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Einsam und Radikal? | Einsamkeit | bpb.de

Einsamkeit Editorial Einsamkeit als soziale Frage Was hilft gegen Einsamkeit? Vier Initiativen im Gespräch über Erfahrungen, Erfolge und politische Rahmenbedingungen - Interview Über die Einsamkeit der Individuen in unseren Tagen. Eine Annäherung Sozial eingebunden, trotzdem einsam? Einsamkeitsempfinden Jugendlicher und junger Erwachsener Heimweh und Einsamkeit. Zur Situation älterer Zuwanderer in Deutschland Einsam und radikal? Eine psychologische Perspektive auf Einsamkeit und demokratiefeindliche Einstellungen Einsamkeit und Armut: Eine zirkuläre Beziehung Einsamkeit und Stadtentwicklung. Neue Anforderungen an lebendige Quartiere

Einsam und Radikal? Eine psychologische Perspektive auf Einsamkeit und demokratiefeindliche Einstellungen

Mareike Ernst Manfred E. Beutel Oliver Decker Elmar Brähler

/ 12 Minuten zu lesen

Das individuelle Einsamkeitsempfinden wird von vielen Faktoren beeinflusst. Umgekehrt wirkt Einsamkeit auf die gesellschaftliche Ebene zurück: Einsame Menschen sind weniger motiviert, an Wahlen teilzunehmen, und neigen eher zu autoritären Einstellungen.

In den vergangenen Jahren ist Einsamkeit verstärkt in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. So wird sie beispielsweise als Risikofaktor für die Gesundheit benannt, den es zu bekämpfen gilt. Dabei gerät oft ihre komplexe Bedingtheit in den Hintergrund, also die Tatsache, dass sie nicht „aus dem Nichts“ entsteht, sondern aus dem Zusammenspiel von Person und jeweiliger Situation, in der sich die Person befindet. Hierunter ist jeweils der private wie auch der größere gesellschaftliche Kontext zu verstehen. So wird Einsamkeit der sogenannten Diskrepanzdefinition folgend als quälende Erfahrung aufgefasst, die aus einer subjektiv wahrgenommenen Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlich vorhandenen sozialen Beziehungen resultiert.

Empirische Untersuchungen haben im Einklang mit dieser Definition gezeigt, dass das individuelle Einsamkeitsempfinden nicht nur von bestimmten Persönlichkeitseigenschaften beeinflusst ist, sondern regional und in Abhängigkeit von den Lebensumständen variiert und zum Beispiel im zeitlichen Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie zugenommen hat. Zugleich wirkt Einsamkeit auf die gesellschaftliche Ebene zurück: So sind einsame Menschen weniger motiviert, sich an Wahlen zu beteiligen, und neigen eher zu Verschwörungsmentalität und autoritären Einstellungen, was die Legitimation politischer Gewalt einschließt. Diese empirischen Beobachtungen sind bisher jedoch noch nicht auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene mit psychologischen Theorien der Einsamkeit in Beziehung gesetzt worden. Entsprechende Perspektiven könnten die motivationale Funktion der geäußerten Haltungen klären und dabei helfen, Präventions- und Interventionsmaßnahmen zu entwickeln.

In der Literatur dargestellte psychologische Wechselbeziehungen (Korrelate) legen einen gemeinsamen Kern von chronischer Einsamkeit und geringer gesellschaftlicher Solidarität nahe: So hängt Einsamkeit mit Gefühlen sozialer Bedrohung zusammen, sie erodiert Verbundenheit und interpersonales Vertrauen, und einsame Menschen sehen andere als weniger fair und vertrauenswürdig an. Darüber hinaus steht Einsamkeit mit einer geringeren Mentalisierungsfähigkeit im Zusammenhang – das heißt, das Vermögen, das eigene und das Verhalten anderer auf der Grundlage innerer mentaler Zustände (wie Gedanken, Gefühle, Überzeugungen und Absichten) zu interpretieren, ist weniger ausgeprägt. Diese persönliche Fähigkeit ist gesellschaftlich relevant, denn sie ermöglicht (soziales) Lernen, sich empathisch in andere einzufühlen, ihre Perspektive einzunehmen und auch die Möglichkeit zu reflektieren, dass ihr Blick auf die Welt ein anderer sein kann als der eigene. Defizite in diesen Fähigkeiten fördern hingegen eine geringere Ambiguitäts- und Affekttoleranz und bedingen schwächere, weniger vertrauensvolle soziale Bindungen.

Wenn private oder gesellschaftliche Krisen das individuelle Vermögen überfordern, mit Unsicherheiten umzugehen, kann dies den Wunsch nach eindeutigen Lösungen verstärken. Autoritäre Strukturen erscheinen dann als besonders attraktiv, da sie den kognitiven Anforderungen einer pluralistischen und komplexen Gesellschaft einfache Erklärungen und hierarchische Ordnung entgegenstellen, beispielsweise indem die Verantwortung für gesellschaftliche Probleme externalisiert und auf Sündenböcke projiziert wird, die nicht als Teile eines Ganzen gesehen werden und als solche nicht mit-mentalisiert werden.

Schon Hannah Arendt argumentierte, dass eine „atomisierte Gesellschaft“, in der Individuen voneinander isoliert sind, den Boden für die Entstehung totalitärer Herrschaft bereite, da kollektive Identitäten und stabile soziale Beziehungen fehlen. In der Folge seien Menschen primär auf ihre eigenen Interessen fokussiert, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer größeren sozialen Einheit gehe verloren, und es werde auch nicht mehr durch kollektive Aktionen Widerstand geleistet. Somit entfremde Isolation nicht nur von anderen, sondern von der Gesamtheit politischer und sozialer Prozesse. Arendt prägte auch den Begriff des „radikal Bösen“ und beschrieb ihn als eine Form der moralischen Verfehlung, die sich durch die fundamentale Unfähigkeit zur Empathie auszeichne. Dieses radikal Böse sei nicht nur durch brutale Handlungen, sondern vor allem durch die Abwesenheit einer reflektierten, ethischen Auseinandersetzung mit dem anderen geprägt. Zugleich verweist Arendt auf eine kognitive Starrheit, die es Täter*innen unmöglich mache, alternative Perspektiven einzunehmen oder ethische Dilemmata zu durchdringen.

Trotz der beobachteten Überschneidungen zwischen demokratiefeindlichen Haltungen und mit Einsamkeit im Zusammenhang stehenden Affekten und Auffassungen, fehlt es an empirischen Untersuchungen, die diese Zusammenhänge in quantitativ-statistische Forschungsfragen übersetzen. In diesem Beitrag analysieren wir auf Basis einer repräsentativen Erhebung den Zusammenhang von Einsamkeit mit Autoritarismus, Gewaltbereitschaft, Rechtsextremismus und Verschwörungsmentalität. Dies geschieht zunächst ohne und dann mit statistischer Kontrolle soziodemografischer Faktoren. Anschließend werden interpersonales Vertrauen und Mentalisierungsfähigkeit als psychologische Einflussfaktoren überprüft und die Ergebnisse diskutiert.

Methode und Vorgehen

Die zugrunde liegenden Daten stammen aus der „Leipziger Autoritarismus Studie 2020“, einer repräsentativen Befragung der deutschen Bevölkerung, für die im Mai/Juni 2020 insgesamt 2503 Personen interviewt wurden. Die Interviewer*innen erfragten dabei auch soziodemografische Daten wie Geschlecht und Alter, Bildungsstand, Netto-Haushaltseinkommen und Anzahl der Personen im Haushalt. Aus den letztgenannten Angaben wurde nach einem standardisierten Verfahren das Haushalts-Äquivalenzeinkommen berechnet, also eine gewichtete Angabe über das im Monat zur Verfügung stehende Geld.

Darüber hinausgehende, qualitätsgesicherte Fragebogeninstrumente wurden eigenständig schriftlich beantwortet. Einsamkeit wurde anhand der Einsamkeitsskala der University of California (UCLA Loneliness Scale, kurz UCLA-LS) erhoben, die in ihrer Kurzform auf drei Fragen beruht: Die Teilnehmer*innen wurden gefragt, wie oft es ihnen an Gesellschaft mangelt, wie oft sie sich ausgeschlossen fühlen und wie oft sie sich von anderen isoliert fühlen. Das Antwortformat war dabei fünfstufig, von 0 (= nie) bis 4 (= sehr oft).

Die postulierten psychologischen Einflussfaktoren wurden wie folgt erhoben: Die Fähigkeit zur Mentalisierung wurde mit dem 15 Fragen umfassenden Mentalization Questionnaire erfasst. Die Items (zum Beispiel „Dass mich jemand wirklich gern hat, kann ich nur glauben, wenn es für mich ausreichend reale Beweise dafür gibt.“) wurden ebenfalls auf einer fünfstufigen Skala bewertet. Interpersonales Vertrauen wurde aufbauend auf etablierte Konzeptionen mit einer einzelnen Frage erhoben: „Manche Leute sagen, dass man den meisten Menschen trauen kann. Andere sagen, dass man nicht vorsichtig genug sein kann im Umgang mit anderen Menschen. Was ist Ihre Meinung dazu?“

Politische Haltungen und Einstellungen wurden wie folgt erhoben: Autoritarismus wurde mit der Authoritarianism – Ultrashort Skala ermittelt, bei der die Befragten drei Aussagen gewichten sollen, zum Beispiel „Bewährte Verhaltensweisen sollten nicht in Frage gestellt werden.“ Das Antwortformat war auch hier fünfstufig, von „stimme überhaupt nicht zu“ bis „stimme voll und ganz zu“. Gewaltbereitschaft wurde mittels zweier Fragen erfasst, wobei zwischen der Bereitschaft, selbst Gewalt anzuwenden, und der Akzeptanz von Gewalt, wenn sie von anderen verübt wird, differenziert wurde. Der Fragebogen zur rechtsextremen Einstellung – Leipziger Form erfasst sechs Facetten rechtsextremer politischer Einstellungen: Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus. Jeder Aspekt wurde mit jeweils drei Fragen überprüft, wie zum Beispiel mit der zu gewichtenden Aussage „Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland“. Zustimmung oder Ablehnung erfolgten dabei ebenfalls auf einer fünfstufigen Skala. Verschwörungsmentalität wurde mit einer Kurzversion der Conspiracy Mentality Scale zur Messung allgemeiner Verschwörungsüberzeugungen erfasst. Die Teilnehmer*innen bewerteten dabei auf einer siebenstufigen Skala ihre Zustimmung oder Ablehnung zu drei Aussagen, wie beispielsweise „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte“.

In den statistischen Analysen wurden die Zusammenhänge zwischen Einsamkeit und der interessierenden politischen Einstellung/Haltung untersucht, unter Kontrolle von dritten Variablen (zum Beispiel Einkommen). Dieses Vorgehen wurde gewählt, um potenzielle Einflüsse soziodemografischer Unterschiede auf die untersuchten Zusammenhänge herauszurechnen. Auch eine multiple lineare Regression kam zum Einsatz – eine statistische Methode, mit der in diesem Fall versucht wurde, die Unterschiede zwischen den befragten Personen, zum Beispiel bezogen auf rechtsextreme Einstellungen, auf Basis ihrer Unterschiede in anderen Merkmalen zu erklären, etwa durch das Bildungsniveau oder Einsamkeitsgefühle. „Multipel“ bedeutet hierbei, dass alle Merkmale zusammen auf ihre statistische Erklärungsfähigkeit geprüft wurden. So wird für jedes Merkmal sichtbar, wie relevant es ist, unabhängig davon, ob es mit den anderen Merkmalen zusammenhängt.

Ergebnisse

Mit Blick auf die Frage, inwiefern Einsamkeit mit politischen Haltungen zusammenhängt, zeigt sich in unseren Daten, dass es Korrelationen mit allen interessierenden Maßen gibt: Einstellungen zu Autoritarismus, Gewaltbereitschaft, Rechtsextremismus und der Hang zu Verschwörungserzählungen werden durch Einsamkeit verstärkt. Bezogen auf die drei Facetten der Einsamkeit, wie sie in der UCLA-LS abgefragt werden, zeigten sich jeweils mit dem Gefühl, außen vor zu sein, die stärksten Zusammenhänge. Die beobachteten Korrelationen waren bei Männern tendenziell stärker ausgeprägt als bei Frauen, mit dem größten Unterschied hinsichtlich der Gewaltbereitschaft.

Bei der Berücksichtigung soziodemografischer Merkmale wie Einkommen und Bildungsniveau schwächen sich manche Korrelationen ab (etwa mit Autoritarismus, Gewaltbereitschaft, Rechtsextremismus sowie Verschwörungsmentalität), jedoch nicht alle. Die unterschiedliche Relevanz der drei Einsamkeitsfacetten zeigte sich nach dieser Berechnung ähnlich, und auch die Unterschiede zwischen Männern und Frauen fielen wieder vergleichbar aus.

In den Regressionsmodellen wurde zuerst untersucht, wie Einsamkeit und die soziodemografischen Faktoren Alter, Geschlecht, Bildungsstand und Einkommen bestimmte Haltungen und Einstellungen erklären. Danach wurden zwei weitere Faktoren hinzugefügt: die Fähigkeit zur Mentalisierung und das Vertrauen in andere Menschen. Diese Ergänzung führte dazu, dass die Modelle eine bessere statistische Erklärung für die Haltungen und Einstellungen lieferten – dass Einsamkeit als Einflussfaktor also besser identifiziert werden konnte. Zum Beispiel wurden der Autoritarismus und die Billigung von Gewalt um etwa 6 Prozent besser erklärt, der Rechtsextremismus um 19 Prozent. Auch die verschiedenen Subkategorien des Rechtsextremismus wie Chauvinismus und Sozialdarwinismus wurden besser erklärt. Im Fall der eigenen Gewaltbereitschaft und der Verschwörungsmentalität spielte Einsamkeit allerdings keine zusätzliche Rolle, nachdem die anderen Faktoren eingeführt wurden. Das heißt, Einsamkeit konnte in diesen Modellen nicht besser erklären, warum Menschen bestimmte Haltungen oder Einstellungen haben. Wir prüften auch, ob diese Zusammenhänge über Altersgruppen hinweg und bei Männern und Frauen signifikant unterschiedlich waren – was jedoch nicht der Fall war.

Diskussion

Die Ergebnisse liefern empirische Einblicke zum Zusammenhang zwischen Einsamkeit und demokratiefeindlichen Haltungen in der deutschen Bevölkerung, bezogen auf mehrere Facetten wie Autoritarismus, Gewaltbereitschaft, Rechtsextremismus und Verschwörungsmentalität. Nach unseren Erkenntnissen ist Einsamkeit mit all diesen Einstellungen signifikant assoziiert. Die leichte Abschwächung des Zusammenhangs durch statistische Kontrolle soziodemografischer Unterschiede verweist auf die Relevanz dieser Unterschiede, die auch bei der regionalen Verteilung der Einsamkeit eine Rolle spielen dürften. Einsamkeit liegt demzufolge nicht nur in der Person, sondern auch in ihrem Umfeld, ihren vergangenen und aktuellen Möglichkeiten und Ressourcen begründet.

Die Tatsache, dass der Effekt von Einsamkeit jedoch nach wie vor statistisch nachweisbar ist, legt nahe, dass dieses quälende Gefühl – insbesondere der Eindruck, außen vor zu sein – das Potenzial hat, extremistische und autoritäre Haltungen zu fördern. Die Wahrnehmung, ausgeschlossen zu sein, ist der Aspekt des Fragebogens, der konzeptionell am engsten mit erlebter Ablehnung oder Zurückweisung durch andere verbunden ist (während die anderen Aspekte eher auf eine objektiv feststellbare soziale Isolation abzielen).

Frühere Studien, etwa mit dem sogenannten Cyberball-Paradigma, bei dem Proband*innen einen unangekündigten Ausschluss aus einem virtuellen Ballspiel erleben, konnten belegen, dass Zurückweisung starke negative Affekte mobilisiert und einen weniger freundlichen Umgang mit anderen zur Folge hat. Gleichzeitig spielten Persönlichkeitseigenschaften eine Rolle, es reagierten also nicht alle Teilnehmer*innen gleichermaßen (heftig) negativ. Auf gesellschaftlicher Ebene könnte das spezifische Gefühl der Zurückweisung den subjektiven Eindruck von Marginalisierung und Bedrohung intensivieren – ebenso wie die Abwehrreaktionen darauf, etwa das Gefühl, sich gegen „andere“ zur Wehr setzen zu müssen.

Eine andere Studie von 2023 zeigt, dass Menschen auch Wahlniederlagen der von ihnen unterstützten Partei als Ausgrenzung verarbeiten und dadurch zu ungünstigem Sozialverhalten motiviert sind. Das heißt, sie zeigen sich weniger kooperativ und solidarisch und haben eine geringere Bereitschaft, sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Diese Tendenzen bestätigen Hannah Arendts Konzept der „atomisierten Gesellschaft“, in der keine Teilhabe mehr an einer gemeinsamen sozialen oder politischen Identität besteht und Individuen sich auf ihre eigenen Interessen zurückziehen.

Interessanterweise zeigen unsere Ergebnisse bei Männern tendenziell stärkere Korrelationen von Einsamkeit mit demokratiegefährdenden Einstellungen als bei Frauen, insbesondere in Bezug auf Gewaltbereitschaft. Dies könnte auf sozial erwünschtes Antwortverhalten oder auf sozialpsychologische Mechanismen hindeuten, bei denen Männer eher zu extremen Handlungen greifen, etwa um Kontrolle oder Macht wiederzuerlangen. Darüber hinaus ist der Befund aufschlussreich, dass der Zusammenhang zwischen Einsamkeit und den untersuchten Haltungen auch in den Analysen bestehen bleibt, in denen die soziodemografischen Unterschiede statistisch kontrolliert werden. Dies deutet darauf hin, dass Einsamkeit eben doch ein Stück weit ein eigenständiger Hinweis (Prädiktor) für extreme Einstellungen ist, der nicht allein durch strukturelle soziale Faktoren erklärt werden kann.

Gleichzeitig stehen eine schlechtere Mentalisierungsfähigkeit und ein geringeres interpersonelles Vertrauen nicht nur eindeutig mit stärkeren demokratiefeindlichen Haltungen in Verbindung – diese psychologischen Merkmale erklären teilweise auch den Effekt, der zunächst der Einsamkeit zugeschrieben wurde. Einsamkeit könnte somit ihre Wirkung auf extremistische Einstellungen durch Beeinträchtigungen in der Fähigkeit zur Mentalisierung und einen Mangel interpersonellen Vertrauens entfalten.

Trotz dieser Erkenntnisse bleibt unklar, ob die beschriebenen psychischen Realitäten die ausgedrückten politischen Haltungen bedingen – oder ob es andersherum ist und die politischen Haltungen verallgemeinernde Denkweisen und Gefühle fehlender Zugehörigkeit hervorbringen. Auch sich wechselseitig verstärkende Zusammenhänge sind denkbar. Diese Überlegung ist insofern besonders relevant, da die Mentalisierungsfähigkeit des Menschen allgemein Schwankungen unterliegt. Menschen unterscheiden sich zwar grundsätzlich in der Ausprägung dieser Fähigkeit, ungeachtet vom theoretisch vorhandenen Potenzial kann es aber auch einen Unwillen zur Mentalisierung geben sowie Situationen, in denen eine Person emotional besonders gefordert ist und ihr übliches Vermögen unter Druck zeitweilig zusammenbricht.

Eine zunehmende politische Polarisierung und Radikalisierung könnte also Mentalisierungsdefizite fördern, etwa durch die Erzeugung starker negativer Affekte, zum Beispiel durch die Verbreitung von Bedrohungsszenarien, die komplexere Denk- und Einfühlungsvorgänge erschweren. Zudem kann die politische Polarisierung auch etablierte soziale Beziehungen belasten, wenn etwa enge Bezugspersonen die eigene politische Orientierung nicht teilen und dadurch das wohltuende Gefühl von Unterstützung und Verständnis seltener wird. Auch auf diese Weise können politische Haltungen direkt relevant für subjektiv erlebte Einsamkeit werden.

Mit der vorliegenden Untersuchung möchten wir weder Einsamkeit noch bestimmte politische Haltungen in die Nähe psychischer Pathologien rücken. Aber sie verdeutlicht, dass sowohl Gefühle individueller Zugehörigkeit als auch demokratierelevante Einstellungen von unseren Fähigkeiten und unserer Bereitschaft abhängen, uns unvoreingenommen und mitfühlend unseren Mitmenschen und ihren Perspektiven und Empfindungen zuzuwenden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Daniel Perlman/Letitia A. Peplau, Loneliness Research: A Survey of Empirical Findings, in: Letitia A. Peplau/Stephen E. Goldston (Hrsg.), Preventing the Harmful Consequences of Severe and Persistent Loneliness, Rockville 1984, S. 13–46.

  2. Vgl. Mareike Ernst et al., Does Loneliness Lie Within? Personality Functioning Shapes Loneliness and Mental Distress in a Representative Population Sample, in: Journal of Affective Disorders Reports 12/2023, Artikelnr. 100486.

  3. Vgl. dies. et al., Loneliness Before and During the COVID-19 Pandemic: A Systematic Review with Meta-Analysis, in: American Psychologist 5/2022, S. 660–677.

  4. Vgl. Das Progressive Zentrum et al., Extrem einsam? Die demokratische Relevanz von Einsamkeitserfahrungen unter Jugendlichen in Deutschland, Berlin 2023.

  5. Vgl. Stephanie Cacioppo et al., Loneliness and Implicit Attention to Social Threat: A High-Performance Electrical Neuroimaging Study, in: Cognitive Neuroscience 7/2016, S. 138–159.

  6. Vgl. Alexander Langenkamp, The Influence of Loneliness on Perceived Connectedness and Trust Beliefs – Longitudinal Evidence from the Netherlands, in: Journal of Social and Personal Relationships 7/2022, S. 2298–2322.

  7. Vgl. Gabriele Bellucci, Positive Attitudes and Negative Expectations in Lonely Individuals, in: Scientific Reports 1/2020, Artikelnr. 18595.

  8. Vgl. Mareike Ernst et al., Socially Isolated, but Not Lonely in Lockdown: Exploring the Role of Reflective Functioning as a Protective Factor in the Early Days of the COVID-19 Pandemic in Germany, in: Journal of Affective Disorders 362/2024, S. 201–208.

  9. Vgl. Patrick Luyten et al., The Mentalizing Approach to Psychopathology: State of the Art and Future Directions, in: Annual Review of Clinical Psychology 16/2020, S. 297–325.

  10. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München 1951.

  11. Vgl. dies., Denktagebuch. 1950 bis 1973, 2 Bde., München–Zürich 2002, hier: Bd. 1, S. 7.

  12. Teilnahmevoraussetzung waren ein Alter von mindestens 14 Jahren und ausreichende Deutschkenntnisse. Vgl. Oliver Decker/Elmar Brähler (Hrsg.), Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität, Leipziger Autoritarismus Studie, Gießen 2020. Zur Gewinnung der Stichprobe und den weiteren methodischen Details vgl. ebd., S. 27–34.

  13. Vgl. OECD, Divided We Stand: Why Inequality Keeps Rising, Paris 2011.

  14. Vgl. Mary E. Hughes et al., A Short Scale for Measuring Loneliness in Large Surveys: Results From Two Population-Based Studies, in: Research on Aging 6/2004, S. 655–672.

  15. Vgl. Maria C. Hausberg et al., Is a Self-Rated Instrument Appropriate to Assess Mentalization in Patients with Mental Disorders? Development and First Validation of the Mentalization Questionnaire (MZQ), in: Psychotherapy Research 6/2012, S. 699–709.

  16. Vgl. Rainer Forst, Toleranz im Konflikt: Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Berlin 2003.

  17. Vgl. Ayline Heller et al., Detecting Authoritarianism Efficiently: Psychometric Properties of the Screening Instrument Authoritarianism – Ultra Short (A-US) in a German Representative Sample, in: Frontiers in Psychology 11/2020, Externer Link: https://doi.org/10.3389/fpsyg.2020.533863.

  18. Vgl. Oliver Decker et al., Fragebogen zur rechtsextremen Einstellung – Leipziger Form (FR-LF), in: ders./Johannes Kiess/Elmar Brähler, Rechtsextremismus der Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose, Gießen 2013, S. 197–212.

  19. Vgl. Roland Imhoff/Oliver Decker, Verschwörungsmentalität als Weltbild, in: Decker/Kiess/Brähler (Anm. 18), S. 146–162.

  20. Vgl. Susanne Bücker et al., In a Lonely Place: Investigating Regional Differences in Loneliness, in: Social Psychological and Personality Science 2/2020, S. 147–155.

  21. Vgl. Sarah J. Clear et al., Mindfulness, Rejection, and Recovery of Positive Mood and Friendliness: A Cyberball Study, in: Emotion 8/2021, S. 1731–1743.

  22. Vgl. Mareike Ernst et al., The Effects of Social Exclusion on Response Inhibition in Borderline Personality Disorder and Major Depression, in: Psychiatry Research 262/2018, S. 333–339.

  23. Vgl. Nilüfer Aydin et al., Voters’ Feelings of Exclusion and Behavioral Intentions After Political Elections: Replicating and Extending Findings on Vicarious Exclusion, in: Group Processes & Intergroup Relations 6/2023, S. 1260–1280.

  24. Vgl. Luyten et al. (Anm. 9).

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Mareike Ernst, Manfred E. Beutel, Oliver Decker, Elmar Brähler für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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