Als 1949 die beiden deutschen Staaten gegründet wurden, geschah dies in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in der DDR in deutlicher Abgrenzung vom Nationalsozialismus und seinen Verbrechen. Das Grundgesetz, das am 23. Mai 1949 in Westdeutschland verkündet wurde, gilt auch als „Antwort auf Nazi-Diktatur und Zweiten Weltkrieg, ein in 146 Verfassungsartikel gegossenes ‚Nie wieder‘“. Zur Auflösung der Fußnote[1] Mit ihm wurde die Demokratie als Staatsform fest verankert. Bereits Artikel 1 des Grundgesetzes hielt fest: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. (…) Das Deutsche Volk bekennt sich (…) zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (…) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Zur Auflösung der Fußnote[2]
Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949 beinhaltete ebenfalls die Zusicherung von Grund- und Bürgerrechten, die bekanntermaßen in der DDR jedoch in dieser Form ebenso wenig umgesetzt wurden wie die im Staatsnamen beanspruchte Demokratie, und hob auch auf die Sicherung des Friedens ab. So war in der Präambel die Rede von „dem Willen (…), die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit allen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern“. Zur Auflösung der Fußnote[3] Die Stichworte „soziale Gerechtigkeit“ und „gesellschaftlicher Fortschritt“ verwiesen freilich auf die Transformation Ostdeutschlands in eine sozialistische Gesellschaft.
Vergangenheitsbezüge
Viele Artikel des Grundgesetzes beziehungsweise der DDR-Verfassung weisen einen direkten oder indirekten Bezug zur NS-Vergangenheit auf. Auf alle kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. In beiden deutschen Staaten wurde aber beispielsweise das Recht auf Widerstand verankert Zur Auflösung der Fußnote[4] – in der DDR übrigens auch die Pflicht dazu – oder auch die Gleichheit aller vor dem Gesetz und der Schutz vor rassistischer Diskriminierung. Zur Auflösung der Fußnote[5] Überdies wurde in Ost und West explizit an der Fortgeltung der nach 1945 erlassenen Bestimmungen und Rechtsvorschriften zur Überwindung und Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus festgehalten. Zur Auflösung der Fußnote[6] Auch damit wurde die Abkehr der neuen Staaten Bundesrepublik und DDR vom Nationalsozialismus unterstrichen.
In diesem Kontext ist ein Blick in die ersten Regierungserklärungen von Bundeskanzler Konrad Adenauer am 20. September 1949 und DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl am 12. Oktober 1949 interessant. Diese konzentrierten sich zwar, wie nicht anders zu erwarten war, schwerpunktmäßig auf die neu gegründeten Staaten und die jeweiligen Regierungsziele, beide gingen aber auch auf die NS-Zeit und daraus zu ziehende Schlussfolgerungen ein. Adenauer sprach dabei zunächst die Frage der Strafverfolgung von NS- und Kriegsverbrechen an: Die „wirklich Schuldigen“ sollten „mit aller Strenge bestraft werden“ – um dann jedoch die viel zitierten Worte hinzuzufügen: „Aber im übrigen dürften wir nicht mehr zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden: die politisch Einwandfreien und die Nichteinwandfreien.“ Zur Auflösung der Fußnote[7] Entsprechend plädierte er dafür, eine Amnestie zu prüfen, auch für die von alliierten Militärgerichten verhängten Strafen. Die Bundesregierung sei entschlossen, „dort, wo es ihr vertretbar erscheint, Vergangenes vergangen sein zu lassen“ Zur Auflösung der Fußnote[8] – auch diese, einen Schlussstrich implizierende Aussage ist häufig zitiert worden.
Grotewohl wiederum hob die Erinnerung an die „Millionen Opfer aller Völker“ hervor, „die unter der Geißel des Hitlerfaschismus ihr Leben lassen mußten“, und an die „Zehntausende (…) deutscher Männer und Frauen, die im Kampf gegen das barbarische Naziregime, zur Verhinderung des Krieges, für seine Beendigung und für ein friedliebendes Vaterland gestorben sind. (…) Diese deutschen Männer und Frauen haben durch ihren Kampf und durch ihren Opfertod bei den fortschrittlichen Kräften aller Völker die Grundlagen eines neuen Vertrauens zu einem anderen Deutschland geschaffen. Ihr heroisches Beispiel soll in unserer Jugend und in unserem Volke unabhängig von jeder politischen und weltanschaulichen Auffassung fortleben.“ Zur Auflösung der Fußnote[9]
Mit dem Bezug auf den antifaschistischen Widerstand, dessen Gedächtnis, wie es bei Grotewohl deutlich wird, in der DDR zur Staatsräson erhoben wurde, und dem (indirekten) Hinweis Adenauers auf eine – auf die „wirklich Schuldigen“ zu reduzierende – Täterschaft und Verantwortung enthielten beide Regierungserklärungen Elemente, die für die jeweilige Geschichtsdeutung und Einordnung des Nationalsozialismus ins staatliche Selbstverständnis zentral waren und dabei ganz unterschiedliche Schwerpunkte setzten. Gemeinsam war beiden Reden aber die mit dem präventiven Gedanken des „Nie wieder“ verbundene Distanzierung vom Nationalsozialismus – mit je eigenen Akzentsetzungen.
So betonte Adenauer, die Bundesregierung sei „unbedingt entschlossen, aus der Vergangenheit die nötigen Lehren gegenüber allen denjenigen zu ziehen, die an der Existenz unseres Staates rütteln, mögen sie nun zum Rechtsradikalismus oder zum Linksradikalismus zu rechnen sein“. Zur Auflösung der Fußnote[10] Unschwer ist hier die Totalitarismustheorie zu erkennen, die im westdeutschen Geschichtsbild Nationalsozialismus und Kommunismus gleichermaßen verurteilte. Anschließend ging der Bundeskanzler auf die „hier und da anscheinend hervorgetretenen antisemitischen Bestrebungen“ ein, die die Regierung „auf das schärfste“ verurteile: „Wir halten es für unwürdig und für an sich unglaublich, daß nach all dem, was sich in nationalsozialistischer Zeit begeben hat, in Deutschland noch Leute sein sollten, die Juden deswegen verfolgen oder verachten, weil sie Juden sind.“ Zur Auflösung der Fußnote[11] Grotewohl wiederum benannte in seinen Ausführungen Faschismus, Militarismus und ebenfalls Antisemitismus als inakzeptabel, indem er erklärte: „Die Regierung hält es (…) für ihre Pflicht, der Wiederbelebung faschistischer, militaristischer und antisemitischer Ideen sowie einer solchen Betätigung mit der ganzen Schärfe des Gesetzes entgegenzutreten. Wir wollen nicht zurück in die Barbarei!“ Zur Auflösung der Fußnote[12]
Deutlich wird: Der Blick zurück auf den Nationalsozialismus war in beiden Regierungserklärungen vor allem auch ein Blick nach vorn. Die Abgrenzung vom NS-Regime im Sinne des „Nie wieder“ diente insbesondere der Legitimierung des jeweils neuen Staates und, wie im Folgenden noch deutlicher werden wird, auch der gegenseitigen Delegitimierung. Der Antisemitismus als ein wesentlicher Bestandteil der NS-Ideologie wurde zwar benannt und bis zu einem gewissen Grad auch problematisiert, aber dieser Aspekt wie auch der Holocaust sollten nicht im Vordergrund der Geschichtsdeutung der frühen Bundesrepublik und der DDR stehen.
DDR: Gründungsmythos Antifaschismus
Ein „Zurück in die Barbarei“, vor dem Grotewohl in seiner Regierungserklärung warnte, war gemäß dem historischen Selbstverständnis in der DDR gar nicht möglich. Aufgrund der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ in Ostdeutschland nach 1945 galt der Faschismus dort als mit all seinen Wurzeln ausgerottet. Die DDR definierte sich als neuen Staat ohne Kontinuität zum „Dritten Reich“, als das bereits erwähnte „andere Deutschland“. Zur Auflösung der Fußnote[13] Hierfür berief sie sich auf den antifaschistischen Widerstand. An der Seite der „ruhmreichen Roten Armee“ habe dieser den Sieg über das faschistische Regime errungen, wobei die Gründung der DDR quasi die Krönung des antifaschistisch-demokratischen Befreiungskampfes darstellte. Mit diesem Gründungsmythos des Antifaschismus wurde die eigentliche Niederlage im Zweiten Weltkrieg in einen Sieg umgedeutet und die gesamte ostdeutsche Bevölkerung zu Märtyrern und Helden des Widerstandskampfes erklärt. Zur Auflösung der Fußnote[14]
Auf diese Weise interpretierte die DDR den Nationalsozialismus als „Phase der Fremdherrschaft“ Zur Auflösung der Fußnote[15] aus der eigenen Geschichte heraus und wies Westdeutschland die alleinige Schuld und Verantwortung für die NS-Herrschaft und -verbrechen zu. Durch die Definition des Faschismus als „offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ („Dimitroff-Formel“ der Komintern, 1935) und der Bundesrepublik als kapitalistisch-imperialistischen Staat stellte die DDR diese auch in direkte Kontinuität zum NS-Regime. Zur Auflösung der Fußnote[16] Über die Verknüpfung von Nationalsozialismus und Kapitalismus delegitimierte die antifaschistische Erzählung die westdeutsche Staatsgründung und legitimierte zugleich die neuen Verhältnisse in Ostdeutschland. Kaum ein anderer Staat hat seine politische Legitimation so stark aus seinem Gründungsmythos bezogen wie die DDR. Zur Auflösung der Fußnote[17]
Dieser Gründungsmythos wurde auch zur Durchsetzung der parteipolitischen Interessen der SED genutzt, etwa zur Rechtfertigung der Zwangsvereinigung von KPD und SPD unter Führung der Kommunisten, die schließlich den Hauptteil des Widerstands geleistet hätten, und zur Ausschaltung politischer Gegner des neuen Systems. Zur Auflösung der Fußnote[18] Auch die gegen fundamentale Rechtsstaatsprinzipien verstoßenden und quasi zum Abschluss der justiziellen Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen erklärten Waldheimer Prozesse von 1950 sind in dem Zusammenhang zu nennen. Zur Auflösung der Fußnote[19] Die (Nicht-)Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der DDR wurde demnach von der Etablierung der kommunistischen Herrschaft dominiert. Zur Auflösung der Fußnote[20]
Indem für den Faschismus in erster Linie dessen Führungselite und ihre „finanz- und monopolkapitalistischen Hintermänner“ verantwortlich gemacht und die breite Bevölkerung zu deren Opfern umgedeutet wurde, entwickelte die SED-Führung zugleich ein entlastendes und integrierendes Deutungsangebot für die Gesellschaft, insbesondere für die ehemaligen Mitläufer. Die Frage nach der „Verstrickung“ in die NS-Verbrechen wurde tabuisiert, die Massenbasis des Nationalsozialismus ausgeblendet, und die DDR-Bürgerinnen und -bürger konnten sich mit den „besseren“ Traditionen der deutschen Geschichte identifizieren, die aus Sicht der SED ein erneutes Aufkommen des Faschismus zudem verhinderten. Zur Auflösung der Fußnote[21]
Die Implementierung des „verordneten Antifaschismus“ (Ralph Giordano) in der DDR ging mit einer starken Ritualisierung einher. Die Erzählung von der Resistenz der Arbeiterklasse und ihres Widerstandskampfes wurde in zahlreichen Denkmalen, Erinnerungstafeln und Gemälden monumentalisiert, in jährlichen Gedenkfeiern wie am 8. Mai und im September am „Tag der Opfer des Faschismus“ („OdF-Tag“) inszeniert und so als fester und omnipräsenter Bestandteil des politischen Alltags verankert. Zur Auflösung der Fußnote[22] Bei diesem „quasi-religiösen Staatskult“ Zur Auflösung der Fußnote[23] sollte auch den KZ-Gedenkstätten Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen zentrale Bedeutung zukommen, die Ende der 1950er beziehungsweise Anfang der 1960er Jahre als „Nationale Mahn- und Gedenkstätten“ (NMG) eingeweiht wurden. Ikonisch für den Antifaschismus-Mythos ist die Figurengruppe des Bildhauers Fritz Cremer vor dem Glockenturm in Buchenwald geworden.
Die ausschließliche Konzentration auf den antifaschistischen Widerstand und dessen Heroisierung führte jedoch dazu, dass andere, nichtkommunistische Opfergruppen, auch die jüdischen NS-Opfer, in der Erinnerung der DDR weitgehend unberücksichtigt blieben. Rassismus und Antisemitismus als wesentliche Aspekte des Nationalsozialismus wurden ausgeblendet. Zur Auflösung der Fußnote[24] Es wurde zwischen aktiven Widerstandskämpfern und passiven Opfern, zu denen jüdische NS-Verfolgte gezählt wurden, unterschieden, was auch unterschiedliche Ansprüche bei der Entschädigung zur Folge hatte. Außerdem wurden Entschädigungen mit einer loyalen Haltung zur DDR verknüpft oder der „OdF“-Status politisch unbequemen Personen aberkannt. Zur Auflösung der Fußnote[25] Dass die NS-Opfer den politischen Zielen des SED-Regimes nachgeordnet waren, zeigt nicht zuletzt die Auflösung der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) 1953, die wiederum damit begründet wurde, dass der Nazismus in der DDR ausgerottet sei. Zur Auflösung der Fußnote[26]
Bundesrepublik: Verantwortungsannahme und -abwehr
In der Bundesrepublik stellten sich die Dinge anders dar. Dort war eine nur selektive Übernahme des Erbes der NS-Zeit wie in der DDR nicht möglich. Dem standen zum einen die Erwartungen der Alliierten entgegen, zum anderen sah sich die Bundesrepublik auch selbst in der Nachfolge des Deutschen Reichs und übernahm damit – auf einer offiziellen Ebene – die Verantwortung für den Nationalsozialismus. Die Abgrenzung von der NS-Diktatur unter Anerkennung der (Mit-)Verantwortung war ein wesentlicher, wenn auch nicht nur freiwillig übernommener Bestandteil ihres Selbstverständnisses von Beginn an. Zur Auflösung der Fußnote[27]
Immer wieder setzte sich zum Beispiel der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, für die Annahme der Verantwortung und gegen das Vergessen ein. So äußerte er in seiner Antrittsrede vom 12. September 1949 die „Sorge (…), dass manche Leute in Deutschland mit dieser Gnade [vergessen zu können] Mißbrauch treiben und zu rasch vergessen wollen. Wir müssen das im Spürgefühl behalten, was uns dorthin geführt hat, wo wir heute sind.“ Zur Auflösung der Fußnote[28] Freilich gab es aber auch in Westdeutschland deutliche Tendenzen zur Schuldabwehr, -leugnung und -relativierung – man denke etwa an den Terminus der „Stunde Null“ für das Kriegsende 1945, an die Herausstellung des Widerstands vom 20. Juli 1944 oder auch an das bereits zitierte Plädoyer von Bundeskanzler Adenauer, zwar die „wirklich Schuldigen“ zu bestrafen, das Vergangene ansonsten aber vergangen sein zu lassen. Die Anerkennung der Verantwortung für die NS-Diktatur und ihre Verbrechen ging mit deren Zuordnung an Hitler und die NS-Führungselite einher – nach dem Prinzip: „Je größer die Rolle Hitlers und seines Herrschaftssystems, umso entschuldbarer die deutsche Gesellschaft.“ Zur Auflösung der Fußnote[29]
Dieser wurde sozusagen ein „kollektiver Persilschein“ ausgestellt; über die Beteiligung der breiten Bevölkerung am Nationalsozialismus wurde geschwiegen. Der Philosoph Hermann Lübbe hat für diesen Zusammenhang ein „kommunikatives Beschweigen“ Zur Auflösung der Fußnote[30] der Vergangenheit festgestellt, das für die frühe Bundesrepublik existenziell gewesen sei, so seine nicht unumstrittene These. Andere sprechen auch von der „Adenauersche[n] Bindung von nationaler Identität und Schweigen über die Nazivergangenheit“, Zur Auflösung der Fußnote[31] die die junge Demokratie stabilisieren sollte. Zur Auflösung der Fußnote[32]
Dass dabei nicht über die NS-Vergangenheit als Ganze geschwiegen wurde, sondern vor allem über die Involviertheit der deutschen Gesellschaft, spiegelt sich auch in Adenauers Regierungserklärung zur „Haltung der Bundesregierung gegenüber den Juden“ vom 27. September 1951. In dieser nannte er zwar die "im Namen des deutschen Volkes" begangenen „unsagbare[n] Verbrechen“ und leitete daraus eine Pflicht zur „Wiedergutmachung“ ab, betonte aber auch: „Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt.“ Zur Auflösung der Fußnote[33]
Die Trennung zwischen „den Nazis“ und „den Deutschen“ begünstigte zugleich Ausprägungen eines Selbstverständnisses als „Opfer“: Opfer des Krieges und der Luftangriffe, von Flucht und Vertreibung sowie der Alliierten, aber auch Opfer der NS-Führung und Hitlers, der einen Krieg begonnen habe, in dem alle – insbesondere beim „Opfergang“ in Stalingrad – verloren hätten. Zur Auflösung der Fußnote[34] Ehemalige NS-Anhänger sahen sich als „politisch Verführte“ Zur Auflösung der Fußnote[35] und damit quasi „erste Opfer Hitlers“. Indem die Täter klar abgegrenzt wurden und die breite Bevölkerung sich auch als deren Opfer sehen konnte, hatte die Geschichtsdeutung auch ein integrierendes Moment. Dabei wirkte die Selbstviktimisierung aber zugleich exkludierend mit Blick auf die Opfer des Nationalsozialismus und auch des Holocaust. Diese wurden in den frühen Jahren der Bundesrepublik – wie auch in der DDR – gewissermaßen zum zweiten Mal zu Opfern: zu Opfern der Erinnerung.
Die Distanzierung von der NS-Diktatur erfolgte außerdem im Rahmen des antitotalitären Gründungskonsenses, wie er auch in Adenauers Regierungserklärung 1949 sichtbar geworden war. Indem sowohl die nationalsozialistische als auch die kommunistische Gewaltherrschaft abgelehnt wurden, diente das Geschichtsbild der Legitimierung als – antitotalitäre – Demokratie, aber auch der Instrumentalisierung gegen den anderen deutschen Staat. Interessant ist in diesem Kontext auch der westdeutsche Umgang mit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR, der geschichtspolitisch auch mit dem Widerstand des 20. Juli 1944 verknüpft wurde, um wiederum Nationalsozialismus und Kommunismus als Unrechtsregime zu verurteilen. Auch wurde er zur Rehabilitierung mit Blick auf die NS-Vergangenheit genutzt: Der Volksaufstand habe „viele Flecken hinweggewaschen, mit denen das ruchlose Regime des Nationalsozialismus unseren Namen beschmutzt hat“, Zur Auflösung der Fußnote[36] äußerte zum Beispiel der SPD-Politiker Carlo Schmid 1956. Mit der Totalitarismustheorie konnte die Bundesrepublik zudem an althergebrachte antikommunistische Haltungen anknüpfen, was somit ebenfalls integrierend wirkte. Zur Auflösung der Fußnote[37]
Einen Gründungsmythos wie den Antifaschismus-Mythos der DDR gab es in der Bundesrepublik nicht. Ein nationales Selbstbild entwickelte sich erst allmählich. Negativ begründet, in normativer Abgrenzung vom Nationalsozialismus und der daraus positiv resultierenden Verpflichtung zu Rechtsstaatlichkeit und freiheitlich-demokratischen Grundwerten, wurde es im Laufe der Jahre um spezifisch bundesrepublikanische Bezugspunkte wie das Grundgesetz, den Verfassungspatriotismus oder das „Wirtschaftswunder“ erweitert, mit denen sich schließlich eine Erfolgsgeschichte des 1949 in Westdeutschland gegründeten Staates erzählen ließ.
„Nie wieder – ist jetzt“
Jahre später sollte auch die „Vergangenheitsbewältigung“ zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik gezählt werden. Denn die Anerkennung einer nur reduzierten Verantwortung bei gleichzeitigem Schweigen über die gesellschaftliche Beteiligung am Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik wurde im Laufe der Zeit von einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit abgelöst, die schließlich – auch vor dem Hintergrund der dann doppelten Vergangenheitsaufarbeitung seit dem Ende der SED-Diktatur mit dem Mauerfall 1989 – sogar als weltweit vorbildlich galt. Zur Auflösung der Fußnote[38] Diese Entwicklung kann hier nicht im Detail dargestellt werden. Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die für ihre Forschungen zur Erinnerungskultur 2018 gemeinsam mit ihrem jüngst verstorbenen Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, hat die Holocaust-Erinnerung der Bundesrepublik aber als ein Crescendo beschrieben, also als eine immer stärker werdende Beschäftigung mit der Vergangenheit. Alle 20 Jahre – 1965, 1985 und 2005 – sei dabei eine neue Stufe erreicht worden. Zur Auflösung der Fußnote[39]
Während in der DDR der Antifaschismus-Mythos bis zu ihrem Ende weitgehend statisch blieb und es dort erst in den 1980er Jahren zu einer allmählichen Flexibilisierung des Geschichtsbilds auch mit Blick auf die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus kam, begann in der Bundesrepublik ab Ende der 1950er Jahre ein Diskurs über die NS-Vergangenheit. Dieser verstärkte sich zunehmend, wurde vor allem in den 1980er Jahren, unter anderem infolge der Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ 1979, sehr intensiv und mündete schließlich in einen ab den 1990er Jahren einsetzenden Erinnerungsboom, der nach und nach die verschiedenen, auch die sogenannten vergessenen Opfergruppen einschloss. Dabei hat sich die Erinnerungskultur aber nicht ganz so linear entwickelt, wie es das Bild eines Crescendos nahelegt. Bei der Erinnerung an die NS-Zeit und ihre Opfer waren vielmehr Durchsetzungskämpfe zu führen, und es gab immer wieder auch Rückschläge und vergangenheitsbezogene Skandale. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen. Die Erinnerungskultur entwickelt sich beständig weiter, sieht sich nach wie vor Herausforderungen ausgesetzt und hat auch Defizite.
Schon länger werden zum Beispiel ein inhaltsleeres und ritualisiertes Erinnern insbesondere auf staatlicher Ebene sowie eine übermäßige Opferidentifizierung kritisiert. Zur Auflösung der Fußnote[40] Auch sind Zweifel an der tatsächlichen Verankerung des Konsenses des „Nie wieder“ in der Gesellschaft der Bundesrepublik aufgekommen – nicht erst seit den antisemitischen Reaktionen auf den 7. Oktober 2023, an dem die Terrororganisation Hamas Israel überfallen und mehr als 1.200 Menschen brutal ermordet und weitere entführt hat. 2020 hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Blick auf das erneute Aufleben des Antisemitismus in seiner Rede zum 27. Januar geäußert: „Ich wünschte, ich könnte (…) heute mit Überzeugung sagen: Wir Deutsche haben verstanden. Doch wie kann ich das sagen, wenn Hass und Hetze sich wieder ausbreiten, wenn das Gift des Nationalismus wieder in Debatten einsickert – auch bei uns?! Wie kann ich das sagen, wenn das Tragen der Kippa zum persönlichen Risiko wird (…)?! (…) Nein, meine Sorge ist nicht, dass wir Deutsche die Vergangenheit leugnen. Meine Sorge ist, dass wir die Vergangenheit inzwischen besser verstehen als die Gegenwart. Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Vision; gar noch als die bessere Antwort auf die offenen Fragen unserer Zeit.“ Zur Auflösung der Fußnote[41]
Nicht umsonst wird bei den seit Anfang 2024 stattfindenden Demonstrationen gegen Rechtsextremismus in Reaktion auf das Bekanntwerden des „Potsdamer Geheimtreffens“ vom November 2023, bei dem rechtsextreme Vertreibungspläne unter dem Stichwort „Remigration“ diskutiert wurden, „Nie wieder 1933“ und „Nie wieder ist jetzt“ skandiert. Für ein wirksames „Nie wieder“ braucht es eine lebendige Demokratie und ein gelebtes Grundgesetz. Diesen Zusammenhang hatte auch Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner oben zitierten Regierungserklärung zur „Haltung der Bundesregierung gegenüber den Juden“ 1951 hervorgehoben. Diese Haltung sei durch das Grundgesetz, insbesondere Artikel 3, eindeutig festgelegt. Dessen Normen könnten aber nur wirksam werden, wenn „die Gesinnung, aus der sie geboren wurden, zum Gemeingut des gesamten Volkes wird" und "der Geist menschlicher und religiöser Toleranz (…) nicht nur formale Anerkennung findet, sondern in der seelischen Haltung und praktischen Tat Wirklichkeit wird“. Zur Auflösung der Fußnote[42] Ein wichtiger Baustein für die Verinnerlichung der demokratischen Werte bleibt die Erinnerungskultur, deren Blick zurück in die Geschichte als Blick nach vorn aktuellen Herausforderungen und Bedrohungen der Demokratie entgegenwirkt.