Als 1949 die beiden deutschen Staaten gegründet wurden, geschah dies in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in der DDR in deutlicher Abgrenzung vom Nationalsozialismus und seinen Verbrechen. Das Grundgesetz, das am 23. Mai 1949 in Westdeutschland verkündet wurde, gilt auch als „Antwort auf Nazi-Diktatur und Zweiten Weltkrieg, ein in 146 Verfassungsartikel gegossenes ‚Nie wieder‘“.
Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949 beinhaltete ebenfalls die Zusicherung von Grund- und Bürgerrechten, die bekanntermaßen in der DDR jedoch in dieser Form ebenso wenig umgesetzt wurden wie die im Staatsnamen beanspruchte Demokratie, und hob auch auf die Sicherung des Friedens ab. So war in der Präambel die Rede von „dem Willen (…), die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit allen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern“.
Vergangenheitsbezüge
Viele Artikel des Grundgesetzes beziehungsweise der DDR-Verfassung weisen einen direkten oder indirekten Bezug zur NS-Vergangenheit auf. Auf alle kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. In beiden deutschen Staaten wurde aber beispielsweise das Recht auf Widerstand verankert
In diesem Kontext ist ein Blick in die ersten Regierungserklärungen von Bundeskanzler Konrad Adenauer am 20. September 1949 und DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl am 12. Oktober 1949 interessant. Diese konzentrierten sich zwar, wie nicht anders zu erwarten war, schwerpunktmäßig auf die neu gegründeten Staaten und die jeweiligen Regierungsziele, beide gingen aber auch auf die NS-Zeit und daraus zu ziehende Schlussfolgerungen ein. Adenauer sprach dabei zunächst die Frage der Strafverfolgung von NS- und Kriegsverbrechen an: Die „wirklich Schuldigen“ sollten „mit aller Strenge bestraft werden“ – um dann jedoch die viel zitierten Worte hinzuzufügen: „Aber im übrigen dürften wir nicht mehr zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden: die politisch Einwandfreien und die Nichteinwandfreien.“
Grotewohl wiederum hob die Erinnerung an die „Millionen Opfer aller Völker“ hervor, „die unter der Geißel des Hitlerfaschismus ihr Leben lassen mußten“, und an die „Zehntausende (…) deutscher Männer und Frauen, die im Kampf gegen das barbarische Naziregime, zur Verhinderung des Krieges, für seine Beendigung und für ein friedliebendes Vaterland gestorben sind. (…) Diese deutschen Männer und Frauen haben durch ihren Kampf und durch ihren Opfertod bei den fortschrittlichen Kräften aller Völker die Grundlagen eines neuen Vertrauens zu einem anderen Deutschland geschaffen. Ihr heroisches Beispiel soll in unserer Jugend und in unserem Volke unabhängig von jeder politischen und weltanschaulichen Auffassung fortleben.“
Mit dem Bezug auf den antifaschistischen Widerstand, dessen Gedächtnis, wie es bei Grotewohl deutlich wird, in der DDR zur Staatsräson erhoben wurde, und dem (indirekten) Hinweis Adenauers auf eine – auf die „wirklich Schuldigen“ zu reduzierende – Täterschaft und Verantwortung enthielten beide Regierungserklärungen Elemente, die für die jeweilige Geschichtsdeutung und Einordnung des Nationalsozialismus ins staatliche Selbstverständnis zentral waren und dabei ganz unterschiedliche Schwerpunkte setzten. Gemeinsam war beiden Reden aber die mit dem präventiven Gedanken des „Nie wieder“ verbundene Distanzierung vom Nationalsozialismus – mit je eigenen Akzentsetzungen.
So betonte Adenauer, die Bundesregierung sei „unbedingt entschlossen, aus der Vergangenheit die nötigen Lehren gegenüber allen denjenigen zu ziehen, die an der Existenz unseres Staates rütteln, mögen sie nun zum Rechtsradikalismus oder zum Linksradikalismus zu rechnen sein“.
Deutlich wird: Der Blick zurück auf den Nationalsozialismus war in beiden Regierungserklärungen vor allem auch ein Blick nach vorn. Die Abgrenzung vom NS-Regime im Sinne des „Nie wieder“ diente insbesondere der Legitimierung des jeweils neuen Staates und, wie im Folgenden noch deutlicher werden wird, auch der gegenseitigen Delegitimierung. Der Antisemitismus als ein wesentlicher Bestandteil der NS-Ideologie wurde zwar benannt und bis zu einem gewissen Grad auch problematisiert, aber dieser Aspekt wie auch der Holocaust sollten nicht im Vordergrund der Geschichtsdeutung der frühen Bundesrepublik und der DDR stehen.
DDR: Gründungsmythos Antifaschismus
Ein „Zurück in die Barbarei“, vor dem Grotewohl in seiner Regierungserklärung warnte, war gemäß dem historischen Selbstverständnis in der DDR gar nicht möglich. Aufgrund der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ in Ostdeutschland nach 1945 galt der Faschismus dort als mit all seinen Wurzeln ausgerottet. Die DDR definierte sich als neuen Staat ohne Kontinuität zum „Dritten Reich“, als das bereits erwähnte „andere Deutschland“.
Auf diese Weise interpretierte die DDR den Nationalsozialismus als „Phase der Fremdherrschaft“
Dieser Gründungsmythos wurde auch zur Durchsetzung der parteipolitischen Interessen der SED genutzt, etwa zur Rechtfertigung der Zwangsvereinigung von KPD und SPD unter Führung der Kommunisten, die schließlich den Hauptteil des Widerstands geleistet hätten, und zur Ausschaltung politischer Gegner des neuen Systems.
Indem für den Faschismus in erster Linie dessen Führungselite und ihre „finanz- und monopolkapitalistischen Hintermänner“ verantwortlich gemacht und die breite Bevölkerung zu deren Opfern umgedeutet wurde, entwickelte die SED-Führung zugleich ein entlastendes und integrierendes Deutungsangebot für die Gesellschaft, insbesondere für die ehemaligen Mitläufer. Die Frage nach der „Verstrickung“ in die NS-Verbrechen wurde tabuisiert, die Massenbasis des Nationalsozialismus ausgeblendet, und die DDR-Bürgerinnen und -bürger konnten sich mit den „besseren“ Traditionen der deutschen Geschichte identifizieren, die aus Sicht der SED ein erneutes Aufkommen des Faschismus zudem verhinderten.
Die Implementierung des „verordneten Antifaschismus“ (Ralph Giordano) in der DDR ging mit einer starken Ritualisierung einher. Die Erzählung von der Resistenz der Arbeiterklasse und ihres Widerstandskampfes wurde in zahlreichen Denkmalen, Erinnerungstafeln und Gemälden monumentalisiert, in jährlichen Gedenkfeiern wie am 8. Mai und im September am „Tag der Opfer des Faschismus“ („OdF-Tag“) inszeniert und so als fester und omnipräsenter Bestandteil des politischen Alltags verankert.
Die ausschließliche Konzentration auf den antifaschistischen Widerstand und dessen Heroisierung führte jedoch dazu, dass andere, nichtkommunistische Opfergruppen, auch die jüdischen NS-Opfer, in der Erinnerung der DDR weitgehend unberücksichtigt blieben. Rassismus und Antisemitismus als wesentliche Aspekte des Nationalsozialismus wurden ausgeblendet.
Bundesrepublik: Verantwortungsannahme und -abwehr
In der Bundesrepublik stellten sich die Dinge anders dar. Dort war eine nur selektive Übernahme des Erbes der NS-Zeit wie in der DDR nicht möglich. Dem standen zum einen die Erwartungen der Alliierten entgegen, zum anderen sah sich die Bundesrepublik auch selbst in der Nachfolge des Deutschen Reichs und übernahm damit – auf einer offiziellen Ebene – die Verantwortung für den Nationalsozialismus. Die Abgrenzung von der NS-Diktatur unter Anerkennung der (Mit-)Verantwortung war ein wesentlicher, wenn auch nicht nur freiwillig übernommener Bestandteil ihres Selbstverständnisses von Beginn an.
Immer wieder setzte sich zum Beispiel der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, für die Annahme der Verantwortung und gegen das Vergessen ein. So äußerte er in seiner Antrittsrede vom 12. September 1949 die „Sorge (…), dass manche Leute in Deutschland mit dieser Gnade [vergessen zu können] Mißbrauch treiben und zu rasch vergessen wollen. Wir müssen das im Spürgefühl behalten, was uns dorthin geführt hat, wo wir heute sind.“
Dieser wurde sozusagen ein „kollektiver Persilschein“ ausgestellt; über die Beteiligung der breiten Bevölkerung am Nationalsozialismus wurde geschwiegen. Der Philosoph Hermann Lübbe hat für diesen Zusammenhang ein „kommunikatives Beschweigen“
Dass dabei nicht über die NS-Vergangenheit als Ganze geschwiegen wurde, sondern vor allem über die Involviertheit der deutschen Gesellschaft, spiegelt sich auch in Adenauers Regierungserklärung zur „Haltung der Bundesregierung gegenüber den Juden“ vom 27. September 1951. In dieser nannte er zwar die "im Namen des deutschen Volkes" begangenen „unsagbare[n] Verbrechen“ und leitete daraus eine Pflicht zur „Wiedergutmachung“ ab, betonte aber auch: „Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt.“
Die Trennung zwischen „den Nazis“ und „den Deutschen“ begünstigte zugleich Ausprägungen eines Selbstverständnisses als „Opfer“: Opfer des Krieges und der Luftangriffe, von Flucht und Vertreibung sowie der Alliierten, aber auch Opfer der NS-Führung und Hitlers, der einen Krieg begonnen habe, in dem alle – insbesondere beim „Opfergang“ in Stalingrad – verloren hätten.
Die Distanzierung von der NS-Diktatur erfolgte außerdem im Rahmen des antitotalitären Gründungskonsenses, wie er auch in Adenauers Regierungserklärung 1949 sichtbar geworden war. Indem sowohl die nationalsozialistische als auch die kommunistische Gewaltherrschaft abgelehnt wurden, diente das Geschichtsbild der Legitimierung als – antitotalitäre – Demokratie, aber auch der Instrumentalisierung gegen den anderen deutschen Staat. Interessant ist in diesem Kontext auch der westdeutsche Umgang mit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR, der geschichtspolitisch auch mit dem Widerstand des 20. Juli 1944 verknüpft wurde, um wiederum Nationalsozialismus und Kommunismus als Unrechtsregime zu verurteilen. Auch wurde er zur Rehabilitierung mit Blick auf die NS-Vergangenheit genutzt: Der Volksaufstand habe „viele Flecken hinweggewaschen, mit denen das ruchlose Regime des Nationalsozialismus unseren Namen beschmutzt hat“,
Einen Gründungsmythos wie den Antifaschismus-Mythos der DDR gab es in der Bundesrepublik nicht. Ein nationales Selbstbild entwickelte sich erst allmählich. Negativ begründet, in normativer Abgrenzung vom Nationalsozialismus und der daraus positiv resultierenden Verpflichtung zu Rechtsstaatlichkeit und freiheitlich-demokratischen Grundwerten, wurde es im Laufe der Jahre um spezifisch bundesrepublikanische Bezugspunkte wie das Grundgesetz, den Verfassungspatriotismus oder das „Wirtschaftswunder“ erweitert, mit denen sich schließlich eine Erfolgsgeschichte des 1949 in Westdeutschland gegründeten Staates erzählen ließ.
„Nie wieder – ist jetzt“
Jahre später sollte auch die „Vergangenheitsbewältigung“ zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik gezählt werden. Denn die Anerkennung einer nur reduzierten Verantwortung bei gleichzeitigem Schweigen über die gesellschaftliche Beteiligung am Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik wurde im Laufe der Zeit von einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit abgelöst, die schließlich – auch vor dem Hintergrund der dann doppelten Vergangenheitsaufarbeitung seit dem Ende der SED-Diktatur mit dem Mauerfall 1989 – sogar als weltweit vorbildlich galt.
Während in der DDR der Antifaschismus-Mythos bis zu ihrem Ende weitgehend statisch blieb und es dort erst in den 1980er Jahren zu einer allmählichen Flexibilisierung des Geschichtsbilds auch mit Blick auf die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus kam, begann in der Bundesrepublik ab Ende der 1950er Jahre ein Diskurs über die NS-Vergangenheit. Dieser verstärkte sich zunehmend, wurde vor allem in den 1980er Jahren, unter anderem infolge der Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ 1979, sehr intensiv und mündete schließlich in einen ab den 1990er Jahren einsetzenden Erinnerungsboom, der nach und nach die verschiedenen, auch die sogenannten vergessenen Opfergruppen einschloss. Dabei hat sich die Erinnerungskultur aber nicht ganz so linear entwickelt, wie es das Bild eines Crescendos nahelegt. Bei der Erinnerung an die NS-Zeit und ihre Opfer waren vielmehr Durchsetzungskämpfe zu führen, und es gab immer wieder auch Rückschläge und vergangenheitsbezogene Skandale. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen. Die Erinnerungskultur entwickelt sich beständig weiter, sieht sich nach wie vor Herausforderungen ausgesetzt und hat auch Defizite.
Schon länger werden zum Beispiel ein inhaltsleeres und ritualisiertes Erinnern insbesondere auf staatlicher Ebene sowie eine übermäßige Opferidentifizierung kritisiert.
Nicht umsonst wird bei den seit Anfang 2024 stattfindenden Demonstrationen gegen Rechtsextremismus in Reaktion auf das Bekanntwerden des „Potsdamer Geheimtreffens“ vom November 2023, bei dem rechtsextreme Vertreibungspläne unter dem Stichwort „Remigration“ diskutiert wurden, „Nie wieder 1933“ und „Nie wieder ist jetzt“ skandiert. Für ein wirksames „Nie wieder“ braucht es eine lebendige Demokratie und ein gelebtes Grundgesetz. Diesen Zusammenhang hatte auch Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner oben zitierten Regierungserklärung zur „Haltung der Bundesregierung gegenüber den Juden“ 1951 hervorgehoben. Diese Haltung sei durch das Grundgesetz, insbesondere Artikel 3, eindeutig festgelegt. Dessen Normen könnten aber nur wirksam werden, wenn „die Gesinnung, aus der sie geboren wurden, zum Gemeingut des gesamten Volkes wird" und "der Geist menschlicher und religiöser Toleranz (…) nicht nur formale Anerkennung findet, sondern in der seelischen Haltung und praktischen Tat Wirklichkeit wird“.