Am 10. Dezember 1926 erhielten der deutsche Reichsaußenminister Gustav Stresemann und sein französischer Amtskollege Aristide Briand den Friedensnobelpreis. In der Laudatio würdigte Fridtjof Nansen, der zu dieser Zeit Hochkommissar für Flüchtlingsfragen beim Völkerbund war, die Furchtlosigkeit und Überzeugungskraft, die Stresemann und Briand gezeigt hatten, um mit dem 1925 abgeschlossenen Vertragswerk von Locarno ein Friedensprogramm für Europa auf den Weg zu bringen. Die Verträge, die in Deutschland vor allem mit der Anerkennung der Westgrenze und der Entmilitarisierung des Rheinlandes verbunden waren, bildeten ein komplexes Werk, das durch weitere Schiedsverträge mit Frankreich, Belgien, Polen und der Tschechoslowakei die Grundlagen für ein europäisches Friedens- und Sicherheitssystem legte. Tatsächlich folgte auf Locarno für wenige Jahre eine Stabilisierung, die nach dem Ersten Weltkrieg ausgeblieben war. Das Ende der Schlachten hatte keinen Frieden gebracht, sondern eine turbulente und gewaltreiche Zeit, die von den oberschlesischen Grenzkämpfen bis zum griechisch-türkischen Krieg von Aufständen, Revolutionen, Putschversuchen, Vertreibungen und ethnischen Säuberungen geprägt war. Erst Mitte der 1920er Jahre kehrte etwas Ruhe ein.
Furchtlosigkeit und Überzeugungskraft – Nansen hatte Recht, wenn er diese beiden Charaktereigenschaften betonte. Denn sowohl Stresemann als auch Briand hatten mit offener Ablehnung zu kämpfen. Zu feindselig und misstrauisch standen sich die beiden Großmächte gegenüber: die Siegernation Frankreich, die am Status quo und der dauerhaften Eindämmung Deutschlands festhielt, und der Weltkriegsverlierer, der in Versailles gedemütigt und geschwächt worden war und in der Revision des schmachvollen „Diktatfriedens“ die einzige Möglichkeit der Wiedergutmachung sah. Auch Stresemann vertrat den „Willen zur Revision“ und hätte keine andere Position einnehmen können, handelte es sich doch um den „einzigen grundsätzlichen Konsens in der Weimarer Republik“.
Im Gegensatz zu den meisten Kräften seiner Zeit favorisierte Stresemann allerdings den friedlichen Weg. Locarno war ein wichtiger Schritt zur Verwirklichung seiner außenpolitischen Ziele: die Rückkehr Deutschlands in die Reihe der europäischen Großmächte und die friedliche Revision des Versailler Vertrages. Mit Aristide Briand teilte er die Überzeugung, dass dafür zunächst die deutsch-französische Verständigung notwendig und die Grundvoraussetzung für die Stabilisierung der gesamten europäischen Nachkriegsordnung sei. Stresemann nahm den Friedensnobelpreis in Oslo mit den Worten entgegen: „Locarno ist viel mehr. Es ist einmal der Zustand des dauernden Friedens am Rhein, gewährleistet durch feierlichen Verzicht der beiden großen Nachbarnationen auf Anwendung von Gewalt, gewährleistet durch die Verpflichtung anderer Staaten, demjenigen ihre Macht zu leihen, der entgegen dieser feierlichen Vereinbarung Opfer der Gewalt wird. Das ist die treuga dei, das ist der Gottesfriede, der dort herrschen soll, wo seit Jahrhunderten immer wieder die Völker blutige Kriege geführt haben. Er kann, er soll weiter die Unterlage sein für ein gemeinsames Zusammenwirken dieser Mächte, um den Frieden weiter zu verbreiten, wohin immer ihre moralische und materielle Macht und ihr Einfluss reicht.“
Das „neue“ Europa
Die Frage, wie Europa nach der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) zusammenfinden könne, um Frieden, Wohlstand und Sicherheit zu bewahren, beschäftigte in der von Kriegen und Gewalt geprägten Zwischenkriegszeit nicht nur Stresemann und Briand. Lange vor ihnen hatten Schriftsteller wie Stefan Zweig, „Gesellschaftskünstler“ wie Harry Graf Kessler, politische Aktivisten und Publizisten das Ende der „Welt von gestern“ gespürt und ihre Programme für ein „neues“ Europa in Umlauf gebracht. In London diskutierten der Historiker Robert W. Seton-Watson und der Diplomat Milan Ćurčin über die Zukunft eines serbischen Staates und die „jugoslawische Idee“, während der tschechische Philosoph Tomáš Garrigue Masaryk seine Antrittsrede an der London School of Slavonic Studies 1915 dem „Problem der kleinen Nationen in der Krise Europas“ und der Idee der nationalen Selbstbestimmung widmete.
Paneuropa des Aristokraten
Zu den einflussreichsten und in seiner Langzeitwirkung herausragenden Europakonzepten zählt die von Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi mit großem Eifer und persönlichem Engagement betriebene Paneuropa-Union.
Der in Tokio geborene Coudenhove-Kalergi, Sohn einer vielsprachigen Diplomaten- und habsburgisch-böhmischen Aristokratenfamilie, verfügte über ein hervorragendes Netzwerk, das es ihm ermöglichte, in kürzester Zeit einflussreiche Persönlichkeiten für seine Bewegung zu begeistern und einzuspannen. Der deutsche Sozialdemokrat und Reichstagspräsident Paul Löbe leitete zeitweise die deutsche Sektion der Paneuropa-Union. Der österreichische Bundeskanzler Ignaz Seipel stellte der Paneuropa-Union Räumlichkeiten in der Wiener Hofburg zur Verfügung, wo die Zentrale eingerichtet wurde. Mit dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš G. Masaryk, den Coudenhove-Kalergi als „im wahren Sinne Europäer“ und „überzeugten Paneuropäer“ rühmte, verband ihn ein reger Briefwechsel.
Auf den Tagungen und Kongressen versammelte sich die zeitgenössische Elite, beeindruckt von der Strahlkraft der Idee und der Weltläufigkeit ihres Gründers. Zum ersten internationalen Paneuropa-Kongress 1926 kamen über 2000 Teilnehmer aus 24 Ländern nach Wien, in die alte Hauptstadt des untergegangenen Habsburgerreiches, dem Coudenhove-Kalergi zu neuem Glanz verhelfen wollte. Wien war für ihn das natürliche Zentrum einer Geistes- und Kulturaristokratie, die an die Stelle des imperialen Adels treten sollte; zwar ohne Titel – Coudenhove-Kalergi hatte 1919 seinen Grafentitel verloren –, aber nicht minder überlegen und auserwählt, die Geschicke Europas zu gestalten.
Europa-Union von Aristide Briand
Ungeachtet seines Engagements für die Paneuropa-Union entwarf Aristide Briand einen eigenen Plan für eine europäische Vereinigung, der bis heute – ebenso wie Coudenhove-Kalergis Konzept – oft als Vorläufer der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen wird. Angesichts der Weltwirtschaftskrise, die von den USA nach Europa überschwappte, wandte sich Briand im Mai 1930 mit einem „Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung“ an die Nationen des Völkerbundes.
Briand entwarf einen konkreten Organisationsplan bis hin zu einzelnen politischen Ausschüssen und einem geschäftsführenden Sekretariat. Er betonte die „Notwendigkeit eines repräsentativen und verantwortlichen Organs“ und schlug dafür eine „Europäische Konferenz“ vor – zusammengesetzt „aus den Vertretern aller europäischen Regierungen, die Mitglieder des Völkerbundes sind“. „Im Dienst des gemeinsamen Werkes der friedlichen Organisation Europas“ sollte die Konferenz „als wesentliches leitendes Organ der europäischen Union (…) in Verbindung mit dem Völkerbund“ arbeiten.
Gescheiterte Ideen
So einig sich die Europaentwürfe der Zwischenkriegszeit in ihrem Wunsch nach Frieden und Wohlstand waren, so gemeinsam war ihnen ihr Scheitern. Ihre Zeit währte kurz, grob umrissen handelte es sich um sechs Jahre zwischen 1924 und 1930, die bis heute als Goldene Zwanziger bekannt sind. Danach schlug die Weltwirtschaftskrise gänzlich durch und ließ den gewaltbereiten Revisionismus und die seit Langem wachsenden autoritären Regime in Ost und West, in Nord und Süd Oberhand gewinnen. Gustav Stresemann war bereits 1929 schwerkrank gestorben. Sein glückloser Nachfolger, Reichsaußenminister Julius Curtius, hatte wenig Interesse an einer deutsch-französischen Verständigungspolitik oder einem Zusammenschluss Europas. Mit dem Aufstieg Bernhard Wilhelm von Bülows in die zentrale Position des Staatssekretärs übernahmen die Kritiker Stresemanns und Anhänger einer aggressiven Revisionspolitik die Macht im Auswärtigen Amt. Die Locarno-Ära war beendet.
Von Bülow geißelte Briands Memorandum als schlecht camouflierten Versuch, Frankreichs Interessen zum Nachteil einer eigenständigen deutschen Außenpolitik durchzusetzen und „uns neue Fesseln anzulegen“.
Die Gründe für das Scheitern der Ideen einer europäischen Union waren vielfältig und umfassten persönliche Umstände ebenso wie die globalen und kontinentalen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der krisenhaften Gegenwart, die den Zustand EU-Europas einschließt, liegt es nahe, vom Scheitern in der Zwischenkriegszeit auf die Zukunft zu schließen; eine Analogie, die ebenso vorschnell wie unhistorisch ist. Der größte Unterschied besteht darin, dass die europäische Integration seit der deutsch-französischen Verständigung und dem Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, den auch Italien und die Beneluxländer 1951 unterzeichneten, Realität geworden ist.
Zur Erklärung der Gegenwart in die Vergangenheit zu schauen, ist ein zentraler Sinn von Geschichtswissen, auch wenn wir aus der Historie kaum zu lernen verstehen. Geschichte kann Pfade und Optionen sichtbar machen und zeigen, was passieren kann, aber nicht muss, wie und vielleicht auch warum eine Entwicklung so und nicht anders verlaufen ist. Es lohnt sich, nach den Problemlagen zu fragen, die zum Scheitern der historischen Europaideen führten. Es sind Problemlagen, die bis heute ungelöst sind und als Erbe des 20. Jahrhunderts gesehen werden können.
Fünf Problemlagen
Eine erste Problemlage betrifft die existenzielle Frage von Krieg und Frieden. Sie war der Ausgangspunkt aller Europaideen von Stresemann, Briand und Coudenhove-Kalergi. Sie stand am Anfang der europäischen Integration nach dem verheerenden Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs. Und sie wird heute erneut über die Zukunft des geeinten Europas entscheiden. Wird es der EU gelingen, den Krieg in der Ukraine so zu beenden, dass ein dauerhafter Frieden in Europa wiederhergestellt werden kann? Nach dem Erhalt des Friedensnobelpreises, der aus heutiger Sicht eher das Ende einer Ära als einen mutigen Neuanfang zu symbolisieren scheint, steht die Europäische Union vor ihrer größten Herausforderung, und es sieht momentan nicht danach aus, als ob sie ihr gewachsen wäre.
Die zweite Problemlage bezieht sich auf das Spannungsverhältnis zwischen Demokratien und Diktaturen, das der britische Historiker Ian Kershaw einst als Grundsignatur des 20. Jahrhunderts bezeichnete.
Die dritte Problemlage lenkt den Blick auf die nationale und transnationale Verfasstheit des Kontinents. Auch sie beherrschte die Diskurse in der Zwischenkriegszeit und ist bis heute nicht aufgelöst: Die Furcht vor dem Verlust der nationalstaatlichen Souveränität, die insbesondere die sogenannten kleinen Staaten Ost- und Südosteuropas erst durch die Pariser Friedensverträge erlangt hatten, bestimmte die Skepsis gegenüber den Plänen von Aristide Briand oder Coudenhove-Kalergi, die sich dessen bewusst waren, das Problem aber auch nicht lösen konnten. Als erster Staatspräsident der Tschechoslowakei unterstützte Tomáš G. Masaryk die Paneuropa-Union – allerdings nicht mit dem Ziel, die junge nationale Souveränität aufzugeben. Vielmehr erhoffte er sich einen nationalen Machtzuwachs durch die Einbindung in eine transnationale Gemeinschaft, die den Einfluss der klassischen europäischen Großmächte begrenzen konnte.
Koloniale Interessen der neuen Staaten, die Coudenhove-Kalergi durchaus bediente, spielten bei der Unterstützung der Paneuropa-Union eine Rolle.
Die vierte, heute ebenso drängende Problemlage lässt sich mit dem Bild eines abgehobenen Elitenprojekts beschreiben. In der historischen Europaforschung wird dieses Bild häufig mit Blick auf Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Union gezeichnet.
Abschließend möchte ich auf eine fünfte Problemlage hinweisen, die bislang kaum Gegenstand der historischen Europaforschung war: die Frage, inwieweit der politische Umgang mit den großen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen der Zwischenkriegszeit zum Scheitern liberaler Europaideen und von Institutionen wie dem Völkerbund beigetragen hat. Dass sich der Kontinent aufgrund der Revolutionen und Bevölkerungsverschiebungen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren „in Bewegung“ befand, haben zeitgenössische Autoren wie der Soziologe Eugene M. Kulischer eindringlich dokumentiert.
Mut, Furchtlosigkeit und Überzeugungskraft
Den Kontinent nach zwei Weltkriegen, nach dem Holocaust und in den Jahrzehnten des Kalten Krieges wieder aufgebaut zu haben, bleibt die grandiose Leistung aller Europäerinnen und Europäer. Sie haben sich aus den Abgründen des Totalitarismus herausgearbeitet, demokratische und liberale Ordnungen neu erfunden, Wohlfahrtsstaaten geschaffen, Widerstand geleistet und friedliche Revolutionen herbeigeführt. Europa hat im 20. Jahrhundert eine große historische Kraft bewiesen, die nicht zuletzt auf einem grundlegenden Selbst- und Werteverständnis beruht: der Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion, der Korrektur von Fehlern und dem Mut zur Veränderung. 2012 erhielt die Europäische Union in Anerkennung dieser historischen Leistung den Friedensnobelpreis. Leider verzichtete das Nobelpreiskomitee in seiner Begründung auf die Erwähnung von Stresemann oder Briand und konzentrierte sich ganz auf die europäische Integration nach 1945. Der Wunsch, dem Anlass entsprechend Erfolge zu erzählen, ist verständlich. Die Geschichte Europas, seiner Ideen und Konflikte, seiner Erfolge und Misserfolge ist jedoch facettenreicher und widersprüchlicher. Gerade diese Geschichte bietet Orientierung in der Gegenwart. Sie erinnert an den Mut, die Furchtlosigkeit und die Überzeugungskraft, die es braucht, um Frieden in einem liberalen und demokratischen Europa zu verwirklichen.