In ihrem Grußwort zur Eröffnung der diesjährigen Geschichtsmesse in Suhl formulierte die Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Anna Kaminsky: „In der Debatte des letzten Jahres hat Dirk Oschmann die Marginalisierung gerade auf DIE Ostdeutschen zugespitzt. Was immer von diesen Thesen im Einzelnen zu halten ist, die Frage der unzureichenden Repräsentanz von Ostdeutschen ist ein Wiedergänger.“
In der Tat replizieren die offenbar bewusst überzeichneten, provokativen Einlassungen des Leipziger Germanistikprofessors etliche, den Beweis schuldig bleibende Behauptungen über das innerdeutsche Verhältnis.
Dank der modernen Wissenschaft ist jedoch inzwischen bekannt, dass das lebendige Aussehen mancher Leiche nicht auf ihren untoten Zustand, sondern auf bakterielle Fäulnisprozesse zurückzuführen ist. In diesem Sinne soll im Folgenden ein empirischer Blick auf die quantitative und qualitative Präsenz ostdeutscher Geschichte geworfen werden, und zwar am Beispiel von Geschichtsschulbüchern.
Schulbücher als „nationale Autobiografien“
Zwar geben Geschichtsschulbücher keine Auskunft über Unterrichtsverläufe und konkret erfolgende Lehr-Lern-Prozesse. Doch wie kaum eine andere Quellengattung spiegelt sich in ihnen die historische Selbstvergewisserung einer Gesellschaft. Zugelassen durch Kultusministerien oder ihnen nachgeordnete Behörden, durchlaufen sie in der Regel förmliche Begutachtungsverfahren, die in eine Genehmigung münden, wenn die Bücher verfassungskonform sind, allgemeinen Rechtsvorschriften entsprechen, mit den Lehrplänen übereinstimmen und didaktisch wie sprachlich geeignet sind.
Insofern stellen die auf den Lehrplänen basierenden Geschichtsschulbücher nicht nur Informationen bereit, sondern sind auch, nicht zuletzt durch ihren hohen Verbindlichkeitsgrad, ein Politikum. Das gilt weltweit für alle Gesellschaftssysteme, da diese sich damit selbst legitimieren und die nachwachsende Generation im Sinne ihrer eigenen Staatsform sozialisieren. Geschichtsschulbücher sind mithin „Konstruktionen und zugleich Konstrukteure sozialer Ordnungen“.
Doch wie sich jede individuelle Autobiografie im Laufe der Zeit verändert und umgedeutet wird, so verändern sich auch nationale Selbstbeschreibungen. Dies gilt erst recht für die Zeit nach Umbrüchen, in diesem Fall für westdeutsche Geschichtsschulbücher nach Mauerfall und Wiedervereinigung. Welche Umdeutungen dabei die ostdeutsche Vergangenheit zwischen doppelter Staatsgründung und Wiedervereinigung erfuhr, soll im Folgenden beleuchtet werden, beginnend mit einem kleinen Rückblick auf die Zeit vor 1989.
Deutsch-deutsche Geschichte in westdeutschen schulbüchern vor 1989
Angesichts der Systemkonkurrenz von Bundesrepublik und DDR ist es nachvollziehbar, dass in den Schulbüchern beider Staaten bis 1989/90 ein dichotomes Narrativ vorherrschte, mit dem der andere Teilstaat delegitimiert und das eigene politische System positiv gegenübergestellt und gestärkt werden sollte.
Allerdings konnten westdeutsche Geschichtsbücher, die vor 1989 erschienen, auch nur von außen über das Herrschaftssystem der SED und die DDR-Gesellschaft berichten. Die Innenperspektive auf reale Lebensverhältnisse, auf die Folgen der Sozial- und Wirtschaftspolitik, gar auf (individuelle) Folgen von Willkürherrschaft und Unrecht, war nicht nur der westdeutschen Historiografie weitgehend unbekannt. Sie gehörte auch nicht zur kollektiven Erinnerung der bundesrepublikanischen Bevölkerung und fand dementsprechend keinen Einzug ins Geschichtsbuch. Hinzu kam, dass die Geschichtslehrbücher bis in die 1980er Jahre ohnehin die politische Geschichte priorisierten und die Sozial- und Alltagsgeschichte, gar Ego-Dokumente wie Briefe und Tagebuchaufzeichnungen oder auch Zeitzeugeninterviews, erst langsam Einzug in den Geschichtsunterricht und seine Medien hielten.
Wandel des Geschichtsbildes nach 1990
Mit dem Mauerfall änderte sich zwar der Fokus auf die DDR, aber zunächst einmal stellten sich den Historikern und Historikerinnen eine Reihe von Fragen. Welchen Ort etwa wollte und sollte man der DDR-Geschichte im Kontext der nationalen Vergangenheit zuweisen? Handelte es sich lediglich um eine „Fußnote“ der deutschen Geschichte, wie es der Schriftsteller Stefan Heym am Abend des 18. März 1990 nach der ersten und letzten freien Volkskammerwahl im DDR-Fernsehen formulierte? Oder sollte die ostdeutsche Geschichte als Parallelgeschichte zur westdeutschen, möglicherweise als deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte erzählt werden? Letztlich setzte sich der „Beziehungs-Ansatz“ in der Geschichtsschreibung durch und etablierte sich – zumindest als Anspruch.
So hoben viele Geschichtsbücher, die in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung erschienen, im Wesentlichen den autoritären Charakter des SED-Regimes und die Durchherrschung der DDR-Gesellschaft am Beispiel der politischen Geschichte hervor. Dabei stand die deutsch-deutsche Vergangenheit praktisch unverbunden nebeneinander. Die inzwischen ausschließlich westdeutschen Schulbuchverlage (in der DDR hatte es mit „Volk und Wissen“ ohnehin nur einen Verlag gegeben) stützten sich bei der Produktion vielfach auf unverändert übernommene Texte und Bilder aus den bereits vor 1989 erschienenen Büchern und schrieben so die Geschichtsvorstellungen aus der Zeit vor dem Mauerfall fort, für die DDR reduziert auf die Themen des Staatsaufbaus der DDR und des Repressionsapparats, dargestellt am Aufstand vom 17. Juni 1953 und am Mauerbau des Jahres 1961 (Abbildung 1). Die vierzigjährige DDR-Geschichte wurde kaum behandelt. Dafür erfuhren die Ereignisse um den 9. November 1989 und die Wiedervereinigung in eigenen neuen Kapiteln eine umso ausführlichere Darstellung, womit die Geschichte des zweiten deutschen Staates ahistorisch auf den Mauerfall hin geschrieben und entsprechend teleologisch gedeutet wurde. Die indirekte Botschaft lautete: Das Gute besiegt das Böse. Die dominierende Perspektive offenbarte nicht selten eine „Siegermentalität“, in der das politische System der DDR betont wurde, der Blick auf den Alltag aber fehlte – ganz zu schweigen von einer Wertschätzung für den in der Friedlichen Revolution aufgebrachten Mut und die Zivilcourage. Dies fand seine Parallele in der Wissenschaft, die sich erst langsam für die Geschichte von Gesellschaft und Bevölkerung der DDR zu interessieren begann, wobei eine der Ursachen dafür in dem erst seit 1993 möglichen Zugang zu den einschlägigen DDR-Akten begründet lag.
Zunehmend erschienen nun aber auch Lehrbücher, in denen die Geschichte beider Teilstaaten bis auf die Seitenzahl quantitativ gleichwertig behandelt wurde. Gängiges Konzept für die Präsentation einer solchen deutsch-deutschen Parallelgeschichte war der direkte Ost-West-Vergleich, bei dem identische Themen grundsätzlich auf gegenüberliegenden Seiten präsentiert wurden. Damit erfuhr die ostdeutsche Geschichte gegenüber der westdeutschen zwar quantitativ eine deutliche Aufwertung, doch bei genauer Betrachtung fungierte sie auf diese Weise als negative Gegenfolie zum westdeutschen Staat. Der Systemvergleich des Kalten Krieges und die behauptete Überlegenheit des Westens fanden hier letztlich ihre Fortschreibung. Das galt vor allem bei der Darstellung der ökonomischen Leistungsfähigkeit. So lieferte die zu Abbildung 2 gehörende Frage nach der größten Kaufkraftdifferenz den Lernenden ein weiteres Argument für die Prädominanz des Westens, aber keine Erklärungen für deren Ursache, wie etwa den von der Sowjetunion unter anderem für die DDR zurückgewiesenen Marshallplan, die unverhältnismäßig hohen, an die Sowjetunion zu zahlenden Reparationskosten, die noch bis 1990 geleistete wirtschaftliche Unterstützung an die frühere Besatzungsmacht oder die Planwirtschaft.
Die DDR in den Schulbüchern seit Ende der 1990er Jahre
Seit Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre erhielten zunehmend auch Themen der DDR-Alltagsgeschichte wie Konsum, Kindheit, Jugend, Emanzipation, Freizeit, Kirche, Sport und anderes mehr Eingang in die Schulbücher und verbanden sich mit differenzierenden Darstellungen und wertschätzenden Urteilen. Vereinzelt erhielt die DDR-Geschichte nun auch ein (schönes) „Gesicht“ (Abbildung 3).
Diese Lehrwerke basierten in der Regel auf überarbeiteten Lehrplänen
So werden die systemspezifischen, politischen Unterschiede zwischen beiden deutschen Staaten im Beispiel der Abbildung 4 lediglich in einem Satz über die mangelhafte Baupolitik der SED thematisiert. Im Übrigen suggerieren die Berichte von Mietern aus Halle und Bielefeld vergleichbare Lebensumstände, und selbst die Arbeitsaufgaben problematisieren kaum den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur.
Angesichts einer nur langsam und mühsam zusammenwachsenden wiedervereinigten Gesellschaft sollte mithilfe des alltags- und sozialgeschichtlichen Ansatzes offenbar auf ein gesamtdeutsches (Geschichts-)Bild rekurriert werden. Dieses Konzept ist zwar einerseits zu begrüßen, birgt aber andererseits die Gefahr, politische Systemunterschiede zu nivellieren, in der Folge die totalitären Strukturen des SED-Regimes zu verharmlosen und Menschenrechtsverletzungen zu bagatellisieren.
Diese Befürchtung bestätigte sich bei einer Untersuchung von 50 Geschichtsschulbüchern, die vom Ende der 1990er Jahre bis zum Jahr 2005 erschienen waren und die daraufhin befragt wurden, wie in ihnen das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) beziehungsweise der „Totalitarismus“ thematisiert wurden. Es zeigte sich, dass sieben von 50 Büchern das Thema MfS überhaupt nicht erwähnten, 18 Bücher widmeten ihm rund eine halbe Schulbuchseite. Der maximale Umfang belief sich auf drei bis dreieinhalb Seiten und wurde in acht Büchern nachgewiesen.
Bedeutsamer als die Quantität war jedoch die Frage nach der inhaltlichen Aufbereitung des Themas. Wurden die Arbeitsweisen und der Mangel an Rechtsstaatlichkeit beziehungsweise die Willkür des Staates gegenüber seiner Bevölkerung erkennbar? Welche Perspektiven wurden berücksichtigt: nur die der Täter und Täterinnen oder auch die der Opfer? Hier zeigte sich, dass vor allem die Strukturen des MfS beschrieben wurden, während Personalisierungen auffällig selten erfolgten. Am häufigsten genannt wurde noch Erich Mielke, der Minister für Staatssicherheit. Damit korrespondierte, dass die meisten Quellen Auszüge aus MfS-Berichten mit Angaben über die Methoden der Stasi enthielten und insofern die „Täterperspektive“ repräsentierten. Die Opferperspektive wurde lediglich in einem der 50 Schulbücher berücksichtigt. Gänzlich unerwähnt blieben jene Personen, die den Werbungsversuchen der Stasi widerstanden
Staatsgründung und Zweistaatlichkeit in aktuellen Lehrplänen und Schulbüchern
In den meisten Bundesländern erschienen zwischen 2019 und 2023 erneut aktualisierte Lehrpläne beziehungsweise Curricula.
Durchgängig alle Lehrpläne behandeln die Zeit von 1945 bis 1949 sowie die Zeit der Zweistaatlichkeit. Verändert hat sich allerdings die Perspektive. Denn anders als ihre Vorläufer betten die aktuellen Vorgaben die Zeit nach 1945 in zwei Themenfelder ein: zum einen in die Weltgeschichte und zum anderen in die Nationalgeschichte. Unter dem nationalgeschichtlichen Aspekt findet sich weiterhin die Prämisse des integrativen Systemvergleichs.
Bislang liegen nur einige wenige neu erschienene oder überarbeitete Schulbücher für die Klassen 9/10 vor, sodass noch nicht abschließend gesagt werden kann, wie sich die jüngsten Lehrplanvorgaben in den neuen Lehrwerken abbilden werden und wie sich die „nationale Autobiografie“ über die deutsch-deutsche Zweistaatlichkeit in den vergangenen rund fünfzehn Jahren verändert hat. Anhand einer nicht repräsentativen Stichprobe für in Nordrhein-Westfalen zugelassene Schulbücher können aber zumindest Tendenzen aufgezeigt werden; die doppelte Staatsgründung soll dabei im Fokus stehen.
Im 2019 in Nordrhein-Westfalen erschienenen „Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasien“
Bei den auf diesem Lehrplan basierenden untersuchten Geschichtsbüchern fällt auf, dass sie diesen Zeitabschnitten unter den Themen „Nachkriegszeit“ und „Zweistaatlichkeit“ rund zwei Drittel,
Das Thema „doppelte Staatsgründung“ erfährt in allen Büchern eine ausführlichere Darlegung als zuvor, von der Potsdamer Konferenz über den Marshallplan, die Währungsreform bis zu den Staatsgründungen einschließlich der prozesshaft zurückgewonnenen Souveränitäten bis 1955. In diesem Zusammenhang werden auch die „Mütter des Grundgesetzes“ thematisiert, womit zugleich der Frauengeschichte Rechnung getragen wird.
Auffällig veränderte Interpretationen zeigen sich beim Marshallplan. Während dieser in früheren Ausgaben in der Regel lediglich als großzügige Wirtschaftshilfe der USA für das im Krieg verwüstete Europa interpretiert wurde, finden sich nun auch zu kritischem Denken und Urteilen anregende Arbeitsaufträge wie die folgenden: „Bewerte, inwieweit die USA mit dem Marshallplan uneigennützige Ziele verfolgten.“ Oder: „Kritiker des Marshallplans haben betont, dass er die Teilung Deutschlands und Europas vertieft habe. Diskutiert diese Aussage in Kleingruppen.“
Auffällig ist auch die nun als offen dargestellte „deutsche Frage“, wenn es heißt: „War die Teilung vor dem Hintergrund der ideologischen Gegensätze der Alliierten unausweichlich?“
Überzeugender als frühere Schulbuchgenerationen konstruieren die untersuchten Titel die Zeit der deutschen Zweistaatlichkeit als asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte, ohne dass dabei Unterschiede zwischen Ost und West nivelliert würden. Dies zeigt sich zum Beispiel an Überschriften wie „Das Wirtschaftssystem: Markt oder Plan?“
Fazit
Die Befunde machen deutlich, dass die Geschichte Ostdeutschlands in den Schulbuchnarrativen seit 1990 zunehmend mehr Platz eingenommen hat und in den aktuellen Lehrwerken, die die Phase deutscher Zweistaatlichkeit vornehmlich als aufeinander bezogene Vergangenheit interpretieren, ihren gleichberechtigten Platz gefunden hat. Dies gilt sowohl quantitativ als auch qualitativ in der kritischen Würdigung von Leistungen und Schwächen. Dagegen ließe sich nun einwenden, die Schulbücher würden die ostdeutsche Vergangenheit noch immer durch eine westdeutsche Brille interpretieren. Allein, in den den Schulbuchgenehmigungen vorausgehenden ausführlichen Anhörverfahren sind alle gesellschaftlichen Kräfte eingebunden. Das Lamento von der Marginalisierung „der“ Ostdeutschen läuft daher (nicht nur) mit Blick auf das Geschichtsschulbuch ins Leere.