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Furchtlosigkeit und Überzeugungskraft | Europa | bpb.de

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Furchtlosigkeit und Überzeugungskraft Historische Europakonzepte in den Krisen der Gegenwart

Claudia Weber

/ 16 Minuten zu lesen

Die Geschichte Europas, seiner Ideen und Konflikte, seiner Erfolge und Misserfolge ist facettenreich und bisweilen widersprüchlich. Sie bietet Orientierung für heute und erinnert an den Mut, den es braucht, um Frieden in einem freien Europa zu verwirklichen.

Am 10. Dezember 1926 erhielten der deutsche Reichsaußenminister Gustav Stresemann und sein französischer Amtskollege Aristide Briand den Friedensnobelpreis. In der Laudatio würdigte Fridtjof Nansen, der zu dieser Zeit Hochkommissar für Flüchtlingsfragen beim Völkerbund war, die Furchtlosigkeit und Überzeugungskraft, die Stresemann und Briand gezeigt hatten, um mit dem 1925 abgeschlossenen Vertragswerk von Locarno ein Friedensprogramm für Europa auf den Weg zu bringen. Die Verträge, die in Deutschland vor allem mit der Anerkennung der Westgrenze und der Entmilitarisierung des Rheinlandes verbunden waren, bildeten ein komplexes Werk, das durch weitere Schiedsverträge mit Frankreich, Belgien, Polen und der Tschechoslowakei die Grundlagen für ein europäisches Friedens- und Sicherheitssystem legte. Tatsächlich folgte auf Locarno für wenige Jahre eine Stabilisierung, die nach dem Ersten Weltkrieg ausgeblieben war. Das Ende der Schlachten hatte keinen Frieden gebracht, sondern eine turbulente und gewaltreiche Zeit, die von den oberschlesischen Grenzkämpfen bis zum griechisch-türkischen Krieg von Aufständen, Revolutionen, Putschversuchen, Vertreibungen und ethnischen Säuberungen geprägt war. Erst Mitte der 1920er Jahre kehrte etwas Ruhe ein.

Furchtlosigkeit und Überzeugungskraft – Nansen hatte Recht, wenn er diese beiden Charaktereigenschaften betonte. Denn sowohl Stresemann als auch Briand hatten mit offener Ablehnung zu kämpfen. Zu feindselig und misstrauisch standen sich die beiden Großmächte gegenüber: die Siegernation Frankreich, die am Status quo und der dauerhaften Eindämmung Deutschlands festhielt, und der Weltkriegsverlierer, der in Versailles gedemütigt und geschwächt worden war und in der Revision des schmachvollen „Diktatfriedens“ die einzige Möglichkeit der Wiedergutmachung sah. Auch Stresemann vertrat den „Willen zur Revision“ und hätte keine andere Position einnehmen können, handelte es sich doch um den „einzigen grundsätzlichen Konsens in der Weimarer Republik“.

Im Gegensatz zu den meisten Kräften seiner Zeit favorisierte Stresemann allerdings den friedlichen Weg. Locarno war ein wichtiger Schritt zur Verwirklichung seiner außenpolitischen Ziele: die Rückkehr Deutschlands in die Reihe der europäischen Großmächte und die friedliche Revision des Versailler Vertrages. Mit Aristide Briand teilte er die Überzeugung, dass dafür zunächst die deutsch-französische Verständigung notwendig und die Grundvoraussetzung für die Stabilisierung der gesamten europäischen Nachkriegsordnung sei. Stresemann nahm den Friedensnobelpreis in Oslo mit den Worten entgegen: „Locarno ist viel mehr. Es ist einmal der Zustand des dauernden Friedens am Rhein, gewährleistet durch feierlichen Verzicht der beiden großen Nachbarnationen auf Anwendung von Gewalt, gewährleistet durch die Verpflichtung anderer Staaten, demjenigen ihre Macht zu leihen, der entgegen dieser feierlichen Vereinbarung Opfer der Gewalt wird. Das ist die treuga dei, das ist der Gottesfriede, der dort herrschen soll, wo seit Jahrhunderten immer wieder die Völker blutige Kriege geführt haben. Er kann, er soll weiter die Unterlage sein für ein gemeinsames Zusammenwirken dieser Mächte, um den Frieden weiter zu verbreiten, wohin immer ihre moralische und materielle Macht und ihr Einfluss reicht.“

Das „neue“ Europa

Die Frage, wie Europa nach der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) zusammenfinden könne, um Frieden, Wohlstand und Sicherheit zu bewahren, beschäftigte in der von Kriegen und Gewalt geprägten Zwischenkriegszeit nicht nur Stresemann und Briand. Lange vor ihnen hatten Schriftsteller wie Stefan Zweig, „Gesellschaftskünstler“ wie Harry Graf Kessler, politische Aktivisten und Publizisten das Ende der „Welt von gestern“ gespürt und ihre Programme für ein „neues“ Europa in Umlauf gebracht. In London diskutierten der Historiker Robert W. Seton-Watson und der Diplomat Milan Ćurčin über die Zukunft eines serbischen Staates und die „jugoslawische Idee“, während der tschechische Philosoph Tomáš Garrigue Masaryk seine Antrittsrede an der London School of Slavonic Studies 1915 dem „Problem der kleinen Nationen in der Krise Europas“ und der Idee der nationalen Selbstbestimmung widmete. Die Waffen des Ersten Weltkrieges hatten die Europadebatten keineswegs beendet. Im Gegenteil, der Ausgang des Krieges bot die Möglichkeit, Ideen, die zuvor nur theoretisch und in kleinen Zirkeln diskutiert worden waren, in die Tat umzusetzen. Es war die Stunde, in der Politiker wie Woodrow Wilson und Revolutionäre wie Lenin sich der Konzepte bemächtigten und sie in politische Forderungen ummünzten. Und es war die Stunde, in der Intellektuelle wie Tomáš Garrigue Masaryk zu Staatsmännern wurden. Mit Wilsons 14-Punkte-Programm von 1918, den Pariser Friedensverträgen und Lenins Revolution nahm das neue Europa zwar allmählich Gestalt an. Eine einheitliche Idee lag ihm jedoch nicht zugrunde. Europa hatte Konjunktur, auch wenn jeder etwas anderes darunter verstand und nicht alle Bewegungen einen Aufbruch befürworteten.

Paneuropa des Aristokraten

Zu den einflussreichsten und in seiner Langzeitwirkung herausragenden Europakonzepten zählt die von Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi mit großem Eifer und persönlichem Engagement betriebene Paneuropa-Union. Coudenhove-Kalergi hatte mit seinem im November 1922 in der „Vossischen Zeitung“ erstmals veröffentlichten Aufruf „Paneuropa. Ein Vorschlag“ ein vielbeachtetes Programm vorgelegt. Paneuropa war das Gegenmodell zur modernen nationalstaatlichen Zersplitterung, in der Coudenhove-Kalergi nicht zu Unrecht die Ursache für die verheerende Nachkriegsgewalt sah. Obwohl er die Nationalstaaten nicht ablehnen konnte, auch weil ihm sonst die Unterstützung einflussreicher Politiker des „neuen“ Europa wie Tomáš G. Masaryk oder von Künstlern wie Béla Bartók verwehrt geblieben wäre, sollten die Nationen politisch, wirtschaftlich und kulturell in einer Union nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika zusammengeführt werden. Dieser Zusammenschluss – Großbritannien und die Türkei zählte er nicht dazu – sollte den Namen „Paneuropäische Union“ tragen. Auch Russland gehörte in den Augen Coudenhove-Kalergis nicht zu Europa, sondern war, vor allem nach der bolschewistischen Revolution von 1917, eine der Hauptgefahren, gegen die sich die Union wappnen müsse, um ihre globale Vormachtstellung in der neuen Welt nicht zu verlieren.

Der in Tokio geborene Coudenhove-Kalergi, Sohn einer vielsprachigen Diplomaten- und habsburgisch-böhmischen Aristokratenfamilie, verfügte über ein hervorragendes Netzwerk, das es ihm ermöglichte, in kürzester Zeit einflussreiche Persönlichkeiten für seine Bewegung zu begeistern und einzuspannen. Der deutsche Sozialdemokrat und Reichstagspräsident Paul Löbe leitete zeitweise die deutsche Sektion der Paneuropa-Union. Der österreichische Bundeskanzler Ignaz Seipel stellte der Paneuropa-Union Räumlichkeiten in der Wiener Hofburg zur Verfügung, wo die Zentrale eingerichtet wurde. Mit dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš G. Masaryk, den Coudenhove-Kalergi als „im wahren Sinne Europäer“ und „überzeugten Paneuropäer“ rühmte, verband ihn ein reger Briefwechsel. Selbst Stresemann und Briand waren Fürsprecher der Paneuropa-Union, deren Ehrenpräsident Briand 1927 wurde.

Auf den Tagungen und Kongressen versammelte sich die zeitgenössische Elite, beeindruckt von der Strahlkraft der Idee und der Weltläufigkeit ihres Gründers. Zum ersten internationalen Paneuropa-Kongress 1926 kamen über 2000 Teilnehmer aus 24 Ländern nach Wien, in die alte Hauptstadt des untergegangenen Habsburgerreiches, dem Coudenhove-Kalergi zu neuem Glanz verhelfen wollte. Wien war für ihn das natürliche Zentrum einer Geistes- und Kulturaristokratie, die an die Stelle des imperialen Adels treten sollte; zwar ohne Titel – Coudenhove-Kalergi hatte 1919 seinen Grafentitel verloren –, aber nicht minder überlegen und auserwählt, die Geschicke Europas zu gestalten.

Europa-Union von Aristide Briand

Ungeachtet seines Engagements für die Paneuropa-Union entwarf Aristide Briand einen eigenen Plan für eine europäische Vereinigung, der bis heute – ebenso wie Coudenhove-Kalergis Konzept – oft als Vorläufer der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen wird. Angesichts der Weltwirtschaftskrise, die von den USA nach Europa überschwappte, wandte sich Briand im Mai 1930 mit einem „Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung“ an die Nationen des Völkerbundes. Als wollte er sich ein letztes Mal gegen den aufkommenden Zeitgeist stemmen, legte Briand, schwerkrank und innenpolitisch bereits isoliert, einen detaillierten Entwurf für den schrittweisen Aufbau einer liberalen Europaordnung vor. „In einer Formel“, hieß es gleich zu Beginn des Memorandums, „die so liberal wie möglich gehalten wäre, aber den wesentlichen Zweck dieses Verbandes im Dienst des gemeinsamen Werkes der friedlichen Organisation Europas klar zum Ausdruck bringen müsste“, sollten sich die zukünftigen Bundesstaaten verpflichten, „in periodisch wiederkehrenden (…) Tagungen regelmäßig miteinander Fühlung zu nehmen, um gemeinsam alle Fragen zu prüfen, die in erster Linie die Gemeinschaft der europäischen Völker interessieren können“.

Briand entwarf einen konkreten Organisationsplan bis hin zu einzelnen politischen Ausschüssen und einem geschäftsführenden Sekretariat. Er betonte die „Notwendigkeit eines repräsentativen und verantwortlichen Organs“ und schlug dafür eine „Europäische Konferenz“ vor – zusammengesetzt „aus den Vertretern aller europäischen Regierungen, die Mitglieder des Völkerbundes sind“. „Im Dienst des gemeinsamen Werkes der friedlichen Organisation Europas“ sollte die Konferenz „als wesentliches leitendes Organ der europäischen Union (…) in Verbindung mit dem Völkerbund“ arbeiten. Briands Memorandum war das politische Testament eines überzeugten Europapolitikers, der in einem letzten, die eigene Macht überschätzenden Versuch die Vision einer europäischen Einigung in eine Struktur gießen wollte, die gleichsam den Schwächen und Fehlern der europäischen Nachkriegsordnung Rechnung trug. Dazu suchte er die Verbindung zum Völkerbund. Coudenhove-Kalergi hatte in der Paneuropa-Union noch die Möglichkeit gesehen, Europa von der „Weltkontrolle“ des Völkerbundes zu befreien, während nichteuropäische Mitgliedstaaten die zahlreichen Unionsideen wiederum mit einigem Argwohn beobachteten. Zugunsten einer starken internationalen Machtstellung Europas dachte Briand beide Institutionen zusammen und schlug Genf, den Sitz des Völkerbundes, auch als Sitz der europäischen Union vor. Gerade wegen dieser Nähe zum Völkerbund stieß Briands Plan in Deutschland auf besondere Skepsis.

Gescheiterte Ideen

So einig sich die Europaentwürfe der Zwischenkriegszeit in ihrem Wunsch nach Frieden und Wohlstand waren, so gemeinsam war ihnen ihr Scheitern. Ihre Zeit währte kurz, grob umrissen handelte es sich um sechs Jahre zwischen 1924 und 1930, die bis heute als Goldene Zwanziger bekannt sind. Danach schlug die Weltwirtschaftskrise gänzlich durch und ließ den gewaltbereiten Revisionismus und die seit Langem wachsenden autoritären Regime in Ost und West, in Nord und Süd Oberhand gewinnen. Gustav Stresemann war bereits 1929 schwerkrank gestorben. Sein glückloser Nachfolger, Reichsaußenminister Julius Curtius, hatte wenig Interesse an einer deutsch-französischen Verständigungspolitik oder einem Zusammenschluss Europas. Mit dem Aufstieg Bernhard Wilhelm von Bülows in die zentrale Position des Staatssekretärs übernahmen die Kritiker Stresemanns und Anhänger einer aggressiven Revisionspolitik die Macht im Auswärtigen Amt. Die Locarno-Ära war beendet.

Von Bülow geißelte Briands Memorandum als schlecht camouflierten Versuch, Frankreichs Interessen zum Nachteil einer eigenständigen deutschen Außenpolitik durchzusetzen und „uns neue Fesseln anzulegen“. Aus Respekt vor dem alten Europäer Briand und um das Gesicht zu wahren, setzte der Völkerbund noch im September 1930 eine „Studienkommission für die europäische Union“ ein, die, gelegentlich vor sich hin tagend, keine Resultate hervorbrachte. Im März 1932 starb Aristide Briand. Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Union verlor zu Beginn der dreißiger Jahre ebenfalls an Strahlkraft. Der zweite große Kongress, der im Mai 1930 in Berlin stattfand und Briands Memorandum ausdrücklich unterstützte, stieß auf weniger Resonanz, nicht zuletzt wegen des autoritären Führungsstils Coudenhove-Kalergis. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 flüchtete Coudenhove-Kalergi mit seiner jüdischen Frau in die Schweiz, später nach Paris und nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich über Spanien und Portugal in die USA. In jedem seiner Exilländer rief er eine neue Paneuropa-Sektion ins Leben, die jedoch zu keiner Zeit an die früheren Erfolge anknüpfen konnten. Der Idee und ihrem Erfinder sicherte dies jedoch das Überleben und auch eine gewisse politische Bedeutung, die Coudenhove-Kalergi umtriebig und weiterhin einflussreich im Zuge der europäischen Einigung nach 1945 einzusetzen wusste.

Die Gründe für das Scheitern der Ideen einer europäischen Union waren vielfältig und umfassten persönliche Umstände ebenso wie die globalen und kontinentalen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der krisenhaften Gegenwart, die den Zustand EU-Europas einschließt, liegt es nahe, vom Scheitern in der Zwischenkriegszeit auf die Zukunft zu schließen; eine Analogie, die ebenso vorschnell wie unhistorisch ist. Der größte Unterschied besteht darin, dass die europäische Integration seit der deutsch-französischen Verständigung und dem Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, den auch Italien und die Beneluxländer 1951 unterzeichneten, Realität geworden ist.

Zur Erklärung der Gegenwart in die Vergangenheit zu schauen, ist ein zentraler Sinn von Geschichtswissen, auch wenn wir aus der Historie kaum zu lernen verstehen. Geschichte kann Pfade und Optionen sichtbar machen und zeigen, was passieren kann, aber nicht muss, wie und vielleicht auch warum eine Entwicklung so und nicht anders verlaufen ist. Es lohnt sich, nach den Problemlagen zu fragen, die zum Scheitern der historischen Europaideen führten. Es sind Problemlagen, die bis heute ungelöst sind und als Erbe des 20. Jahrhunderts gesehen werden können.

Fünf Problemlagen

Eine erste Problemlage betrifft die existenzielle Frage von Krieg und Frieden. Sie war der Ausgangspunkt aller Europaideen von Stresemann, Briand und Coudenhove-Kalergi. Sie stand am Anfang der europäischen Integration nach dem verheerenden Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs. Und sie wird heute erneut über die Zukunft des geeinten Europas entscheiden. Wird es der EU gelingen, den Krieg in der Ukraine so zu beenden, dass ein dauerhafter Frieden in Europa wiederhergestellt werden kann? Nach dem Erhalt des Friedensnobelpreises, der aus heutiger Sicht eher das Ende einer Ära als einen mutigen Neuanfang zu symbolisieren scheint, steht die Europäische Union vor ihrer größten Herausforderung, und es sieht momentan nicht danach aus, als ob sie ihr gewachsen wäre.

Die zweite Problemlage bezieht sich auf das Spannungsverhältnis zwischen Demokratien und Diktaturen, das der britische Historiker Ian Kershaw einst als Grundsignatur des 20. Jahrhunderts bezeichnete. Auch wenn es nach dem Ende des Kalten Krieges eine Zeitlang so aussah, als habe sich dieses Spannungsverhältnis zugunsten einer liberalen Weltordnung aufgelöst, sehen wir uns heute eines anderen belehrt. Im Hinblick auf die Geschichte von Europavorstellungen bedeutet das Fortleben dieser Spannung auch das Weiterleben antiliberaler und nichtdemokratischer Europaentwürfe. Dass „EU“ und „Europa“ keine Synonyme sind und dass es neben der europäischen Integration, die auf ein demokratisches, rechtsstaatliches und auf wirtschaftlichen Freiheiten beruhendes politisches Gebilde abzielt, immer auch andere Europavorstellungen gegeben hat, ist eine ernst zu nehmende Tatsache. Schon in den 1930er Jahren bedeutete das Scheitern von Briand, Stresemann oder Coudenhove-Kalergi nicht das Ende von Europakonzepten, sondern den Aufstieg antiliberaler Gemeinschaftsentwürfe. Auch der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus betrieben eine aktive, meist antibolschewistische Europapropaganda, die sich zum Zeitpunkt des Überfalls Hitlers auf die Sowjetunion großer Popularität und Zustimmung erfreute. Dieser autoritären Versuchung konnte sich selbst Coudenhove-Kalergi nicht entziehen, der sich, obwohl er das NS-Regime vehement ablehnte, in den 1930er Jahren vergeblich um die Unterstützung Benito Mussolinis bemühte. Historisch betrachtet, bedeutet das Scheitern eines liberalen Europaprojekts also keineswegs das Ende von Europaentwürfen, die populär und attraktiv für die Bevölkerung sein können. EU-Europa kann scheitern, und inmitten der heutigen Krisen und der wachsenden Ablehnung der Brüsseler Institutionen ist es wichtig, diese Option mitzudenken. Sie auszuschließen, führt in eine existenzbedrohende Starre – weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Die dritte Problemlage lenkt den Blick auf die nationale und transnationale Verfasstheit des Kontinents. Auch sie beherrschte die Diskurse in der Zwischenkriegszeit und ist bis heute nicht aufgelöst: Die Furcht vor dem Verlust der nationalstaatlichen Souveränität, die insbesondere die sogenannten kleinen Staaten Ost- und Südosteuropas erst durch die Pariser Friedensverträge erlangt hatten, bestimmte die Skepsis gegenüber den Plänen von Aristide Briand oder Coudenhove-Kalergi, die sich dessen bewusst waren, das Problem aber auch nicht lösen konnten. Als erster Staatspräsident der Tschechoslowakei unterstützte Tomáš G. Masaryk die Paneuropa-Union – allerdings nicht mit dem Ziel, die junge nationale Souveränität aufzugeben. Vielmehr erhoffte er sich einen nationalen Machtzuwachs durch die Einbindung in eine transnationale Gemeinschaft, die den Einfluss der klassischen europäischen Großmächte begrenzen konnte.

Koloniale Interessen der neuen Staaten, die Coudenhove-Kalergi durchaus bediente, spielten bei der Unterstützung der Paneuropa-Union eine Rolle. Aber auch Stresemann und Briand waren, anders als ihre Kritiker unterstellten, keine Anhänger der Auflösung von Nationen. Briand schätzte Stresemann als großen deutschen Patrioten, der „in allen unseren Verhandlungen (…) selbstverständlich die Interessen seines Landes zu wahren gesucht [hat]. Aber was würde ich selbst anderes verfolgen, als die Interessen meines Landes? Sind nicht die internationalen Verträge am vorteilhaftesten, in denen es gelingt, den Interessen beider Parteien zu genügen, so dass eine jede versichert sein darf, dabei auf ihre Rechnung zu kommen?“ Letztlich überschätzten sie die Kraft der europäischen Union, das neue Ordnungsprinzip der nationalen Selbstbestimmung aufrechtzuerhalten und zugleich den revisionistisch-expansiven Nationalismus der Zwischenkriegszeit zu bändigen. Der ungarische Politiker Oszkár Jászi stellte 1929 fest, dass das „fundamentalste Problem des heutigen Europa“ in der Herausforderung bestehe, „Nationen mit unterschiedlichen Idealen und Traditionen trotz ihrer Individualität so zu einen, dass jede ihr besonderes Leben bewahren kann, zugleich aber die nationale Souveränität ausreichend zu beschränken, um eine friedliche und erfolgreiche internationale Zusammenarbeit zu ermöglichen“.

Die vierte, heute ebenso drängende Problemlage lässt sich mit dem Bild eines abgehobenen Elitenprojekts beschreiben. In der historischen Europaforschung wird dieses Bild häufig mit Blick auf Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Union gezeichnet. Tatsächlich waren seine Vorstellungen einer europäischen Geistesaristokratie nicht geeignet, die Stimmungen und schon gar nicht die sozialen und gesellschaftlichen Bedürfnisse der breiten Bevölkerungsschichten aufzunehmen. Bis heute gilt, dass ein europäischer Verbund kein elitäres Projekt sein kann: weder intellektuell noch geografisch noch sozial. Anstelle abstrakter Versprechen und Glücksformeln muss die Europäische Union konkreten Lebenswirklichkeiten entsprechen und diese verbessern, denn warum sollten Europäerinnen und Europäer sie sonst unterstützen? Der Eindruck einer „intellektuellen Vormundschaft“ politischer Eliten schafft Distanz, mindert Loyalität, Legitimation und die Identifikation mit der transnationalen Ordnungsidee. Gleiches gilt für tradierte Hierarchien im Sinne eines Nord-Süd- oder gar Ost-West-Gefälles. Es gehört zu den großen historischen Versäumnissen, Europa nach dem Ende des Kalten Krieges nicht auf gemeinsame Fundamente gestellt zu haben, sondern davon ausgegangen zu sein, dass sich die „neuen“ osteuropäischen Staaten in den westeuropäischen Rahmen integrieren würden. Und schließlich muss Europa ein soziales Projekt sein. Damit ist nicht gemeint, dass nur ein „Schönwetter- und Wohlstandseuropa“ erfolgreich sein kann, sondern dass die Europäische Union erodiert, wenn soziale Ungleichheiten in einem Maße zunehmen, dass grundlegende Gerechtigkeitsempfindungen dauerhaft verletzt werden. Wohlstands- und Fortschrittsversprechen wirken tönern, wenn sie im Widerspruch zu Alltagserfahrungen und geopolitischen Realitäten stehen und den verheerenden Eindruck erwecken, nur für eine „elitäre Minderheit“ zu gelten. Für die emotionale Wirkung und die politische Instrumentalisierbarkeit dieses Eindrucks ist es ziemlich unwichtig, ob er immer den Tatsachen entspricht.

Abschließend möchte ich auf eine fünfte Problemlage hinweisen, die bislang kaum Gegenstand der historischen Europaforschung war: die Frage, inwieweit der politische Umgang mit den großen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen der Zwischenkriegszeit zum Scheitern liberaler Europaideen und von Institutionen wie dem Völkerbund beigetragen hat. Dass sich der Kontinent aufgrund der Revolutionen und Bevölkerungsverschiebungen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren „in Bewegung“ befand, haben zeitgenössische Autoren wie der Soziologe Eugene M. Kulischer eindringlich dokumentiert. Es waren Persönlichkeiten wie Fridtjof Nansen, der als Völkerbund-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen den sogenannten Nansen-Pass für Staatenlose einführte, um die Migration zu steuern und die Wiederansiedlung zu legalisieren. Für seine Verdienste erhielt Nansen 1922 den Friedensnobelpreis, vier Jahre vor Briand und Stresemann. In den 1930er Jahren verringerte sich die Bereitschaft der europäischen Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen, und die große Konferenz von Évian zeigte das Scheitern der europäischen Migrationspolitik ebenso wie die erfolgreiche Indienstnahme durch antiliberale und totalitäre Bewegungen.

Mut, Furchtlosigkeit und Überzeugungskraft

Den Kontinent nach zwei Weltkriegen, nach dem Holocaust und in den Jahrzehnten des Kalten Krieges wieder aufgebaut zu haben, bleibt die grandiose Leistung aller Europäerinnen und Europäer. Sie haben sich aus den Abgründen des Totalitarismus herausgearbeitet, demokratische und liberale Ordnungen neu erfunden, Wohlfahrtsstaaten geschaffen, Widerstand geleistet und friedliche Revolutionen herbeigeführt. Europa hat im 20. Jahrhundert eine große historische Kraft bewiesen, die nicht zuletzt auf einem grundlegenden Selbst- und Werteverständnis beruht: der Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion, der Korrektur von Fehlern und dem Mut zur Veränderung. 2012 erhielt die Europäische Union in Anerkennung dieser historischen Leistung den Friedensnobelpreis. Leider verzichtete das Nobelpreiskomitee in seiner Begründung auf die Erwähnung von Stresemann oder Briand und konzentrierte sich ganz auf die europäische Integration nach 1945. Der Wunsch, dem Anlass entsprechend Erfolge zu erzählen, ist verständlich. Die Geschichte Europas, seiner Ideen und Konflikte, seiner Erfolge und Misserfolge ist jedoch facettenreicher und widersprüchlicher. Gerade diese Geschichte bietet Orientierung in der Gegenwart. Sie erinnert an den Mut, die Furchtlosigkeit und die Überzeugungskraft, die es braucht, um Frieden in einem liberalen und demokratischen Europa zu verwirklichen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Andreas Rödder, Gustav Stresemann und die Perspektive der Anderen, in: APuZ 18–20/2018, S. 27–32.

  2. Gustav Stresemann, Nobel Lecture. Vortrag gehalten am 29. Juni 1927 auf Einladung des Storthing-Nobelkomitees in der Aula der Universität in Oslo, Externer Link: http://www.nobelprize.org/prizes/peace/1926/stresemann/26106-gustav-stresemann-nobel-lecture-1926.

  3. Zu Seton-Watson und Ćurčin siehe Paula Seidel, Transnationale Allianzen und Ethnisierung für die Anerkennung Jugoslawiens, in: Zeitschrift für Migrationsforschung 1/2023, S. 97–121; zu Masaryk siehe Valentina von Tulechov, Tomas Garrigue Masaryk, Göttingen 2011.

  4. Vgl. etwa Vanessa Conze, Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas, Göttingen 2004; Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien–Köln 2004.

  5. Vgl. Richard N. Coudenhove-Kalergi, Czechen und Deutsche, in: Die Zukunft 114/1920, S. 342–350, hier S. 349.

  6. Zur Geschichte des Memorandums siehe Friedrich Kießling, Der Briand-Plan von 1929/30, 2008, Externer Link: http://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1457.

  7. Zit. nach ebd.

  8. Ebd.

  9. Ebd.

  10. Für die wertvollen Hinweise und die kritische Diskussion der fünf Problemlagen danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Masterkolloquiums an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) im Januar 2024.

  11. Vgl. Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914–1949, München 2015, S. 19.

  12. Die Geschichte antiliberaler und totalitärer Europakonzepte rückt seit einigen Jahren in das Interesse der historischen Europaforschung. Beispielhaft hierfür sind Dieter Gosewinkel, Antiliberales Europa – eine andere Integrationsgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen-Studies in Contemporary History 3/2012, S. 351–364; sowie die verschiedenen Beiträge in: ders. (Hrsg.), Anti-Liberal Europe. A Neglected Story of Europeanization, New York-Oxford 2014. Für die Zeit des Zweiten Weltkriegs: Robert Grunert, Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen 1940–1945. Niederländischer, belgischer und französischer Faschismus im Spannungsverhältnis zur nationalsozialistischen „Neuordnung“ Europas, Paderborn 2012.

  13. Zur Kolonialpolitik Polens oder der Tschechoslowakei nach den Staatsgründungen siehe Piotr Puchalski, Poland in a Colonial World Order. Adjustments and Aspirations, 1918–1939, London 2021; Sarah Lemmen, Tschechen auf Reisen. Repräsentationen der außereuropäischen Welt und nationale Identität in Ostmitteleuropa 1890–1938, Köln 2018.

  14. Zit. nach Gustav Stresemann, Der Namensgeber des GSI, Externer Link: http://www.gsi-bonn.de/ueber-das-gsi/gustavstresemann.html.

  15. Zit. nach Ivan Krastev, Europadämmerung. Ein Essay, Berlin 2017, S. 8.

  16. Conze (Anm. 4), S. 28.

  17. Vgl. Eugene M. Kulischer, Europe on the Move: War and Population Changes 1917–47, New York 1948. Zu den Arbeiten Kulischers siehe Karl Schlögel, Verschiebebahnhof Europa. Joseph B. Schechtmans und Eugene M. Kulischers Pionierarbeiten, in: Zeithistorische Forschungen-Studies in Contemporary History 3/2005, S. 468–472.

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ist Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).