„Die Heimat ist zur Fremde geworden, doch die Fremde noch nicht zur neuen Heimat.“ Mit diesem Satz lässt sich die Gemütslage vieler älterer Zuwanderer in Deutschland, vor allem aus der Türkei, prägnant zusammenfassen. Fragt man sie nach Zukunftsplänen, ohne dass es aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters höhnisch wirkt, so berichten viele zynisch: „Wir werden bald zurückkehren in die Heimat. Dann aber nicht im Passagierraum, sondern im Frachtraum als Leiche.“ Neben Zynismus drückt sich darin aber auch ein scharfer Realitätssinn aus: Die erste „Gastarbeiter“-Generation versucht angemessene Worte zu finden für die Tragik, dass sich der als „Kurztrip zum Reichtum“ geplante Deutschlandaufenthalt als frommer Selbstbetrug erwiesen hat – und sich die Fremde auch über 60 Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen mit der Türkei noch immer nicht wie Heimat anfühlt. Zugleich wird deutlich, dass von der alten Heimat, die nun eigentlich zur Fremde geworden ist, nie endgültig Abschied genommen wurde. Im anhaltenden Heimweh lebt sie als stets vernehmbare Hintergrundmusik fort.
Damit komme ich zum Fokus dieses Artikels, zur Einsamkeit und zum Heimweh von Zugewanderten, vor allem der ersten Generation, die in ihren letzten Lebensjahren von einer nicht mehr genau beschreibbaren einstigen Heimat träumen. Machen wir uns aber nichts vor: Unter Einsamkeit kann potenziell jeder und jede von uns leiden – egal wie alt und ob mit oder ohne Zuwanderungsgeschichte. Es kommt nicht von ungefähr, dass die öffentliche und politische Sorge über die Verbreitung von Einsamkeit gewachsen ist und es etwa im Vereinigten Königreich seit 2018 eine ministerielle Anbindung für das Thema gibt – allerdings nicht als eigenes „Einsamkeitsministerium“, wie gelegentlich berichtet wird. Denn längst ist Einsamkeit nicht mehr nur privates Schicksal, sondern ein gesellschaftliches Problem, mit Konsequenzen für den sozialen Zusammenhalt, das Gesundheitssystem, die Wirtschaft, die Gestaltung von Städten – sowie für das demokratische Gemeinwesen insgesamt. Exemplarisch sei hier nur erwähnt, dass Einsame zum Beispiel ein 30 Prozent höheres Sterberisiko haben und Einsamkeit eher zu Demokratiedistanz und radikalen politischen Überzeugungen führt.
Vor allem die psychologische Forschung hat die Folgen von Einsamkeit und sozialer Zurückweisung herausgearbeitet: Ausgehend von der Annahme, dass das Bedürfnis, dazuzugehören (belongingness), ein essenzielles Handlungsmotiv des Menschen ist, zeigen eine Vielzahl kognitions- und klinisch-psychologischer Studien Folgendes:
Einsamkeit beschädigt in erster Linie die Selbstregulationsfähigkeit des Menschen, und zwar sowohl emotional als auch kognitiv. Denn Selbstregulation – verstanden als Steuerung der eigenen Emotionen und der Gedanken – ist die zentrale Fähigkeit für das eigene Wohlbefinden, aber indirekt verantwortlich auch für das Wohlbefinden anderer, denn es verändert unsere Interaktionsqualität.
Einsame Menschen neigen stärker zu Aggression, zu selbstverletzendem Verhalten und zu geringeren prosozialen Aktivitäten. Sie zeigen darüber hinaus geringere kognitive Leistungen.
Einsamkeit führt zu einer stärkeren Stresswahrnehmung und reduziert dadurch die individuelle Immunabwehr.
Menschen, die insbesondere von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen werden – also Diskriminierungserfahrungen machen, was für viele Zugewanderte tägliche Realität ist –, zeigen erhöhte Kriminalitätsraten, weil sie unter anderem durch die geringere soziale Einbindung weniger wechselseitiges Vertrauen aufbauen. Naheliegend ist die Deutung, dass ausgegrenzte Menschen durch Machtausübung und Provokation ihrerseits versuchen, das Gefühl von Kontrolle wiederherzustellen und andere dadurch dazu zwingen, sie als Menschen zur Kenntnis zu nehmen, sie zu „sehen“.
Einsamkeit und sozialer Ausschluss führen zum Verlust eines als bedeutungsvoll wahrgenommenen Lebens, zu einem geringerem Selbstwert. Wer unter Einsamkeit leidet, fühlt sich eher als „Verlierer“ und deutet dies als selbstverschuldet. So erleben sich einsame Menschen weniger effektiv und handlungsmächtig, zeigen zugleich auch weniger Empathie mit anderen, was zu einer stärkeren Abgrenzung führt.
Einsamkeit ist also vielfach mit Machtverlust und Unterlegenheitsgefühlen verbunden, was wiederum auf einen engen Zusammenhang von Einsamkeit und Minderheitenstatus verweist.
Wir können also – in Anlehnung an einen Bibelvers – festhalten: Es ist nicht gut, dass der Mensch einsam sei. Nun verdichten sich diese Probleme bei einer bestimmten Gruppe besonders stark, und zwar bei den älteren Zugewanderten: Generell zeigt die Forschung, dass Ältere im Allgemeinen zu einer besonders gefährdeten Gruppe gehören, da sie stärker auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Bei ihnen kommen mehrere Faktoren zusammen, die Isolation begünstigen: etwa Erkrankungen, abnehmende Mobilität oder Altersarmut; nicht zuletzt ist auch der Migrationshintergrund ein Risikofaktor.
Ältere Zuwanderer sind zunächst numerisch in der klaren Minderheit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Die erste Zuwanderergeneration kennzeichnet zwar eine ausgeprägte Neigung, interethnische Kontakte und Freundschaften zu pflegen – aber die Kontaktmöglichkeit unter seinesgleichen ist schon rein statistisch geringer, was Einsamkeit fördert. Sie sind darüber hinaus eine sprachliche Minderheit; insbesondere die erste Generation hatte noch nicht die Verständigungsmöglichkeiten späterer Generationen. Ältere Zuwanderer schwimmen also nicht im selben „semiotischen Meer“ wie die Einheimischen, teilen nicht dieselbe symbolisch strukturierte Umwelt. Schon vom antiken römischen Dichter Ovid wird berichtet, dass er Heimat als jenen Ort verstand, in dem die eigene Sprache gesprochen wird. Auf die Gegenwart übersetzt heißt das: Heimat ist der Ort, wo man verstanden wird – und es ist der Ort, an dem man die Welt versteht, weil sie einem vertraut ist.
Nicht zuletzt ist – wie bei allen Senioren – die Mobilität im Alter eingeschränkt, sodass die spontane Kontaktpflege außerhalb des räumlichen Nahbereiches sehr schwierig ist. Auch spielen soziale Medien für ältere Menschen eine geringere Rolle, um unkompliziert Kontakt zu halten.
Alter, Armut und Einsamkeit
Die Angehörigen der ersten Zuwanderergeneration der 1960er und 70er Jahre sind heute fast ausnahmslos im Rentenalter und haben die spezifischen Entwicklungsaufgaben dieser Lebensphase zu meistern – darin unterscheiden sie sich kaum von den Einheimischen. Mental sind sie jedoch, und das ist eine Besonderheit dieser Gruppe, mit sogenannten Bilanzierungsrisiken konfrontiert. Das heißt, wenn sie sich rückblickend der Frage stellen, ob bestimmte Lebensentscheidungen richtig waren, werden sie unweigerlich auch Bilanz ziehen, ob sich das Verlassen der Heimat, des gewohnten Ortes und geliebter Menschen gelohnt und sich der Traum von einer Verbesserung der Lebensbedingungen für sich und die Familie sowie für weitere Angehörige im Herkunftsland verwirklicht hat. Fällt die Antwort negativ aus, ist man im Alter also schlimmstenfalls einsam und arm, so ist das ein Einfallstor für Depressionen und weitere Vereinsamung, zumal eine Rückkehr mit großer Scham verbunden ist, wenn das ursprüngliche Migrationsziel verfehlt wurde.
Generell besteht ein enger Zusammenhang von Armut und Einsamkeit: Das Vereinsamungsrisiko bei armen Menschen ist doppelt so hoch wie bei Menschen mit gutem Einkommen.
Insofern kommen bei älteren Zuwanderern mehrere Risikofaktoren zusammen. Manchmal hat auch der starke Wunsch, bald wieder in die Heimat zurückkehren zu können, dazu geführt, dass das Thema soziale Sicherung im Alter vernachlässigt oder das Ersparte in riskante Unternehmungen im Herkunftsland investiert wurde. Zudem ist ein weiterer Bruch zu beobachten: Ältere Migranten haben häufig die Erwartungen der eigenen Eltern erfüllt und sich in ihrer aktiven Berufsphase um deren Pflege gekümmert; zugleich können sie jedoch kaum erwarten, dass sich ihre eigenen Kinder, die in die moderne Leistungsgesellschaft mit ihrem beschleunigten Lebensrhythmus und höherem Mobilitätsdruck hineingewachsen sind, im selben Maße um sie kümmern werden.
Heimweh als Reaktion auf Einsamkeit?
Die Konstellation „alt und einsam“ in Kombination mit „fremd“ ist bestens dazu geeignet, den Boden für Heimweh zu bereiten: Das Heimweh gehört in der Selbstauskunft zu den auffälligsten psychischen Befindlichkeiten älterer Türkeistämmiger in Deutschland.
Manchmal kann Heimweh eine Form des Eskapismus sein und als Flucht aus dem Alltag dabei helfen, die mit ihm verbundenen Sorgen zu bewältigen. Aus psychologischer Perspektive kann Heimweh jedoch auch ein Hindernis für die Aneignung kultureller Orientierungen am neuen Ort sein. Wer sich stark an seinen Ursprungsort gebunden fühlt, tut sich bisweilen schwerer, sich auf eine neue Umgebung einzulassen, sich zu öffnen und neue Wurzeln zu schlagen, neue soziale Bindungen einzugehen und auch Verantwortung für den neuen Lebensort zu übernehmen. Eine geringere Identifikation mit der neuen Umwelt wiederum kann die Sehnsucht nach vertrauten Orten und Menschen aus der eigenen Herkunftsregion nochmals verstärken. Aus psychoanalytischer Perspektive kann Heimweh als Sehnsucht nach dem „verlorenen Paradies“ der Kindheit gedeutet werden: Der an Heimweh leidende idealisiert diese vergangene, vertraute Lebenswelt und benennt mit Heimat den Ort des kindlichen Glücks, aber auch das Gefühl des anstrengungslosen Versorgtseins. Darin liegt auch ein leiser, unbewusster Protest gegen die moderne Leistungsgesellschaft, in der Anerkennung vor allem von der eigenen Arbeitsleistung abhängt.
Einer der bedeutendsten Dichter, Mystiker und Humanisten der türkischen Geschichte, Yunus Emre, der im 13. Jahrhundert in Anatolien lebte, prägte den folgenden Zweizeiler: „Nicht ich bin in der Fremde, die Fremde ist in mir“ („Ben gurbetde değilim, gurbet benim içimde“). Darin drückt sich ein Gefühl aus, das wir vermutlich alle kennen, und das wie eine anthropologische Konstante jenseits ethnischer, nationaler und historischer Begrenzungen die Verlorenheit und Einsamkeit des Menschen beschreibt. Fühlen wir uns so, ist uns die Welt „un-heimlich“, sie ist kein Heim mehr; das elementare Bedürfnis nach Geborgenheit, Wärme und Vertrautheit ist in die Ferne gerückt. Fast wie eine Replik darauf mutet die 500 Jahre spätere Beschreibung des frühromantischen deutschen Dichters Novalis an, wonach alle Philosophie eigentlich Heimweh sei beziehungsweise das Bestreben, überall zuhause sein zu wollen. Diese Vorstellung nur als eine romantische Marotte zu denken, wird der Aktualität und Dringlichkeit des Phänomens jedoch nicht gerecht. Auch die Philosophin Karen Joisten hat 2003 den Lebenslauf des Menschen als „Heim-weg“ charakterisiert, worin sich sowohl das Bedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit, aber auch der Prozess des (zu sich) Unterwegsseins spiegelt.
Aber wie sehr sind wir tatsächlich zuhause in der gedeuteten Welt? Und wie sehr sind wir zuhause, wenn wir die Welt, die Um-welt, doch nicht so gut deuten können, weil wir darin Fremde sind oder bloß als Zugewanderte wahrgenommen werden? Seit jeher gelten Menschen, die in einfachen Verhältnissen in eher ländlichen Gegenden groß geworden sind, als stärker anfällig für Heimweh und kulturelle Anpassungsschwierigkeiten. Sie sind aufgewachsen mit einem anderen Arbeitsrhythmus, einem anderen Verhältnis zur Zeit und einer anderen Wahrnehmung gesellschaftlicher Räume. Dieser Aspekt ist insbesondere für die erste Generation türkeistämmiger Zuwanderer in Deutschland relevant, die vielfach aus dörflichen Provinzen Anatoliens stammen und die insofern eine große Diskrepanz zwischen ihrer früheren und ihrer neuen Umgebung wahrnahmen und diese mental zu überbrücken hatten.
Wer heute noch von Heimweh spricht, erntet meist skeptische Blicke; denn Heimweh hat etwas Anachronistisches: Wie der Soziologie Richard Sennett aufschlussreich dargelegt hat, besteht die zentrale Aufgabe des flexiblen Menschen im modernen Kapitalismus ja gerade darin, keine Heimat und kein Heimweh im engeren Sinne zu haben, an keinen festen Ort, keine Freunde und Verwandte gebunden, sondern vollmobil und überall einsetzbar zu sein, sich im eigenen Aufstiegswillen also weder von sozialen noch territorialen Begrenzungen behindern zu lassen.
Wen aber Heimweh beschleicht, dem fehlt das Gefühl der Geborgenheit, der Zuversicht und der existenziellen Sicherheit, das scheinbar von bestimmten Orten ausgeht: etwa von einem Dorf, einer Weide, einem Wald oder einer Kirche oder Moschee. Aber sind es tatsächlich nur die Orte, also die vertrauten Häuserfassaden, die bekannten Berge und Täler, die vielfach in türkischen Restaurants und Imbissen an Heimat und Herkunft erinnern? Bei genauer Betrachtung stellen wir fest: Heimat ist eigentlich nicht nur ein räumlicher, sondern immer auch ein sozialer Ort. Deshalb ist Heimweh nicht nur eine Sehnsucht nach Daheim, nach vertrauten Orten und Dingen, sondern allen voran – der Einsamkeit entfliehend – auch nach vertrauten Personen. Angesichts von Globalisierung, verstärkter Mobilität, Entflechtung enger sozialer Netze zugunsten einer „weltweiten Vernetzung“, die zugleich eine globale Heimatlosigkeit mit sich bringt, ist dies umso mehr der Fall. Ist Heimweh also möglicherweise eine psychische Reaktion auf Einsamkeit?
Heimweh hat nicht nur einen Ortsbezug, sondern betrifft auch unser Verhältnis zur Zeit: Es signalisiert eine Entwertung der gelebten Wirklichkeit und eine imaginierte Aufwertung der Vergangenheit. Je länger der Mensch von der Heimat entfernt ist, desto stilisierter, verzerrter werden die Bilder und Mythen, die von der einstigen Heimat konstruiert werden. Befriedigungspotenziale der Gegenwart und der Zukunft werden auf diese Weise in die Vergangenheit verlagert: „Früher, in der Heimat, wo alles noch so schön war“ – so in etwa werden die nostalgischen Erzählungen um das Selbst eingeleitet. Der Titel eines berühmten türkischen Lieds der Sängerin Ayten Alpman, die vor allem in den 1970er Jahren populär war, fängt diese Imagination ein: „Bir başkadır benim memleketim“ („Doch ganz anders ist es in meiner Heimat“).
Vielfach erweist sich die imaginierte Wärme und Geborgenheit der ursprünglichen Heimat jedoch als Illusion, von der diejenigen, die von Deutschland in die Türkei zurückgekehrt sind, einiges zu berichten wissen. Sie spüren das Schwinden der überhöhten Geborgenheit; plötzlich wird die einstige Heimat zu einem gewöhnlichen und von seiner ursprünglichen Wertigkeit befreiten tristen Ort wie jeder andere.
Wie kann (neue) Beheimatung gelingen?
Bislang ist nur eine, die defizitäre Seite der Geschichte erzählt worden: Zugleich gilt für viele Angehörige der nachkommenden Generationen die Einsicht, dass zwar jeder Mensch irgendwo geboren und aufgewachsen ist, aber dieser Ort und die Menschen, die die Entwicklung des Selbst geprägt haben und immer noch prägen, wechseln können. In einer globalisierten Welt können es verschiedene Orte und Menschen sein. Heimat gibt es eben auch im Plural. Und so haben viele der Nachkommen der Einwanderer ihre Heimat in Deutschland gefunden. Umgekehrt empfinden nicht alle Menschen den Ort, an dem sie geboren, oder das Land, in dem sie aufgewachsen sind, zwangsläufig als ihre Heimat. Das geht insbesondere Menschen so, die in ihrem Herkunftsland bedroht und verfolgt wurden und anderswo Asyl suchen mussten. Ubi bene, ibi patria: Wo es mir gut geht, da ist meine Heimat – angesichts einer immer mobiler, aber auch immer fragiler werdenden Welt erscheint dieses Sprichwort als sinnvolle Überlebensstrategie.
Beheimatung selbst ist ein lebenslanger Prozess des Sich-Verbindens mit Orten, Menschen, Gruppen, geistigen und kulturellen Bezugssystemen. Nichts anderes meint auch Integration im Sinne einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe. Was heißt das für die politische Gestaltung von Heimat für Zugewanderte?
Zunächst können wir sagen, was es nicht heißen darf: So ist jegliche Ausgrenzung schädlich für Beheimatung – etwa durch Versuche, kollektiv zu definieren, wer zu „uns“ gehört und wer nicht, oder durch Gegenüberstellungen von „wir“ und „die“, also durch Prozesse des othering. Darüber hinaus gilt es, in der öffentlichen politischen Kommunikation der Versuchung zu widerstehen, so etwas wie eine über Recht und Gesetz hinausgehende Leitkultur festlegen zu wollen, die diejenigen ausgrenzt, die nicht passgenau sind. Moderne Gesellschaften wie die der Bundesrepublik sind gekennzeichnet durch eine Vielfalt von Lebensgeschichten und Lebensstilen. Das Konzept der Leitkultur jedoch unterstellt, dass der Zusammenhalt unserer Gesellschaft auf einer irgendwie gearteten Homogenität basiert – was im Gegensatz zu jüngeren sozialwissenschaftlichen Beschreibungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens steht. Diesen ist vielmehr gemein, dass sie in den Regeln des Rechts und den Verfahren der Demokratie die Grundlage des sozialen Zusammenhalts sehen und Formen der Heimat gemeinsam und konsensual gestaltet werden.
In vielen Heimatkonzepten wird zudem unterstellt, dass Loyalitäten und Identifikationen ein Nullsummenspiel seien – je mehr Bezüge es zur Herkunft gebe, desto weniger Bezüge gebe es zur neuen Gesellschaft. In der Integrationsforschung hat sich jedoch seit Langem die Erkenntnis durchgesetzt, dass weder eine Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft eine Rückweisung der Verbundenheit mit der Herkunftskultur bedeutet, noch die Identifikation mit der Herkunftskultur eine Ablehnung der Aufnahmegesellschaft markiert. So können Zuwanderer je nach Situation zwischen verschiedenen kulturellen Bezugs- und Orientierungssystemen wechseln und Mehrfachintegrationen sowie Mischidentitäten aufweisen, ohne dass dies als ein Zeichen von psychischer Störung oder sozialer Exklusion beziehungswiese Selbstexklusion zu werten ist.
Die Rahmenbedingungen dafür, wie jede und jeder in einer pluralen Gesellschaft den Begriff „Heimat“ für sich füllen kann, lassen sich politisch gestalten. Will man Beheimatung begünstigen, sollten das Bildungssystem, der Arbeitsmarkt, die Familienpolitik, die Stadtentwicklung und anderes mehr so beschaffen sein, dass sie allen offenstehen – unabhängig von Alter, Geschlecht, Behinderung, Migrationshintergrund oder anderen individuellen Merkmalen. Politik kann Signale setzen, Leistungen honorieren, wertschätzen und fördern, sie kann Ausgrenzung vorbeugen und auf sie reagieren. Sie kann aber auch kontraproduktiv sein. Wenn wie in den 1980er Jahren „Rückkehrprämien“ angeboten werden, wird Menschen explizit signalisiert, dass sie auch nach Jahren des Zusammenlebens nicht erwünscht sind – was sie in Heimatlosigkeit und Einsamkeit treibt.
Um die Teilhabe von Zugewanderten zu verbessern, sind sowohl individuelle als auch institutionelle Veränderungen notwendig. Eine erleichterte Einbürgerung ist ein entscheidendes Element, um Zugehörigkeitsgefühle und Partizipationsmöglichkeiten zu stärken. Menschen, die nicht nur als Objekte politischer Steuerung angesprochen werden, sondern sich selbst als handelnde Subjekte erleben, indem sie sich einbringen können, entwickeln ein höheres commitment, ein stärkeres Verantwortungsgefühl auch für das Gemeinwesen.
Einstellungswandel sowie Programme und Maßnahmen sollten dabei nicht allein von Vertretern und Organisationen der Mehrheitsgesellschaft erwartet werden. Ganz im Gegenteil: Zuwanderer sollten sich in allen gesellschaftlichen Belangen (stärker) einbringen und (öfter) das Wort ergreifen, nicht nur zu migrations- und integrationsbezogenen Fragen, damit auch im Diskurs die Normalität der gesellschaftlichen Vielfalt deutlich(er) wird.
Der Sozialphilosoph Udo Tietz hat 2002 versucht, den Begriff der „Gemeinschaft“ neu zu fassen und dabei auch eine weitere Umschreibung für „Heimat“ geliefert. In seinem Werk „Die Grenzen des Wir“ fragt er, wo wir uns beheimatet fühlen: Beheimatet fühle man sich innerhalb jener Gruppen, in denen die anderen zum fraglosen Wir im engeren Sinne gehören; es sind jene Gemeinschaften oder Gruppen, wo die eigenen Überzeugungen und Praktiken nicht rechtfertigungsbedürftig sind, also solche Gemeinschaften, wo wir stets von einem implizit tragenden Grund an Einstellungen, Haltungen, Wertungen ausgehen.