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Einsamkeit Editorial Einsamkeit als soziale Frage Was hilft gegen Einsamkeit? Vier Initiativen im Gespräch über Erfahrungen, Erfolge und politische Rahmenbedingungen - Interview Über die Einsamkeit der Individuen in unseren Tagen. Eine Annäherung Sozial eingebunden, trotzdem einsam? Einsamkeitsempfinden Jugendlicher und junger Erwachsener Heimweh und Einsamkeit. Zur Situation älterer Zuwanderer in Deutschland Einsam und radikal? Eine psychologische Perspektive auf Einsamkeit und demokratiefeindliche Einstellungen Einsamkeit und Armut: Eine zirkuläre Beziehung Einsamkeit und Stadtentwicklung. Neue Anforderungen an lebendige Quartiere

Einsamkeit als soziale Frage

Claudia Neu Berthold Vogel

/ 15 Minuten zu lesen

Einsamkeit wirkt sich negativ auf das gesellschaftliche Miteinander aus. Die Krise demokratischer Strukturen ist nicht die Schuld der Einsamen, aber die zu beobachtende institutionelle Erosion ist auch nicht ohne die verbreiteten Einsamkeitsgefühle zu erklären.

Einsamkeit ist mehr als ein individuelles Gefühl und eine persönliche Empfindung. Einsamkeit ist eine soziale Frage, denn Einsamkeit steht stets in einer Beziehung zu gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Veränderungen. Einsamkeit kann zu einem vollständigen Rückzug aus sozialen Beziehungen führen sowie zu physischen und psychischen Erkrankungen. Einsamkeit wirkt sich zudem negativ auf das gesellschaftliche Miteinander aus. Denn einsame Menschen beteiligen sich im Vergleich zu nichteinsamen Menschen weniger am gesellschaftlichen und politischen Leben. Sie fühlen sich oft nicht (mehr) als Teil der Gesellschaft. Sie beginnen, ihre Mitmenschen und ihre Umwelt negativ und als feindlich wahrzunehmen. Deshalb verlieren sie auch das Interesse, Gesellschaft mitzugestalten. Zugleich mangelt es einsamen Menschen – wiederum im Vergleich zu ihren nichteinsamen Mitbürgerinnen und Mitbürgern – oft an politischem Vertrauen in demokratische Institutionen, insbesondere in Parteien und Parlamente, aber auch in Verwaltungen und Justiz. Einsame Menschen nehmen weniger häufig an Wahlen teil und neigen zudem eher zu Verschwörungserzählungen. Einsamkeit kann deshalb auch zu einem „undemokratischen Gefühl“ werden, das den Zusammenhalt einer Gesellschaft, Formen der Solidarität, der Loyalität, des Gemeinwohls tendenziell schwächt.

Die Schwäche und die Krise demokratischer Strukturen und Institutionen ist nicht die Schuld der Einsamen, aber die institutionelle Erosion, die wir zurzeit erleben, ist auch nicht ohne weit verbreitete Gefühle und Erfahrungen der Einsamkeit zu erklären. Vor diesem Hintergrund plädieren wir dafür, Einsamkeit als eine soziale, politische und institutionelle Herausforderung zu verstehen, die an den Grundfesten demokratischer Gesellschaften rührt. Demokratien sterben langsam, Einsamkeit ist dabei ein stiller, aber keineswegs folgenloser Prozess, dessen Wirkung nicht abrupt und jäh einsetzt, der aber soziale Bindungen und Verpflichtungen erodieren lässt. Einsamkeit bedeutet Bindungsverlust, und sie erschwert es, den eigenen Ort in der sozialen Welt zu finden.

Doch Schritt für Schritt: Zunächst stellt sich die Frage, was Einsamkeit als soziale Erfahrung bestimmt. Ebenso interessant ist, auf welchen Ebenen Einsamkeitserfahrungen zu einer sozialen Frage werden. Das kann auf der institutionellen Ebene sein, wenn öffentliche Räume schwinden und gesellschaftliche Kreuzungspunkte fehlen. Das kann auf der familial-sozialen Ebene stattfinden, wenn das familiäre oder verwandtschaftliche Umfeld schrumpft oder durch räumliche Distanzen immer mehr getrennt wird. Und auch in der Arbeitswelt können Einsamkeitserfahrungen virulent werden, wenn Belegschaften in temporäre Projektgruppen zerfallen, Arbeitsverträge nur noch befristet vergeben werden und soziale Begegnungen im Betrieb seltener werden, sei es durch Homeoffice oder auch durch den Wegfall sozialer Routinen wie Fahrgemeinschaften oder das gemeinsame Kantinenessen. Schließlich sollen auch Perspektiven einer konstruktiven Einsamkeitspolitik angesprochen werden, die weder Geselligkeit verordnet noch glaubt, Einsamkeit alleine durch sozialpädagogische Projekte aufheben zu können. Einer konstruktiven Einsamkeitspolitik muss es vielmehr um den Erhalt und die Schaffung von Gelegenheitsstrukturen und veränderten öffentlichen Räumen gehen. Wenn wir auf Einsamkeit als soziale Frage schauen, dann geht es nicht um eine Rückkehr in bessere, vermeintlich gemeinschaftlichere Zeiten, sondern um demokratische Innovationen, die ein gesellschaftliches Umfeld für Begegnung, für attraktive Öffentlichkeiten und für soziale Orte schaffen.

Was ist Einsamkeit?

Einsamkeit trifft unseren menschlichen Kern. Menschen sind als soziale Wesen auf Begegnungen und Bindungen emotional angewiesen. Die Evolutionspsychologie geht davon aus, dass starke Gruppenbindungen und gemeinsames Handeln eine ursprüngliche Grundvoraussetzung für das menschliche Überleben waren. Wird ein solches universelles Grundbedürfnis nicht befriedigt, nehmen Menschen diesen Mangel schmerzhaft wahr. Deuten wir dieses Warnsignal richtig, dann greifen wir zum Telefonhörer, melden uns bei einer Freundin, planen einen Abend mit dem Partner oder verabreden uns zu einem Kneipenabend oder Theaterbesuch. Gelingt es aber über eine längere Zeit nicht, dieses Gefühl des Kontaktmangels abzustellen, dann kann sich Einsamkeit chronifizieren. Für die Psychologen Daniel Perlman und Letitia Anne Peplau ist dann auch Einsamkeit als Nichterfüllung sozialer Erwartungen zu verstehen. Sie definieren Einsamkeit als „die unangenehme Erfahrung, die auftritt, wenn das Netz der sozialen Beziehungen einer Person in irgendeiner wichtigen Weise, entweder quantitativ oder qualitativ, als defizitär erlebt wird“. Einsamkeit wird hier als negative Erfahrung definiert, die sich klar zum wohltuenden Alleinsein und zum freiwilligen Rückzug in die Einsamkeit abgrenzen lässt, wie man sie beispielsweise bei spiritueller Einkehr sucht. Zugleich erlebt die betreffende Person ihr soziales Netzwerk – sei es quantitativ oder qualitativ – als nicht ausreichend. Das heißt, der Mangel an sozialen Kontakten wird erst dann zum Problem, wenn der Wunsch nach (mehr) sozialem Kontakt mit den tatsächlichen Kontakten abgeglichen und als unzulänglich befunden wird.

Von diesem eher quantitativen Ansatz – beispielsweise zu wenig Freundschaften, zu wenig Verbindung zu Verwandten – ist ein Verständnis von Einsamkeit zu unterscheiden, das auf die „geringe“ Qualität an sozialen Beziehungen abstellt. Womöglich bestehen eine feste Beziehung, Partnerschaft oder Ehe, eine scheinbar intakte Familie oder ein vorgeblich geselliger Freundeskreis. Doch die persönlichen und sozialen Binnenverhältnisse sind kalt, abwertend und nicht unterstützend, sodass Gefühle der Einsamkeit eben auch innerhalb von sozialen Beziehungen aufkommen können. Wie die Quantität und Qualität von Beziehungen eingeschätzt werden, hängt dabei von persönlichen Vorlieben („lieber eine gute Freundin“) und von gesellschaftlichen Vorstellungen ab, was als sozial akzeptiertes Maß an Kontakten gilt. So scheint die Qualität der sozialen Kontakte – etwa einer Freundschaft oder Paarbeziehung – für das Einsamkeitserleben entscheidender als die Quantität der Beziehungen zu sein. Daher kann schon die (intime) Nähe zu einem Menschen den entscheidenden Unterschied machen.

Einsamkeit ist offenbar ein sehr vielschichtiges Phänomen, das sich vor allem auch in Verbindung mit anderen Gefühlen entfaltet. So zeigt gerade der kulturelle Vergleich, dass Einsamkeit einerseits überall auf der Welt vorkommt und auch ähnlich erlebt wird. Andererseits geht Einsamkeit aber auch mit weiteren Emotionen – wie Angst, Hoffnungslosigkeit oder Selbstabwertung – einher. Daher ist es sinnvoll, Einsamkeit nach Beziehungsformen zu differenzieren: Menschen, die an emotionaler Einsamkeit (auch: intimer Einsamkeit) leiden, sehnen sich nach emotionaler Nähe, nach engen persönlichen Beziehungen wie einer gelingenden Partnerschaft oder einer liebevollen Eltern-Kind-Beziehung. Soziale Einsamkeit (auch: relationale Einsamkeit) entsteht, wenn ein (größeres) soziales Netzwerk vermisst wird, etwa Freundinnen und Freunde oder eine Clique. Von kollektiver Einsamkeit spricht man, wenn Menschen sich Gruppen, Vereinen, Religionsgemeinschaften oder der Gesellschaft insgesamt nicht (mehr) zugehörig fühlen, beispielweise weil sie sich sozial aufgrund von Alter oder Armut oder infrastrukturell aufgrund ihres peripheren Wohnorts oder mangelnder Daseinsvorsorge abgehängt sehen.

Die subjektive Emotion der Einsamkeit ist von der sozialen Isolation zu unterscheiden, die sich auf den messbaren und somit objektiven Grad der Vereinzelung beziehungsweise des Ausschlusses aus der Gesellschaft bezieht. Soziale Isolation wird als Zustand geringsten sozialen Kontakts beziehungsweise größter Distanz zu Mitmenschen verstanden. Wer kennt sie nicht, die Eigenbrötler, die meinen, am besten allein zurechtzukommen und andere eher als Zumutung erleben? Die Mehrheit der Betroffenen wird soziale Isolation eher nicht als selbstgewählt empfinden. Soziale Isolation bestimmt sich also – anders als das subjektive Gefühl der Einsamkeit – nach objektiven Merkmalen, insbesondere der Funktionalität von Gemeinschaften und Netzwerken. Dabei geht es beispielsweise um die Zusammensetzung von Freundeskreisen oder die Häufigkeit des Kontakts zu Mitmenschen. Für den European Social Survey ist beispielsweise dann soziale Isolation gegeben, wenn die Befragten antworten, dass sie weniger als einmal im Monat persönlichen Kontakt zu Freundinnen und Freunden, Verwandten oder Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen unterhalten.

Alleinsein, Isolation und Einsamkeit sind demnach begrifflich zu trennen. Sie beschreiben unterschiedliche soziale „Aggregatzustände“, die auch unterschiedlich bewertet werden. Das subjektive Gefühl der Einsamkeit und die realisierte Anzahl der sozialen Kontakte müssen sich keineswegs decken. Es gibt Menschen, die sozial integriert sind, sich aber – zum Beispiel in einer Beziehung – dennoch einsam fühlen. Vice versa müssen Menschen, die sehr wenige Kontakte unterhalten, keineswegs Einsamkeit erfahren. Doch selbst wenn man dies in Rechnung stellt, bleibt es bei zahlreichen Überschneidungen und Rückkopplungen zwischen dem subjektiven Gefühl der Einsamkeit und (mangelnden) gelebten Sozialkontakten. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass sich Einsamkeit und soziale Isolation gegenseitig bedingen. Denn wir wissen, dass eine geringe Anzahl an sozialen Kontakten ein Prädiktor für Einsamkeit ist – also ein Faktor, der Einsamkeit begünstigt. Dies legt zugleich nahe, Einsamkeit nicht binär zu begreifen: Menschen sind also nicht entweder ganz einsam oder vollkommen nichteinsam. Vielmehr handelt es sich bei der Einsamkeit um einen Prozess, der sich über eine längere Zeit entwickeln und chronisch werden kann.

Risiken und Faktoren der Einsamkeit

Neben der Phasenspezifik von Einsamkeit gilt es zudem zu berücksichtigen, dass es kein klares Risikoprofil der Einsamkeit gibt: Einsamkeit kann im Prinzip jeden Menschen zu jeder Zeit treffen. Zwar sind es häufig Schicksalsschläge wie der Verlust eines geliebten Menschen, eine plötzliche schwere Krankheit oder langanhaltende Arbeitslosigkeit, die anfällig machen für Einsamkeit. Ähnlich einsamkeitsriskant sind Armut, Alleinleben, eine Behinderung oder auch Migration. Dennoch findet sich hier keine Kausalität. Ein kritisches Lebensereignis führt nicht zwangsläufig zu Vereinsamung. Viele Menschen finden einen Weg des Umgangs mit persönlichen Verlusten, oft sind Familie oder Freundeskreis eine Stütze. Fehlen in Krisenzeiten jedoch Vertraute, an die man sich wenden kann, so ist dies oft Auslöser für Einsamkeit.

Somit rücken gesellschaftliche Gründe für Einsamkeitserleben und Isolationsprozesse immer stärker in den öffentlichen und wissenschaftlichen Fokus. Allerdings steht die wissenschaftliche Forschung mit Blick auf gesellschaftliche Auslöser beziehungsweise Verstärker für Vereinsamung – wie demografischer und sozialer Wandel, Werte und Kulturen, Zeit und Raum – noch ganz am Anfang. Zudem lässt sich die Wirkrichtung der einzelnen gesellschaftlichen Entwicklungen nicht immer klar zuordnen: Wir sehen keine Linearität des Alters, im Sinne von: je älter desto einsamer. Denn die erhöhte Lebenserwartung beschert vielen Menschen eben auch zusätzliche Jahre mit einer Partnerin oder einem Partner, mit der Familie und Freunden. Ebenso ist die Zunahme der Ein-Personen-Haushalte kein klarer Faktor. Gleichwohl ist nicht jede und jeder, die oder der alleine lebt, einsam. Phasen des Alleinlebens können durchaus positiv bewertet werden. Zugleich muss der Anstieg der Zahl von alleinstehenden Menschen auch als ein Effekt des demografischen Wandels gesehen werden, der bei zunehmender Langlebigkeit und Hochaltrigkeit in der letzten Lebensphase eine Partnerin oder einen Partner alleine zurücklässt.

Immer wieder wird auch der Medienkonsum als Einsamkeitsverstärker ins Spiel gebracht. Zweifelsohne haben die sogenannten sozialen Medien eine spezifische Attraktion, die die „User“ in einen vereinsamenden Bann schlagen kann. Gerade mit Blick auf junge Menschen wird dieses Phänomen intensiv diskutiert. Aber auch hier finden wir eine gewisse Uneindeutigkeit: Einerseits ermöglicht die Nutzung sozialer Medien eine schnelle und unkomplizierte Kontaktaufnahme, die Einsamkeit zu vermeiden hilft und soziale Isolation reduzieren kann. Andererseits birgt übermäßige Internetnutzung die Gefahr der sozialen Isolation und Vereinsamung, wenn „echte“ Kontakte nicht mehr stattfinden.

Wir können diese Diskussion am Beispiel der Arbeitswelt fortführen: Das Thema Homeoffice, die Prekarität von Arbeitsverhältnissen, also die Befristung von Arbeitsverträgen, die Leiharbeit, der Zwang zu Mehrfachjobs im Niedriglohnbereich, die Auflösung betrieblicher Sozialstrukturen durch Reorganisation und Projektarbeit – all das sind Faktoren, die den Betrieb als sozialen Ort infrage stellen. In diesen unsteten und oft auch unverbindlichen „Landschaften der Arbeit“ steigen Risiken der Vereinzelung und der Erfahrung, einsam durch und in der Arbeit zu sein. Auf der anderen Seite bleibt die Arbeitswelt nicht stehen, und der Bedarf an mehr Freizeit und einem Leben jenseits von Betrieb und Büro ist gerade in den jüngeren Jahrgängen stark zu spüren. Die vergemeinschaftende Kraft des Großbetriebs und des handwerklichen Mittelständlers wie auch der laufbahnfestigenden Behörde lässt nach. Hierfür ist nicht nur die Digitalisierung oder die neoliberale Deregulierung verantwortlich, sondern auch die veränderten Bedürfnisse gegenüber Arbeitsverhältnissen. Erwerbsarbeit ist ein zentraler Faktor der Lebensführung und vor allem des Lebensunterhalts, aber zugleich erleben wir eine Erosion der vergemeinschaftenden Kraft einer kollektiv organisierten Arbeits- und Berufswelt.

Wenn es um die Risiken der Einsamkeit geht, dann erfährt in letzter Zeit der Zusammenhang zwischen Raumstrukturen und Einsamkeit besondere Aufmerksamkeit. Dabei lösen nicht in erster Linie die immer wieder bemühten Stadt-Land-Unterschiede Vereinsamung aus. Auch der Ost-West-Unterschied ist zu vernachlässigen: In Ostdeutschland fühlten sich Menschen lange Zeit einsamer als im Westen, das hat sich mittlerweile nahezu angeglichen. Vielmehr sind wohl eher die Geschwindigkeit des sozialen Wandels und die schwere Erreichbarkeit von daseinsvorsorgenden Gütern und Dienstleistungen sowie von Freizeitangeboten für gesellschaftliche Vereinsamung ausschlaggebend. Wer keine Gelegenheit hat, anderen zu begegnen, wo soziale Orte fehlen und öffentliche Räume wenig einladend sind, da droht Einsamkeit. Doch auch hier verbietet sich eine monokausale Betrachtung. Nicht nur Räume können einsam machen, sondern einsame Menschen nehmen die sie umgebenden Räume auch anders wahr als nichteinsame Menschen. Einsame haben weniger Orte, an denen sich wohlfühlen, zudem fühlen sie sich an den meisten Orten – Schule, Arbeitsplatz, Nachbarschaft – unwohler als Nichteinsame. Auf Dauer verdunkelt Einsamkeit die Welt.

So sehen sich Einsame stärker von Krisen bedroht, und sie vertrauen ihren Mitmenschen, aber auch ihrer Umwelt und öffentlichen Institutionen deutlich weniger als Nichteinsame.

Schmerz, Groll und Abwertung: Was sind die Folgen von Einsamkeit?

Einsamkeit bedeutet für die Betroffenen oft großes persönliches Leid, das sich über die Jahre hinweg auch in Depressionen und körperlichen Beschwerden bis hin zu einer kürzeren Lebenserwartung niederschlagen kann. Lange standen vor allem die hohen gesundheitlichen Kosten von Einsamkeit und Isolation im Vordergrund. Demgegenüber werden bisher die sozialen und politischen Kosten – allen voran das demokratiegefährdende Potenzial der Einsamkeit – weit weniger beleuchtet.

Einsame gehen seltener zur Wahl, partizipieren auch ansonsten politisch weniger, neigen häufiger zur Unterstützung populistischer Kandidaten und verlieren eher das Vertrauen in demokratische Institutionen als Nichteinsame (Abbildung 1). Mit der Einsamkeit sinkt auch das Vertrauen in die öffentlich-rechtlichen Medien zugunsten des Internets. Einsame fühlen sich zudem politisch weniger selbstwirksam, haben also eher den Eindruck, politisch machtlos zu sein und nicht gehört zu werden.

Einsame Jugendliche hängen häufiger Verschwörungserzählungen an, die sich „gegen die Eliten“, aber auch gegen „die Anderen“ richten, tendieren eher zum Autoritarismus und billigen häufiger politische Gewalt. Die Mitte-Studie 2023 belegt diese – nicht kausalen! – Zusammenhänge auch für Erwachsene. Einsame Erwachsene neigen signifikant eher zu Populismus und Verschwörungsmythen als Nichteinsame. Auffällig ist auch ihre stärkere Neigung zu neurechten völkisch-autoritär-rebellischen Einstellungen, ihre deutlich höhere Gewaltbilligung sowie ihre stärkere Zustimmung zu rechtsextremen Einstellungen (Abbildung 2).

Die Mitte-Studie 2023 förderte zudem einen besonders brisanten Zusammenhang zutage: Ausgrenzung kann zu Einsamkeit führen und selbst abwertendes Verhalten befördern. Rund ein Drittel der Befragten berichteten, in den zurückliegenden 24 Monaten aufgrund von Geschlecht, sexueller Orientierung oder Alter diskriminiert worden zu sein. Fast zwei Drittel (68 Prozent) der Einsamen und knapp ein Viertel (23,5 Prozent) der Nichteinsamen haben nach eigener Aussage Diskriminierung erlebt. Von den Befragten, die mindestens einmal oder häufiger Diskriminierung erfahren haben, sind 40 Prozent einsam. Von den 42 Personen, die „häufig“ Diskriminierung erdulden mussten, und die auch nach ihrer Einsamkeit befragt wurden, sind 97 Prozent einsam. Von den Befragten ohne eigene Diskriminierungserfahrung sagen dies nur 9 Prozent. Die einsamen Befragten sehen sich jedoch nicht nur häufiger selbst Diskriminierungen ausgesetzt, sondern neigen ihrerseits signifikant und deutlich eher zur Abwertung anderer sozialer Gruppen.

Einsamkeitserfahrungen unterminieren daher positive Gemeinschaftserfahrungen und plurale Gesellschaftsbilder. Hier liegt das Bedrohungspotenzial der Einsamkeit für die Demokratie, die auf Konsens, Kompromiss, Vertrauen und Mitwirkung orientiert ist. Denn einsame Menschen sind offenbar viel stärker vom Misstrauen ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt gegenüber geprägt. Die Allgegenwärtigkeit von Krisen sorgen bei ihnen zudem für eine größere Verunsicherung, da ihnen bestimmte soziale Schutzräume und Vertrauenszonen fehlen. Wie die Befunde verdeutlichen, wird es besonders kritisch, wenn Einsamkeitserfahrungen mit demokratiegefährdenden Positionen einhergehen, die sich über Verschwörungsmythen bis hin zu einer höheren Billigung von Gewalt steigern können. Zu vermuten ist, dass gerade der ausgeprägte Wunsch nach Kontakt und Zugehörigkeit einsame Menschen anfällig machen kann für Angebote, die autoritäre Parteien anbieten, denn diese bewirtschaften die Gefühle der Missgunst, des Misstrauens und der Missachtung.

Das öffentlich sichtbare Ressentiment, das autoritäre politische Bewegungen und Parteien propagieren, wird von der Haltung getragen, dass „die da oben“ nicht mehr wissen, was „dort unten“ passiert; und es wird befeuert von dem Gefühl, in der Gesellschaft mit seinen Problemen alleine zu stehen, also kollektiv einsam zu sein. Insbesondere während der Corona-Pandemie wurden hier Schleusen für eine radikale Ressentimentbildung geöffnet. Denn die Pandemie hat dafür gesorgt, dass Einsamkeit zum kollektiven Schicksal wurde. Einsamkeit war nicht mehr das Los der wenigen Vereinzelten, die Pech im Leben hatten und am Rande stehen, die keine Beachtung finden und auf den Aufmerksamkeitsmärkten der heutigen Gesellschaft nicht klarkommen. Einsamkeit wurde ab März 2020 zu einer geteilten Erfahrung. Ressentiments waren zudem nicht mehr eingehegt im Familien- oder Freundeskreis, quasi privatisiert. Ressentiments waren und sind zum öffentlichen Bekenntnis geworden. Auf diese Weise hat sich eine Kultur verallgemeinert, in der sich jeder und jede benachteiligt fühlen darf und diese Benachteiligung durch die digitalisierten Plattformen zu einem Kollektivgut öffentlicher Erfahrung machen kann. So nimmt es kaum Wunder, dass Wertschätzung, Anerkennung, Sichtbarkeit, Selbstwirksamkeit zu Leitvokabeln der Gesellschaftserfahrung unserer Zeit geworden sind – und eben nicht Solidarität, Konsensfindung oder Kompromissbereitschaft. Wenn man sich selbst als zu wenig wertgeschätzt sieht, dann bleibt kein Platz für andere, dann zählt nur das eigene Ich, die eigene Befindlichkeit, das eigene Sorgenregister. Keine einfache Zeit für die Pflege der demokratischen Kultur. Doch ist all das eine unabwendbare Entwicklung?

Perspektiven einer konstruktiven Einsamkeitspolitik

Einsamkeit fordert Gesellschaft heraus. Sie ist mehr als ein persönliches Problem. Sie ist eine soziale Frage, die den Wandel und die Veränderung von Gesellschaft sichtbar macht – nicht erst seit der Pandemie. Wie könnte nun jenseits pandemischer Gesellschaftserfahrungen eine konstruktive Einsamkeitspolitik aussehen, die auf Veränderungen in der Arbeitswelt reagiert, die die veränderten familiären Beziehungen in Rechnung stellt und die auf die Vernachlässigung öffentlicher Räume reagiert?

Auf der einen Seite ist festzuhalten, dass Staat und Politik Geselligkeit und Zusammenkunft nicht verordnen können. Einem jeden Bürger und einer jeden Bürgerin steht es frei, ob und wie sie sich in Gemeinschaft und Gesellschaft begeben wollen. Auf der anderen Seite können Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft auf Veränderungen hinwirken, die veränderten Realitäten Rechnung tragen – denn einsam zu sein, ist kein unabwendbares Schicksal. Ebenso wenig ist Misstrauen in die Gesellschaft und ihre Institutionen eine zwangsläufige Folge der Polykrisen dieser Zeit. Wie also kann Verbundenheit hergestellt werden? Wie können Öffentlichkeiten entstehen, die Zugang ermöglichen, aber nicht erzwingen?

Grundvoraussetzung für Verbundenheit sind Zugänge zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen wie Gesundheit, Mobilität, aber auch zu Freizeitangeboten, die Teilhabe ermöglichen. Es braucht neue Gelegenheitsstrukturen für Begegnung; dazu gehören sichere und attraktive öffentliche Plätze und soziale Orte, die sowohl eher flüchtige Kommunikation wie auch demokratische Mitwirkung ermöglichen. Der schön gestaltete Stadtpark, die Bibliothek, die zugleich auch Café und Begegnungsort ist, die Mehrgenerationenhäuser, die betreutes Wohnen und Kindergarten zusammenbringen, sind gute Beispiele hierfür. Einsamkeitspolitik kann daher im besten Fall dazu führen, auf neue Weise in Begegnung und Zusammenhalt zu investieren. Denn Einsamkeit als soziale Frage anzuerkennen und eben nicht ausschließlich als persönliches Problem zu behandeln, bedeutet auch, den Fragen von Gemeinwohl und Gleichwertigkeit, von Kooperation und Kommunikation wieder größeren Raum in den gesellschaftlichen Debatten zu geben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jens Kersten/Claudia Neu/Berthold Vogel, Das Soziale-Orte-Konzept. Zusammenhalt in einer vulnerablen Gesellschaft, Bielefeld 2022; Rainald Manthe, Demokratie fehlt Begegnung, Bielefeld 2024.

  2. Vgl. Roy F. Baumeister/Mark R. Leary, The Need to Belong. Desire for Interpersonal Attachments as a Fundamental Human Motivation, in: Psychological Bulletin 3/1995, S. 497–529; Stephanie Cacioppo/John P. Capitanio/John T. Cacioppo, Toward a Neurology of Loneliness, in: Psychological Bulletin 6/2014, S. 1464–1504; hierzu und zum Folgenden auch Jens Kersten/Claudia Neu/Berthold Vogel, Einsamkeit und Ressentiment, Hamburg 2024, S. 28ff.

  3. Daniel Perlman/Letitia Anne Peplau, Towards a Social Psychology of Loneliness, in: Steve Duck/Robin Gilmour (Hrsg.), Personal Relationships in Disorder, London 1981, S. 31–56, hier S. 31: „the unpleasant experience that occurs when a person’s network of social relations is deficient in some important way, either quantitatively or qualitatively“.

  4. Vgl. hierzu und zum Folgenden Claudia Neu, Place Matters! Raumbezogene Faktoren von Einsamkeit und Isolation – Erkenntnisse und Implikationen für die Praxis, Kompetenznetzwerk Einsamkeit, KNE-Expertise 8/2022, S. 7ff.; dies./Fabian Müller, Einsamkeit. Gutachten für den Sozialverband Deutschland, Berlin 2020, S. 9f., S. 16ff.; jeweils mit weiteren Nachweisen.

  5. Vgl. Pamela Qualter et al., Loneliness Across the Life Span, in: Perspectives on Psychological Science 2/2015, S. 250–264.

  6. Vgl. Susanne Bücker, Einsamkeit – Erkennen, evaluieren und entschlossen entgegentreten, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 19.4.2021 im Deutschen Bundestag, Ausschuss für Familie, Frauen und Jugend, S. 5.

  7. Vgl. Luzia C. Heu et al., Loneliness Across Cultures with Different Levels of Social Embeddedness, in: Personal Relationships 2/2021, S. 379–405.

  8. Für einen Überblick vgl. Janosch Schobin/Gonzalo Haefner/Matthias Eulert, Gesellschaftlicher Wandel und Einsamkeit, Gutachten für die Enquete-Kommission „Einsamkeit – Bekämpfung sozialer Isolation in Nordrhein-Westfalen und der daraus resultierenden physischen und psychischen Folgen auf die Gesundheit“ des Landtags des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, Februar 2021.

  9. Vgl. Beatrice d’Hombres/Martina Barjaková/Sylke V. Schnepf, Loneliness and Social Isolation: An Unequally Shared Burden in Europe, Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit, IZA Discussion Paper 14245/2021, S. 5.

  10. Vgl. Louise C. Hawkley et al., Loneliness from Young Adulthood to Old Age: Explaining Age Differences in Loneliness, in: International Journal of Behavioral Development 1/2022, S. 39–49.

  11. Vgl. ebd.

  12. Vgl. Kersten/Neu/Vogel (Anm. 2), S. 38f.

  13. Zuletzt etwa von Jonathan Haidt, Generation Angst, Hamburg 2024.

  14. Vgl. Berthold Vogel, Landschaften der Arbeit. Für eine neue Kartografie der Arbeitswelt, in: Mittelweg 36 2/2023, S. 3–14.

  15. Vgl. Neu (Anm. 4).

  16. Vgl. Claudia Neu/Beate Küpper/Maike Luhmann, Extrem einsam? Die demokratische Relevanz von Einsamkeitserfahrungen unter Jugendlichen in Deutschland, hrsg. von Das Progressive Zentrum, Berlin 2023; Claudia Neu/Beate Küpper, Einsamkeit, Feindseligkeit und Populismus, in: Andreas Zick/Beate Küpper/Nico Mokros, Die distanzierte Mitte, hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2023, S. 335–353.

  17. Vgl. Bücker (Anm. 6).

  18. Vgl. Alexander Langenkamp/Simon Bienstman, Populism and Layers of Social Belonging: Support of Populist Parties in Europe, in: Political Psychology 43/2022, S. 931–949.

  19. Vgl. Neu/Küpper (Anm. 16).

  20. Vgl. Neu/Küpper/Luhmann (Anm. 16).

  21. Vgl. Neu/Küpper (Anm. 16).

  22. Vgl. ebd.

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