgeglichener als die Wahlbeteiligung – diese war 2019 im Norden deutlich höher als im Süden.

In Mittel- und Osteuropa lag das stärkste euroskeptische Wahlergebnis bereits 2014 bei 73 Prozent (Nyugat-Dunántúl in Ungarn) und damit 20 Prozentpunkte über dem der übrigen EU. Bei den Europawahlen 2019 war die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in der südpolnischen Woiwodschaft Karpatenvorland ähnlich erfolgreich. Interessant ist auch, in welchen Regionen die Stimmenanteile der Euroskeptiker besonders niedrig sind. Bei den Europawahlen 2014 lagen diese im nördlichen Teil Rumäniens unter 5 Prozent, aber auch in der Hauptstadtregion Bukarest-Ilfov sowie mit rund 5 Prozent im südlichen Teil Bulgariens und in der Region Yugozapaden, die auch die Hauptstadt Sofia umfasst. Bei den Europawahlen 2019 ist der Stimmenanteil der euroskeptischen Parteien hier sogar noch weiter zurückgegangen. Die Schwäche dieser Parteien in der bulgarischen Hauptstadtregion wird nur noch in Lettland unterboten, wo keine relevanten euroskeptischen Parteien im politischen Spektrum verankert sind. Hinsichtlich der euroskeptischen Wahlerfolge zeigt sich somit eine ausgeprägtere Heterogenität in den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten.

Drei wesentliche Ergebnisse lassen sich festhalten: Erstens konnten die euroskeptischen Parteien im Laufe der Jahre bei den Europawahlen immer mehr Wählerinnen und Wähler für sich mobilisieren. Dies gelang ihnen vor allem in ländlicheren Räumen und in Regionen mit höherer Arbeitslosigkeit. Die sogenannte Revolte an der Wahlurne der strukturschwachen Regionen hat an Lautstärke gewonnen. Zweitens hat die regionale Streuung des Stimmenanteils der Euroskeptiker zugenommen. Während in einigen Regionen die euroskeptischen Kräfte keinen nennenswerten Einfluss gewinnen konnten, ist es in anderen Regionen keine Ausnahme mehr, dass sie mit Leichtigkeit absolute Mehrheiten erringen. Drittens hat eine Verschiebung innerhalb des euroskeptischen Spektrums stattgefunden: Während 2014 vor dem Hintergrund der EU-Staatsschuldenkrise vielerorts noch das linke Lager dominierte, konnte 2019 das rechte Lager zulegen. Eine wichtige Rolle dürfte dabei die deutlich gestiegene Bedeutung der Migrationspolitik gespielt haben.

Schluss

Betrachtet man die Wahlbeteiligung und die Stimmenanteile euroskeptischer Kräfte gemeinsam, so zeigt sich in der einfachen Gegenüberstellung ein negativer Zusammenhang: In Regionen, in denen sich mehr Menschen an Europawahlen beteiligen, ist der Stimmenanteil euroskeptischer Parteien tendenziell geringer. In Übereinstimmung mit der Literatur zur Geografie der Unzufriedenheit handelt es sich dabei um ländliche und strukturschwache Räume. Es gibt jedoch keinen Automatismus, dass eine steigende Wahlbeteiligung bei Europawahlen zu Einbußen bei den euroskeptischen Parteien führt. So konnten euroskeptische Parteien zuletzt vor allem in Regionen mit niedriger Wahlbeteiligung Stimmenzuwächse verzeichnen – also dort, wo sie ohnehin schon anteilig die besten Wahlergebnisse erzielt hatten. Da dies jedoch nicht einmal zu einer Angleichung der Wahlbeteiligung an den jeweiligen Landesdurchschnitt geführt hat, lässt sich schlussfolgern: Die gegen die EU gerichtete Revolte an der Wahlurne hätte noch viel deutlicher ausfallen können – und kann es immer noch.

Zudem gibt es gerade dort, wo die Euroskeptiker ihre besten Ergebnisse erzielen, eine sehr große Gruppe von Nichtwählerinnen und Nichtwählern. Da die proeuropäischen Parteien ihre Hochburgen vor allem in den wohlhabenden Agglomerationsräumen ausbauen konnten, ist eine zunehmende räumliche Spaltung der Wahlergebnisse zu konstatieren. Besonders beunruhigend dürfte für die proeuropäischen Wahlkämpfer sein, dass sie ausgerechnet in den Regionen am wenigsten überzeugen konnten, in die die höchsten EU-Fördermittel fließen.

Die Vorzeichen für die Europawahlen 2024 deuten auf einen Vorteil für die euroskeptischen Parteien des rechten Lagers hin. Zum einen hat das Thema Migration weiter an Bedeutung gewonnen. Zum anderen prägen nationale Kontexte – trotz enormer regionaler Unterschiede – nach wie vor das Wahlverhalten bei Europawahlen. Die proeuropäischen Regierungen in Deutschland und Frankreich, deren Parteien 2019 teilweise Rekordergebnisse erzielten, befinden sich im Umfragetief. Bei den jüngsten Parlamentswahlen in den Niederlanden unterlag zudem mit Frans Timmermans ein dezidiert proeuropäischer Spitzenkandidat – und ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Kommission – dem Euroskeptiker Geert Wilders deutlich. Ein Lichtblick könnte der Ausgang der polnischen Parlamentswahlen sein, bei denen ein breites Oppositionsbündnis mit einer erheblichen Mobilisierung der euroskeptischen PiS die Macht entreißen konnte. Dabei wurde die regionale West-Ost-Spaltung des Landes sehr deutlich. Ein differenzierter Blick auf die Regionen ist daher auch für das Verständnis dieser Wahl hilfreich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wir danken Henrik Förster für die gute Unterstützung bei der Datenbearbeitung. In diesem Beitrag wird die NUTS-2-Ebene verwendet. Bei einer kleinräumigeren Betrachtung werden die Unterschiede noch deutlicher. NUTS steht für Nomenclature des unités territoriales statistiques und klassifiziert Regionen in verschiedene Einheiten. NUTS 0 steht für Nationalstaaten, NUTS 1 für Landesteile, NUTS 2 für Regionen mittlerer Größe und NUTS 3 für kleinere Regionen.

  2. Vgl. Nicola Francesco Dotti/Ugo Fratesi/Christian Oberst, Regional Economic Theories Used to Motivate Cohesion Policy, in: Nicola Francesco Dotti et al. (Hrsg.), EU Cohesion Policy. A Multidisciplinary Approach, Cheltenham 2024, S. 30–46.

  3. Vgl. Michael Bayerlein/Matthias Diermeier, Exchanging Money for Love? A Regional Analysis of EU Cohesion Policy on Euroscepticism, Kiel Working Paper 2219/2022.

  4. Vgl. David Goodhart, The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics, London 2007.

  5. Vgl. Will Wilkinson, The Density Divide: Urbanization, Polarization, and Populist Backlash, Juni 2019, Externer Link: http://www.niskanencenter.org/wp-content/uploads/2019/09/Wilkinson-Density-Divide-Final.pdf.

  6. Vgl. Lewis Dijkstra et al., The Geography of EU Discontent, in: Regional Studies 6/2020, S. 737–753.

  7. Vgl. Andrés Rodríguez-Pose, The Revenge of the Places That Don’t Matter (and What to Do About It), in: Cambridge Journal of Regions, Economy and Society 1/2018, S. 189–209.

  8. Vgl. Göran Theborn, Cities of Power: The Urban, the National, the Popular, the Global, London 2017; Heike Mayer et al., The Political Economy of Capital Cities, London 2018.

  9. Siehe hierzu auch den Beitrag von Korbinian Frenzel und Julia Reuschenbach in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  10. Vgl. Dominik Schraff et al., The European NUTS-Level Election Dataset: A Tool to Map the European Electoral Geography, in: Party Politics 3/2023, S. 570–579; Matthijs Rooduijn et al., The PopuList: An Overview of Populist, Far Right, Far Left and Eurosceptic Parties in Europe, 2019, Externer Link: http://www.popu-list.org.

  11. Für die Europawahl 1994 umfasst der Datensatz Belgien, Deutschland, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und Spanien. Ab der Wahl 1999 sind zusätzlich Österreich, Schweden und Finnland enthalten, ab 2004 Malta und die Republik Zypern. Die ehemaligen Ostblockstaaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn sind 2004 der EU beigetreten und werden für die Wahlen ab 2009 um Rumänien und Bulgarien und ab 2014 um Kroatien ergänzt.

  12. Der Median teilt eine Datenverteilung genau in der Mitte. In der Statistik wird er verwendet, wenn Ausreißer den Durchschnitt verzerren.

  13. Vgl. Rodríguez-Pose (Anm. 7), S. 189.

  14. Vgl. Paul Taggart, A Touchstone of Dissent: Euroscepticism in Contemporary Western European Party Systems, in: European Journal of Political Research 3/1998, S. 363–388.

  15. Vgl. Philip Manow, Die Politische Ökonomie des Populismus, Berlin 2018.

  16. Vgl. ebd.

  17. Zu beachten ist in Rumänien, dass die stärkste Partei PSD, bekannt durch ihren umstrittenen ehemaligen Parteivorsitzenden Liviu Dragnea, zwar als teilweise populistisch, jedoch nicht als euroskeptisch verortet wird. Für die Wahl 2019 wird in der PopuList-Datenbank keine Partei in Rumänien als euroskeptisch eingestuft.

  18. Vgl. Rodríguez-Pose (Anm. 7), S. 189.

  19. Vgl. Dijkstra et al. (Anm. 6).

  20. Vgl. Rodríguez-Pose (Anm. 7).

Lizenz

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ist Leiter des Kooperationsclusters Demokratie, Gesellschaft, Marktwirtschaft am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.

ist Senior Economist für Wohnungspolitik und Immobilienökonomik am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.

ist Economist für europäische Wirtschaftspolitik und Außenhandel am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.