Gemeinsam kochen, laufen oder einfach nur zuhören? Was wirklich gegen Einsamkeit hilft, ist noch nicht erforscht. In diesem Gespräch kommen Menschen zu Wort, die trotzdem schon etwas tun: Christoph Busch und Katharina McLean vom Zuhör-Kiosk, der in einer Hamburger U-Bahn-Station Passanten ein offenes Ohr anbietet; Mechthild Böll, geschäftsführende Vorständin des Vereins Fair.Stärken aus Köln, der sich um Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Verhältnissen kümmert; Tanja Westhöfer-Häde, Trainerin beim Styrumer Turnverein, die in einem wöchentlichen Lauftreff namens „Walkie-Talkie“ Frauen und Mütter überwiegend mit Migrationsgeschichte zusammenbringt; und schließlich Maximilian Voß , der mit seinem Bruder in Poppendorf in Mecklenburg-Vorpommern einen Dorfladen gegen Einsamkeit eröffnet hat.
Einsamkeit ist als gesellschaftliches Problem auf der politischen Agenda angekommen. Sie alle arbeiten schon länger in Projekten, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Wie oft hören Sie in Ihrer täglichen Arbeit Sätze wie: „Ich bin so einsam!“?
Christoph Busch – In unseren Kiosk kommt niemand und sagt: „Ich bin so einsam!“ Dieses Wort ist in Mode gekommen, fällt bei uns aber nie. Die Leute kommen und erzählen ihre Geschichte, stellen aber nicht selber eine Diagnose.
Maximilian Voß – Für die Menschen bei uns im Dorfladen ist das eher ein Stigma, auch wenn sie vielleicht einsam sind. Wer bei uns mitmacht, wird sofort als einsam betrachtet. Dadurch haben viele das Gefühl, dass sie nach Außen erklären müssen, dass sie es eigentlich gar nicht sind. Und das ist schade, weil es so schnell auch zu einem Stempel wird, den man aufgedrückt bekommt, und dann bemitleiden einen alle. Das ist gar nicht das, was wir wollten.
Wie ist das bei den Frauen und Müttern, die beim Lauftreff zusammenkommen? Sagen die, dass sie einsam sind?
Tanja Westhöfer-Häde – Welche Mutter ist schon allein? Sie hat ja mindestens ein Kind. Trotzdem kann man als Mutter einsam sein, wenn man alleine zu Hause sitzt, stillt, wickelt. Aber Frauen mit Migrationsgeschichte oder Fluchterfahrung kommen oft ganz ohne Sprache zu unseren Treffen, sie können das noch gar nicht so klar kommunizieren.
Mechthild Böll – Das Wort „Einsamkeit“ ist tatsächlich schon die theoretische Metaebene. Das nutzt auch keiner unserer Jugendlichen. Aber dennoch ist es bei uns so, dass es in jeder Gruppe ein bis mehrere Kinder gibt, die sagen: „Ich habe keine Freunde.“ Oder wo die Eltern sagen: „Das Kind ist immer allein.“
Sie alle haben Begegnungsstätten geschaffen, wo sich Menschen treffen und gemeinsam etwas unternehmen. Inwiefern sind die Menschen, die zu Ihnen kommen, einsam, auch wenn sie es nicht direkt so ausdrücken?
Katharina McLean – Uns begegnen im Kiosk durchaus Symptome von Einsamkeit. Wir hören ja die Geschichten, die sonst kein Ohr finden. Oder wir begegnen Menschen, die gerade einen akuten Redebedarf haben, den sie nirgendwo sonst abgedeckt bekommen. Beides kann unterschiedliche Gründe haben. Es kann daran liegen, dass man alt geworden ist und die Gesprächspartnerinnen verstorben sind. Oder man hat ein Thema, über das man sonst mit niemandem sprechen kann. Oder man ist durch ein soziales Netz gefallen und begegnet uns dann als neutrale Anlaufstelle.
Wer sind die Menschen, die den Zuhör-Kiosk besuchen?
Katharina McLean – Da ist alles dabei, Jugendliche wie alte Menschen, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.
Christoph Busch – Und weil schon von Stigmatisierung die Rede war: Wir versuchen immer darauf hinzuweisen, dass man auch Glück teilen kann, nicht nur Unglück. Damit nicht jeder bei uns gleich angeschaut wird, als hätte er ein schweres Leben.
Herr Voß, Ihr Dorfladen richtete sich ursprünglich an Senioren. Inwiefern ist diese Gruppe besonders von Einsamkeit betroffen?
Maximilian Voß – In Mecklenburg-Vorpommern ist die Einsamkeit generell sehr hoch, weil es ein Flächenland ist mit vielen Dörfern, viele junge Leute ziehen weg. Die Senioren kommen zu uns, weil zum Beispiel das Umfeld verstorben ist, der Mann – vielleicht auch noch der Hund. Die sind dann wirklich alleine. Es kommen aber auch viele, die sich einfach in einer Gemeinschaft wiederfinden wollen und die auch noch gerne kochen und backen.
Und das tun vor allem ältere Menschen?
Maximilian Voß – Wir wollten gerne alte Rezepte und Tugenden konservieren, sowas wie Dörren oder Räuchern. Und das geht halt besonders gut mit Senioren, die es dann vielleicht – und das ist jetzt der nächste Schritt – jungen Menschen beibringen. Mittlerweile machen alle Altersgruppen bei uns mit. Unsere jüngste Mitarbeiterin ist 14 Jahre alt, die Älteste 76.
Um Kinder und Jugendliche geht es bei Ihnen, Frau Böll. Wie macht sich dort die Einsamkeit bemerkbar?
Mechthild Böll – Die besteht darin, tatsächlich keine Freunde zu haben oder sich ausgegrenzt zu fühlen. Natürlich sind alle Kinder viele Stunden am Tag in der Schule. Manche spüren aber auch dort, dass sie nicht dazugehören. Das Phänomen Mobbing hatten wir immer schon. Wenn das nicht gut von den Bezugspädagoginnen bearbeitet wird oder gar über einen längeren Zeitraum andauert, dann gibt es überhaupt kein Selbstvertrauen mehr. Bei anderen merken wir: Die wissen nicht so recht, wo sie hin sollen.
Was löst das bei jungen Menschen aus?
Mechthild Böll – Diese Kinder und Jugendlichen haben zunehmend weniger Übung, sich mit anderen auszutauschen, zu streiten, Dinge zu entwickeln. Einige wissen gar nicht, wie man sich in einer Gruppe verhält. Die sind richtig verschüchtert. Manchmal können wir am Anfang nicht mal im Kreis sitzen, weil sie es nicht aushalten, dass andere Kinder sie angucken.
Frau Westhöfer-Häde, wer sind die Frauen, die zu Ihnen zum Laufen kommen?
Tanja Westhöfer-Häde – Wir haben syrische, pakistanische und afrikanische Frauen. Wir haben deutsche und türkische Mütter. Die meisten sind Ende 20, unsere älteste Teilnehmerin ist 80. Viele Frauen haben Fluchterfahrungen. Bei ihnen geht es erst mal darum, in Bewegung zu kommen und sich Geschichten anzuhören oder zu sehen, wie unser Netzwerk tickt. Mit der Zeit bekommen sie dann den Mut, ihre Geschichten zu erzählen. Einsamkeit hat so viele Facetten, und bei uns in der Gruppe vereinen sie sich.
Es ist noch nicht umfassend erforscht, was wirklich gegen Einsamkeit hilft. Sie bieten in Ihren Projekten unterschiedliche Angebote oder Aktivitäten an. Warum ist zum Beispiel das Sitzen und Reden in einem U-Bahn-Kiosk ein gutes Mittel gegen Einsamkeit?
Christoph Busch – Ich glaube, für unsere Gäste ist es ein großartiges Erlebnis, einfach alles sagen zu können, wie es ihnen durch den Kopf geht, es nicht filtern zu müssen. Allein das ist natürlich gut gegen Einsamkeit. Und diese Erfahrung, sich jemandem anzuvertrauen und Sachen zu erzählen, die man dem besten Freund nicht erzählen würde, die ist sehr intensiv.
Warum geht das besonders gut im Sitzen?
Christoph Busch – Wir haben während der Corona-Pandemie versucht, Spaziergänge im Park anzubieten. Das war nicht dasselbe, weil es viel offener ist. Die Ecke im Kiosk, in der die Leute sitzen, ist abgehängt. Da kann man nicht reingucken. Und diese intime Situation hilft sehr, auch mutig zu sein.
Welche Rolle spielt die Anonymität, die der Kiosk garantiert?
Christoph Busch – Die ist entscheidend. Einsamkeit entsteht ja auch dadurch, dass man anderen Menschen nicht mehr so richtig vertraut. Bei uns muss man nicht befürchten, dass das, was man sagt, bei nächster Gelegenheit gegen einen verwandt wird. Bei uns kann man alles offen aussprechen und geht kein Risiko ein.
Katharina McLean – Darauf legen wir besonderen Wert: die ideologische Freiheit des Ortes. Weder wollen wir einen Fokus auf ein bestimmtes Thema oder eine Aufgabe legen, noch wollen wir die Anonymität und die weltanschauliche Neutralität aufbrechen. Und das ist, glaube ich, der große Gewinn an diesem Kiosk: dass wir ungebunden sind, keine Beratungsstätte sind, sondern ein neutraler Ort, der sich immer so gestaltet, wie die Gäste sind.
Welche Geschichten aus dem Kiosk-Alltag sind Ihnen besonders im Kopf geblieben?
Katharina McLean – Meine Lieblingssituationen sind, wenn wir zufällig gefunden werden. Manchmal fahren Menschen in der Bahn an uns vorbei, steigen im nächsten Bahnhof aus und fahren wieder zurück, weil sie spontan den Mut gefasst haben. Das sind Menschen, die mit etwas unterwegs sind: zum Beispiel ein junger Vater, der sein Kind gerade nicht sehen darf und rastlos durch die Gegend fährt. Und dann findet er einen Ort für diese Geschichte. Am Liebsten sind mir aber die Schnacks am Fenster. Weil der Einstieg nahezu immer ist: „Eigentlich habe ich ja gar nichts zu erzählen.“ Daraus entstehen die wertvollsten Gespräche.
Im Dorfladen wird nicht gesessen, sondern gekocht. Warum sind Kartoffelschälen und Karottenschnippeln ein guter Katalysator?
Maximilian Voß – Weil das auch ohne viel Reden funktioniert. Es ist niederschwellig, weil viele Kochen und Backen als Hobby betreiben. Dadurch ist es noch mal einfacher, eine Gruppendynamik zu erzeugen. Und es wird auch zusammen gegessen. Für viele Senioren ist das total frustrierend, wenn sie in eine Tageseinrichtung gehen, dort etwas malen, und am Ende wird es weggeschmissen. Wichtig ist deshalb auch, dass die Produkte, die bei uns entstehen, im Dorfladen und in unserem Online-Shop verkauft werden.
Öffnen sich die Leute beim Kochen?
Maximilian Voß – Ja, vor allem, weil sie dann Verantwortung für einzelne Tätigkeiten übernehmen. Dann werden die Alteingesessenen von den Neuen gefragt, wie man etwas schnippeln muss, zum Beispiel, und so entsteht schon die erste Kommunikation. Das funktioniert auch sehr gut mit Kindern. Immer dienstags kochen unsere Senioren mit den Kindern aus der örtlichen Kita ein Drei-Gänge-Menü. Da merkt man richtig, wie bei den Kindern und den Senioren der Kopf aufgeht. Alle sind füreinander da, die Senioren zeigen ein bisschen, wie es geht, und die Kinder nehmen das auf und bringen Freundlichkeit und Spaß rein.
Frau Böll, mit welchen Aktivitäten versuchen Sie, die Kinder und Jugendlichen aus ihrer Isolation zu holen?
Mechthild Böll – Wir fangen sehr kleinteilig an. Eine Reihe von Kindern bei uns hat überhaupt nicht gelernt, auf sich zu vertrauen oder sich überhaupt zu spüren. Viele aus unserer Zielgruppe wissen nicht, ob ihnen kalt oder warm ist, oder ob sie Hunger haben, weil sie gelernt haben, dass es ihnen besser geht, wenn sie es nicht spüren. Dann fangen wir an mit Fragen: Wie geht es euch heute? Sie antworten dann erstmal nur mit Daumen hoch oder Daumen runter.
Wie lange dauert es, bis erste kleine Fortschritte geschehen?
Mechthild Böll – Wir fragen erst nach etwa drei Wochen tiefer nach: Warum geht es dir heute gut? Mit der Zeit lernen die Kinder, in sich hineinzuspüren, und können dann etwas formulieren. Manche sagen dann: „Ich habe heute noch nichts gegessen.“ Manche kommen um 15 Uhr in eine Gruppe und hatten nur eine Tüte Chips zum Mittagessen.
Wie wichtig ist dieses Sich-selber-Spüren, um Einsamkeit zu überwinden?
Mechthild Böll – Das ist extrem wichtig. Wenn ich mich nicht spüre, habe ich ja auch kein Bedürfnis nach irgendetwas. Dann sitze ich zu Hause, unternehme nichts und spüre auch nicht das Bedürfnis danach. Und das führt dann zu Einsamkeit. Wenn Kinder nicht lernen, sich miteinander in der Gemeinschaft zu bewegen, dann wird das auch im weiteren Leben nicht unbedingt klappen.
Wie führen Sie die Kinder da heran?
Mechthild Böll – Am Anfang ist das Thema Regeln ganz wichtig. Dem nähern wir uns mit einem Spiel ohne Regeln, das finden sie dann ganz doof. Das provozieren wir natürlich. Dann stellen die Kinder selber die Regeln auf.
Was kommt dabei heraus?
Mechthild Böll – Niemanden auslachen, wenn er redet, nicht anspucken, nicht treten. Ein kleines BGB für die Gruppe sozusagen. Das gibt den Kindern Halt und Vorhersehbarkeit. Dann können auch Beziehungen zur Pädagogin oder unter den Kindern entstehen. Anfangs haben sie ja kaum die Skills, Freundschaften zu führen. Das ändert sich im Laufe der Zeit. Zum Teil arbeiten wir über Jahre mit den Kindern. Und dann arbeiten wir daran, dass sie positive Erfahrungen machen.
Sie fahren mit den Kindern auch mal ein paar Tage weg, in die Eifel zum Beispiel. Was bewirken solche Ausflüge?
Mechthild Böll – Die sind wichtig, weil Kinder in Armut verdammt wenig erleben. Die fahren nie weg, haben keine Erfahrung in der Welt. Wir fahren entweder auf einen Reiterhof oder in unser eigenes Zeltlager. Dann sind sie mitten in der Natur, und das kennen die Stadtkinder gar nicht. Die wohnen in Wohnblocks und Hochhäusern und waren zum Teil noch nie im Wald. Die haben Angst, Erde anzufassen. So lernen sie das Leben auch mal ganz anders kennen, und es eröffnet sich eine neue Welt.
An welche Erfolge erinnern Sie sich?
Mechthild Böll – Man muss sehr genau betrachten, welche Veränderung auf uns zurückgeht und welche nicht. In der kindlichen Entwicklung tut sich in ein, zwei Jahren ja sowieso ganz viel. Zum Beispiel hatten wir mal einen Jungen, der durch seine familiäre Situation schwer traumatisiert war, der mit dem Messer auf andere losging. Der kam mit elf Jahren zu uns und blieb, bis er 15 wurde. Wir haben ihn immer in einer sehr kleinen Gruppe mit kompetenten Pädagoginnen betreut. Er ist auch einmal auf den Pferdehof mitgefahren. Da merkten wir schon, dass er in der Beziehung zu einem Pferd Fähigkeiten hatte, die er sonst mit Menschen überhaupt nicht zeigte. Er hat geschmust. Das war Wahnsinn, wie dieses Kind auf einmal zu diesem Pferd so eine Beziehung entwickelte.
Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?
Mechthild Böll – Ja, drei Jahre später traf ihn einer unserer Trainer im Supermarkt. Er erzählte, dass er in einer Ausbildung zum Pferdewirt sei. Dass er es geschafft hat, die Schule zu beenden und eine Ausbildung mit Pferden zu machen, das hat uns schon sehr glücklich gemacht.
Über welche Themen kann man beim Laufen sprechen, Frau Westhöfer-Häde?
Tanja Westhöfer-Häde – Von A bis Z. Bei Müttern geht es natürlich viel um Care-Arbeit, um ihre Nöte und Sorgen mit den Kindern. Es geht um Themen wie: Was koche ich heute? Mein Gott, heute habe ich mir meine Haare nicht gemacht! Ich möchte auch mal ins Kino gehen, finde aber nicht die Zeit. Dann sind es natürlich auch die Fluchtgeschichten, wenn die Frauen sich öffnen. Und die Sorgen, die Frauen mit Migrationshintergrund haben, dass sie an den Ämtern scheitern. Ihre Nöte mit der Bürokratie.
Erleichtert das Laufen die Kommunikation?
Tanja Westhöfer-Häde – Ich finde schon. Wenn man in Bewegung kommt, bringt man auch in sich etwas in Bewegung. Für manche Frauen ist der Lauftreff auch so eine Art Entschuldigung von den Pflichten zuhause: Ich habe einen festen Termin, den muss ich wahrnehmen. Mütter brauchen das oft immer noch. Man macht die Care-Arbeit, aber zum Sport gehen? Dafür ist keine Zeit, weil: Wer putzt denn dann das Badezimmer?
Wie überwinden Sie die anfängliche Sprachlosigkeit der Frauen?
Tanja Westhöfer-Häde – Ähnlich wie Frau Böll haben wir in der Laufgruppe mit Smiley-Karten angefangen, damit die Frauen erstmal zeigen können: Wie geht es ihnen eigentlich? Damit ein Bewusstsein entsteht, dass es jeder einmal schlecht geht. Klar, wenn die Frauen dann anfangen, ihre Geschichten zu erzählen, dann wird es ein bisschen tiefgreifender – und das sind schöne Erlebnisse. Es entsteht aber auch ein Netzwerk, das die Frauen ganz praktisch nutzen. Wenn eine krank ist, bringen die anderen ihr eine Suppe vorbei. Eine Frau ist umgezogen, da haben wir mit ihr einen Backofen getragen und eine Waschmaschine organisiert. Das ist auch ein Erfolg: dass sie sich trauen, nach Hilfe zu fragen, und diese auch bekommen.
Auch wenn Ihre Projekte verschieden sind: Im Kern scheint es bei allen auch ums Zuhören zu gehen. Kann Zuhören eigentlich jeder?
Christoph Busch – Zuhören kann jeder, da bin ich ganz sicher. Das Entscheidende ist, dass man selbst die Klappe hält. Verblüffenderweise muss man dazu kein Senior sein. Wir haben auch viele junge Zuhörer, die sich das zutrauen. Wir sind eben keine Therapeuten, bei uns ist es ein zwischenmenschliches Gespräch.
Frau Böll, Ihr Team besteht unter anderem aus ausgebildeten Pädagogen und Sozialarbeiterinnen. Würden Sie auch sagen, dass Zuhören etwas ist, was jeder kann?
Mechthild Böll – Grundsätzlich sollte es jeder können, klar. Aber ich glaube nicht, dass dem so ist. Wir arbeiten auch deshalb nur mit Fachkräften, weil es doch ganz schwierig ist bei Kindern und Jugendlichen – die sich nicht öffnen wollen, die sich ausgegrenzt fühlen – einfach nur zuzuhören. Die fangen gar nicht erst an zu sprechen. Von daher hilft es schon sehr, wenn man gelernt hat, wie man Kinder fördert und aktiv zuhört.
Christoph Busch – Wir sind natürlich in einer glücklicheren Situation – obwohl wir auch viel Unglück hören –, weil die Leute, die bei uns in den Kiosk reinkommen, sich entschlossen haben, etwas für sich zu tun. Die legen von sich aus los. Da sind Sie in einer völlig anderen Situation.
Wie ist das bei den anderen?
Maximilian Voß – Viele, die bei uns dazukommen, sind empathisch, und da gehört ein aktives Zuhören irgendwie dazu. Bei uns geht es aber ja vor allem darum, einen Gemeinschaftsgedanken zu haben und nicht nur zuzuhören, sondern auch aktiv Ideen beizusteuern. Damit es mehr ein Austausch ist. Das muss bei uns nicht so tiefgründig professionell sein.
Tanja Westhöfer-Häde – Dem kann ich mich anschließen. Jemand muss mir auch etwas erzählen wollen, damit ich zuhören kann. Wir kommen beim Laufen automatisch ins Gespräch. Die Frauen kommen freiwillig zu uns, und sie müssen uns nichts erzählen. Aber wenn sie mir etwas erzählen wollen, können sie das vertrauensvoll tun. Ich glaube, diese Seite muss man als möglicher Zuhörer auch erst mal nach außen senden.
Die Bundesregierung hat im Dezember 2023 eine Strategie gegen Einsamkeit beschlossen. Merken Sie das schon in Ihrem Alltag?
Maximilian Voß – Wir haben mittlerweile 25 Leute zu bezahlen: Festangestellte, Ehrenamtliche, die eine Pauschale bekommen, Bundesfreiwilligendienstler. Und ich habe jeden Monat Angst, die Gelder nicht zusammenzubekommen. Bei uns laufen die Minister und die Staatssekretäre rein und raus, gucken sich das an, machen ein Foto – was ja auch schön ist, weil wir die Aufmerksamkeit auch wollen –, aber sie bringen nie großartig was mit. Wir jammern nicht, aber es ist so, dass wir etwas Gutes tun wollen, aber ganz häufig das Gefühl haben, dass wir ein bisschen gehandicapt sind.
Christoph Busch – Für mich ist das Hochkochen von Einsamkeit vor allen Dingen ein Medienthema. Ich glaube, dass die Politik da nur draufgesprungen ist. Da werden Beauftragte benannt, und es werden Gelder versprochen. Wir sind Gott sei Dank in der glücklichen Lage, dass wir von privaten Spenden leben können, von Leuten, die einfach das Projekt gut finden.
Mechthild Böll – Ich beobachte schon, dass das Thema Einsamkeit seit ein, zwei Jahren auch in der Politik angekommen ist. Wir haben aber die Situation, dass es noch nicht viel Forschung zu den Ursachen gibt. Und folglich auch nicht zu der Frage, was dagegen wirken kann. Wir alle haben in der Praxis Erfahrung. Es gibt jetzt die ersten Studien und Befragungen, das dauert aber. Folglich gibt es auch von der Politik kein Förderprogramm des Bundes gegen Einsamkeit. Ich würde aber nicht ausschließen, dass es das vielleicht einmal geben wird.
Wie sieht es aktuell mit Förderungen aus?
Mechthild Böll – Es gibt viele andere Förderprogramme, die aus meiner Sicht auf diese Thematik einzahlen. Ich kann gar nicht alle Förderanträge stellen, die ich stellen könnte, allein aus Kapazitätsgründen. Trotzdem ist es immer schwer für einen einzelnen Verein oder ein Projekt, wirklich an die Gelder zu kommen. Diese Anträge sind hochkomplex, eine Wissenschaft für sich. Das ist, finde ich, das Problem, nicht die Fördertöpfe selber.
Tanja Westhöfer-Häde – Die Bürokratie, die hinter den Förderungen steckt, ist schon sehr schwierig. Und die muss ich als Mutter, Hausfrau, Übungsleiterin und kommissarische Sportwartin mal eben nebenbei bewältigen. Abends oder nachts, wenn ich nicht schlafen kann, suche ich dann etwas raus, wo ich mich noch bewerben könnte. Da müssen die Hürden abgebaut werden, damit man da leichter rankommt.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Tanja Westhöfer-Häde – Ich glaube, dass das Ehrenamt mehr Anerkennung braucht. Wenn man sich anguckt, wie viele Stunden da auch unentgeltlich abgerissen werden: Da kann sich eine Politik nicht länger drauf ausruhen.
Mechthild Böll – Ich wünsche mir, dass sich die Kommunen mehr darum kümmern, dass es noch viel mehr kleine, bürgernahe Treffpunkte gibt. Sei es ein Jugendtreff, ein Bürgerhaus, ein Kiosk plus X, was auch immer. Damit die Menschen in Wohnortnähe eine Kontaktmöglichkeit haben.
Katharina McLean – Ökonomische Sicherheit, das wäre was. Wir können den Kiosk gerade über Privatspenden finanzieren, aber das ist immer Glückssache. Wir wissen vielleicht für ein halbes Jahr, dass wir die Miete bezahlen können, aber danach ist es auch schon wieder vorbei. Es wäre schön, wenn wir eine Sicherheit hätten. Zeit, Raum und ökonomische Sicherheit sind die Grundkonstanten, mit denen ganz viel möglich wird.
Maximilian Voß – Und vielleicht ein Aspekt noch: Ich bin in der Gründerszene aktiv. Es ist für viele Gründer total unsexy, irgendwas im sozialen Sektor zu machen, weil die Einstiegshürden hoch sind und die finanzielle Sicherheit nicht so gegeben ist. Bei 300 Gründern sind da, wenn überhaupt, zehn Sozialunternehmen dabei. Das finde ich schade, weil es gute Ideen gibt. Das könnte man mit ein paar Erleichterungen sicher besser hinkriegen.