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Warum es zur doppelten Staatsgründung kam | Doppelte Staatsgründung | bpb.de

Doppelte Staatsgründung Editorial Warum es zur doppelten Staatsgründung kam Blasse Erinnerung. Der Neubeginn nach 1945 im deutschen Gedächtnis Blick zurück nach vorn. Nationalsozialistische Vergangenheit und Neubeginn 1949 Von der Gründungsgeschichte bis zur Wiedervereinigung. Die deutsche Zweistaatlichkeit im Geschichtsschulbuch Parteigründungen in der SBZ und in den Westzonen Französische Blicke auf die doppelte deutsche Staatsgründung Gründungsgeschichten. Eine Ausstellungsbegehung

Warum es zur doppelten Staatsgründung kam

Ilko-Sascha Kowalczuk

/ 16 Minuten zu lesen

Die doppelte Staatsgründung war kein Akt des Jahres 1949, sondern vollzog sich über einen längeren Zeitraum. Mit den unterschiedlichen Staats- und Gesellschaftsvorstellungen des Westens und der Sowjetunion war die Teilung gleichwohl schon 1946 besiegelt.

Die doppelte deutsche Staatsgründung sah 1949 kein Zeitzeuge als etwas Endgültiges an. Deutschland-West – die Bundesrepublik Deutschland – und Deutschland-Ost – die Deutsche Demokratische Republik – galten als kurzlebige Provisorien. Im Westen gab es keine Staatsgründungsfeier. Konrad Adenauer verkündete am 23. Mai 1949 das Grundgesetz, die nach Artikel 146 vorläufige Verfassung, und damit trat die Bundesrepublik in die deutsche Geschichte ein, wie er selbst sagte. Die DDR ist am 7. Oktober 1949 formell ähnlich – mit einer Verfassung – ins Leben gerufen worden, allerdings mit einem pompösen Festakt. Nur einen Monat später druckte das "Neue Deutschland" die Staatshymne der DDR mit dem Text von Johannes R. Becher und der Musik von Hanns Eisler ab. In der Bundesrepublik dauerte es bis zum Frühjahr 1952, bis sich die dritte Strophe des "Lieds der Deutschen" als Hymne der Bundesrepublik durchgesetzt hatte. Bis dahin spielten bei feierlichen Anlässen die Kapellen mitunter Kölner Karnevalslieder – offenbar, um dem Rheinländer Adenauer zu gefallen.

Anfänge

Die Alliierten diskutierten zwischen 1943 und dem Sommer 1945 mehrere Varianten, wie mit dem Deutschen Reich und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern nach der totalen Niederlage umgegangen werden solle. Die Bandbreite der Vorschläge reichte von radikaler Abrechnung über Aufteilung und Zerstückelung des Landes bis hin zur weitreichenden Deindustrialisierung. Obwohl selbst Mitte 1945 das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Massenverbrechen noch nicht bekannt und erst recht nicht allgemein bewusst war – das dauerte noch viele Jahre, sowohl in Europa als auch in Nordamerika –, zweifelte kaum jemand außerhalb Deutschlands daran, dass Bedingungen dafür geschaffen werden müssten, dass nach 1914 und 1933/39/41 niemals wieder Gefahr von deutschem Boden ausgehe. In diesem Sicherheitsbedürfnis waren sich die Siegerstaaten einig. Die Entmilitarisierung Deutschlands einschließlich der Zerstörung der Kriegsindustrie war eine schnell gefundene Übereinkunft Londons, Washingtons und Moskaus. Auch die Besetzung Deutschlands und die politische Kontrolle des Reichs standen außer Frage. Eine Aufnahme in die UNO, die 1945 gegründet worden war, stand nicht zur Debatte. Deutschland sollte vorerst außerhalb der Völkergemeinschaft bleiben. In Jalta verständigten sich die USA, Großbritannien und die Sowjetunion im Februar 1945 auf die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen – wobei sie Frankreich in den Kreis der großen Siegerstaaten aufnahmen, nicht jedoch Polen. Stalin, auf dessen Befehl hin die Rote Armee im September 1939 Polen überfallen und okkupiert und mit der deutschen Wehrmacht an der nunmehrigen deutsch-sowjetischen Grenze Siegerparaden abgehalten hatte, wusste dies zu verhindern. Der derzeitige Diktator Russlands, Wladimir Putin, hat im Interview mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson im Februar 2024 diesen Krieg gegen Polen nicht nur verteidigt, sondern Polen sogar die Schuld zugeschoben: Stalin habe so handeln müssen, wie er gehandelt habe, so Putin – und Hitler auch.

Gleichwohl war die Aufteilung Deutschlands durch die Alliierten keineswegs als Dauerlösung gedacht. Nicht zuletzt Stalin war dagegen, weil ihm so die Zugänge zu den Rohstoffvorräten im Rhein-Ruhr-Gebiet versperrt blieben. Auch in der Frage der Bestrafung der Kriegsverbrecher und der Wiedergutmachung herrschte zwischen den Alliierten zunächst große Übereinstimmung. Allerdings gab es hier von Anfang an sehr unterschiedliche Vorstellungen über das Ausmaß. Letztlich waren sich der Kreml, Downing Street 10 und das Weiße Haus seit der Geheimkonferenz von Casablanca im Januar 1943 einig, dass Deutschland zur „bedingungslosen Kapitulation“ gebracht werden müsse. Dieser Formel von US-Präsident Franklin D. Roosevelt haftete zwar der „Wille zur totalen Verfügungsgewalt“ gegenüber Deutschland an (so der Historiker Hermann Graml), doch zugleich waren gerade die westlichen Demokratien unsicher, inwiefern sie diese Gewalt – in ihrer Praxis freilich oft genug ausgeübt – systematisch in Deutschland anwenden könnten. Nicht einmal das Verhältnis von Besatzungsmacht und deutscher Verwaltung in all diesen Prozessen war geklärt.

Die Konferenz von Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945 trug da nicht viel zur Klärung bei. Deutschland verlor im Osten bedeutende Gebiete, zugleich blieb ungeklärt, wie es mit dem Saarland oder dem Ruhrgebiet künftig weitergehen sollte. Die Oder-Neiße-Grenze wurde zur vorläufigen erklärt, aber kaum jemand zweifelte daran, dass diese Vorläufigkeit lange bestehen bleiben würde. Viel entscheidender war jedoch, dass die drei Siegermächte sich auf keine gemeinsame Wirtschafts- und Reparationspolitik einigen konnten, weshalb es auch kein geschlossenes Wirtschaftsgebiet mehr gab. Noch bevor also die nächsten Schritte hin zur deutschen Teilung erfolgten, war sie durch die Alliierten mehr oder weniger unfreiwillig vollzogen worden.

Unterschiedliche Gesellschaftskonzepte

Die deutsche Teilung war aber nicht allein das Produkt uneiniger Besatzungsmächte. Viel stärker schlug zu Buche, dass diese mit unterschiedlichen Staats- und Demokratievorstellungen nach Deutschland gekommen waren. Das war 1945 nicht unbedingt ersichtlich. Denn durch den Sieg über Hitlerdeutschland stand der sowjetische Diktator Stalin auf dem Höhepunkt seines internationalen Ansehens. Waren seine mörderischen Exzesse in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre bereits von vielen als nötig erachtet beziehungsweise skandalös bagatellisiert worden, weil die Sowjetunion als angeblich stärkste Gegenmacht zum nationalsozialistischen Deutschland galt – eine Einschätzung, die durch den Hitler-Stalin-Pakt am 23. August 1939 auch bei den wohlmeinendsten Beobachtern einen erheblichen Dämpfer erhalten hatte –, so trug der Sieg über das Deutsche Reich nicht nur zum rapiden Ansehensgewinn kommunistischer Ideen weltweit bei, nein, auch Stalin persönlich wurde zum vielumjubelten Herrscher selbst in solchen Kreisen, die dem Kommunismus eigentlich fern standen.

Zwar repräsentierten die USA und die Sowjetunion gegensätzliche politische Systeme, doch wiesen sie auch Gemeinsamkeiten auf: Beide waren durch Revolutionen etabliert worden, in beiden herrschte extreme Ungleichheit, beide wiesen Unterdrückungspotenziale auf. Das Sowjetreich war eine imperiale Großmacht geworden, die mit allen Mitteln die annektierten Kolonien sowjetisierte und mit mörderischen Mitteln gegen jede Abweichung vorging. Und auch die USA waren alles andere als eine Musterdemokratie: Die legale Sklaverei, die Ausrottung der „Native Americans“ oder die Jim-Crow-Gesetze zur „Rassentrennung“ hatten die USA zu einer rassistisch segregierten Gesellschaft gemacht, was nach 1945 sogar noch einen neuen kräftigen Schub erhielt. Zugleich aber hatte die Weltwirtschaftskrise 1929/32 die USA – anders als viele andere Staaten, insbesondere Deutschland – nicht in eine Krise der Staatsdemokratie geführt. Obwohl Roosevelt mit dem New Deal (1933–1938) erstmals einen starken Staat installierte – übermächtig wurde er nicht. Die USA gründeten auf der Annahme, dass Freiheit und Gleichheit (mit erheblichen Einschränkungen freilich für Schwarze, Frauen, die Arbeiterklasse und Unterschichten) nur zu garantieren seien, wenn die politische Macht in ihrem Aktionsradius eingeschränkt sei und dem Staat enge Grenzen gesetzt würden. Ähnlich verhielt es sich mit Großbritannien. Weit davon entfernt, eine Bilderbuchdemokratie zu sein – in seinen Kolonien trat es als grausamer imperialer Unterdrücker auf –, trug es dennoch grundsätzlich das Potenzial für eine partizipative, emanzipatorische und wandlungsfähige Demokratie in sich. Sowohl die USA als auch Großbritannien entwickelten sich überdies durch die Weltwirtschaftskrise und dann den Krieg zu Sozialstaaten, wie es sie bis dahin nicht gegeben hatte.

Auch die Kommunisten wollten einen Sozialstaat errichten, der allen arbeitenden Menschen zugutekommen sollte. Sozialpolitik hieß immer auch, die Gesellschaft beruhigen und einhegen zu wollen, ganz unabhängig vom politischen System. Anders als in den USA setzten die Bolschewisten in der Sowjetunion jedoch auf einen starken, einen übermächtigen Zentralstaat. Sie propagierten zwar, dass der Staat irgendwann absterben und sich in Luft auflösen würde, bis dahin jedoch sei es nötig, mit einer „Partei neuen Typus“ und einer „Diktatur des Proletariats“ die alte Unterdrückerklasse in Schach zu halten beziehungsweise auszumerzen und der neuen Herrscherklasse, der Arbeiterklasse, das nötige Bewusstsein zu vermitteln.

Beide Begriffe sind von grundsätzlicher Bedeutung, weil sie offenbaren, warum die Teilung Deutschlands folgerichtig, wenn auch nicht alternativlos erscheint, nachdem die Alliierten erst einmal ihre Interessens- und Einfluss- respektive Besatzungszonen gegenseitig akzeptiert hatten. Die kommunistische Abspaltung von der Sozialdemokratie war nicht nur ein praktischer, sondern auch ein theoretischer Prozess. Der Bolschewistenführer Lenin hatte 1902 in seiner berühmten Schrift „Was tun?“ für die künftige radikalsozialistische Parteientwicklung herausgestellt, dass die zu bildende „Partei neuen Typus“ eine aus Berufsrevolutionären bestehende, stramm organisierte und konspirative Regeln wahrende Avantgarde sein müsse, deren soziale Herkunft gleichgültig war – Hauptsache, sie hatte sich dem revolutionären Umsturz und der Führung der Arbeitermassen verschrieben.

Lenin setzte damit zwei neue Akzente: Die Führer der Arbeiterklasse mussten nicht selbst Arbeiter sein, und der Sozialismus konnte auch gegen die Arbeiter durchgesetzt werden. Marx’ Annahme, dass das Sein das Bewusstsein bestimme – worauf sich letztlich die Erwartung der bevorstehenden sozialen Revolution im gesetzmäßigen Ablösungsprozess der Gesellschaftsformationen gründe –, negierte Lenin mit seiner neuen Parteikonzeption. Er ging davon aus, dass „999 von 1.000 der Bevölkerung bis ins innerste Mark demoralisiert sind durch politische Knechtseligkeit und durch einen absoluten Mangel an Verständnis für Parteiehre und Parteibindung“ und daher eine straffe, an eine Armee erinnernde Parteiavantgarde nötig sei, deren Kennzeichen eben nicht ihre soziale Herkunft, sondern ihre unerschütterliche Treue zur Revolution und deren Anführern sei. Die „Diktatur des Proletariats“, wie Marx und Engels sie 1848 als anstrebenswert plakatiert hatten, war unter Lenins theoretischen Erörterungen von einer Parteidiktatur zu einer Einmanndiktatur geschrumpft.

Diktatur als angestrebte Staatsform

Karl Marx verstand unter der „Diktatur des Proletariats“ eine „politische Übergangsperiode“ für den Staat vom Kapitalismus zum Kommunismus. Gemeinsam mit Engels plädierte er für „despotische“ Eingriffe bei der Machtübernahme. Gleichwohl sahen sie in der Diktatur kein dauerhaftes Machtmittel, sondern eine Übergangsform auf dem Weg zur Herrschaft und zum proletarischen Staat. Terror als dauerhafte Staatsform kam Marx und Engels nicht in den Sinn. Für sie gehörten die Grundfreiheiten zum Sozialismus dazu. Sie sahen sie als unveräußerlich an und gingen von der Prämisse aus, dass der Sozialismus nicht von einer Minderheit erzwungen werden könne. Erst Lenin verquickte Macht und Gewalt zu einer Symbiose in Form einer proletarischen Diktatur unter Führung einer kleinen Avantgarde. Diese würde die „Diktatur des Proletariats“ so lange befehligen, bis sich alle ihrer Doktrin unterworfen hätten. Lenin zufolge konnte sich nur Marxist nennen, wer diese Diktatur anerkannte. Stalin fasste das in die einprägsame Formel: „Die Diktatur des Proletariats ist die durch kein Gesetz beschränkte und sich auf Gewalt stützende Herrschaft des Proletariats über die Bourgeoisie – eine Herrschaft, die die Sympathien und die Unterstützung der werktätigen und ausgebeuteten Massen besitzt.“ Bei Lenin geriet unter dem Eindruck der Machtausübung der Staat zum Interessenvertreter des Proletariats, sodass jeder, der sich gegen den Staat stellte, gegen die Interessen der Arbeiterschaft handelte.

Der leninistische Diktaturbegriff ähnelte stark Carl Schmitts Auffassung von Diktatur und seinen Überlegungen zu Legalität und Legitimität. Gleichwohl ist auch Lenins Staats- und damit Diktaturvorstellung vor dem Hintergrund zu sehen, dass er von der Weltrevolution ausging, die Abschaffung des Staates also nie anders als im globalen Maßstab dachte. Die Diktatur verstand er als eine staatliche Übergangsform, die sich gegen die alten bürgerlichen Machtverhältnisse richtete. Dass sie sich im bäuerlichen Russland a priori gegen die Mehrheitsgesellschaft wandte, war theoretisch bei Lenin nicht vorgesehen. Er erkannte das Dilemma und folgerte, dass Minderheiten ihre Stärke darin entfalteten, Mehrheiten ihren Willen aufzuzwingen.

Niemals scheuten sich die Kommunisten, ihre angestrebte Staatsform als Diktatur zu preisen. Der Sozialist Karl Kautsky, der den Kommunisten immer besonders verhasst blieb, bestritt hartnäckig, dass Terror wie ein Naturgesetz zur Revolution dazugehöre. Die Leninisten hingegen waren der Auffassung, dass jeder Zwang, der im Namen des Sozialismus ausgeübt würde, per se gerechtfertigt sei, was Kautsky entschieden ablehnte. Er bestritt, dass Marx an eine Diktatur im landläufigen Sinne dachte, weil dieser keine Alleinherrschaft gemeint habe, sondern die Herrschaft der einen Klasse über die anderen. Er habe keine Regierungsform im Blick gehabt, sondern einen „Zustande, der notwendigerweise überall eintreten müsse, wo das Proletariat die politische Macht erobert hat“. Für Marx war die Kommune die "Regierung der Arbeiterklasse". Nach Kautskys Analyse wiederum war eine Diktatur die bequemste Regierungsform überhaupt, weil die Gesetze nicht für den Staat selbst gelten und er „mit der Bevölkerung umspringen“ kann, „wie es ihm gutdünkt“. Er erkannte, dass die „Diktatur des Proletariats“ in der Realität schnell zur Diktatur der Kommunistischen Partei entarten würde, „die in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Diktatur ihrer Führer“. Scharf kritisierte er, dass die Diktatur automatisch zur Unterdrückung jeglicher Opposition führe. Der Leninismus mache es unmöglich, neben einem Führer andere als gleichberechtigt zu dulden. Der demokratische Sozialismus sei unvereinbar mit jeglicher Diktatur. Lenin bezeichnete Kautsky als „Renegat“ – eine bewusste Irreführung, da die Bolschewisten die eigentlichen Renegaten waren. Er zeigte sich wütend darüber, dass einer der anerkanntesten Marx-Kenner seiner Zeit ausgerechnet Marx gegen das bolschewistische Verständnis von Diktatur in Stellung gebracht hatte.

Es war der junge Ökonom Jürgen Kuczynski, der 1926 in seinem Buch „Zurück zu Marx!“ auf den Punkt brachte, was die „Diktatur des Proletariats“ unter Führung der „Partei neuen Typus“ wirklich sei: die Herrschaft einer Minderheit, „weil die kommunistische Gesellschaft nicht nur aus neugeborenen Kindern besteht, sondern weil sie auch makelbehaftete Elemente des kapitalistischen Staates in sich aufnehmen muß. Die Diktatur ist das Schutzmittel der kommunistischen Gesellschaft gegen Ansteckung und Vergiftung durch diese ihre Bestandteile.“ Die Diktatur würde nur so lange angewandt, „solange es noch zerstörende Kräfte gibt“. Im Kommunismus werde es allen, so Kuczynski, als „selbstverständlich“ erscheinen, was bis dahin noch als Diktatur wahrgenommen wird.

Das ist ein interessanter Gedanke, weil er zum Ausdruck bringt, dass die „Diktatur des Proletariats“ keine objektive Tatsache ist, sondern von der Wahrnehmung der Menschen abhängt. Nicht die Staats- und Gesellschaftsform würde sich im Übergang zum Kommunismus ändern, sondern die Einstellung und Wahrnehmung der Menschen dazu. Dem liegt die dem Leninismus immanente Erziehungsdiktatur zugrunde. Aus dieser Sicht war es unumgänglich, dass mindestens zeitweise „auch gegen den Willen einer unverständigen, weil unsachverständigen, Masse entschieden werden kann“, Fragen und Probleme also „auf diktatorischem Wege gelöst werden müssen“. Kuczynski beendet diese prägnante Zusammenfassung der marxistisch-leninistischen Staats- und Diktaturauffassung mit dem Satz: „In allen Fällen also, selbst wenn sie gegen die Majorität gehandhabt werden, sind die diktatorischen Maßregeln im Übergangsstaat vom Kapitalismus zum Kommunismus auf das Wohl der Majorität gerichtet.“ Diese Deutung blieb bis zum Untergang der kommunistischen Diktaturen in Europa maßgeblich. Die Lehre von der „Diktatur des Proletariats“ blieb das Kernstück der marxistisch-leninistischen Revolutions- und Staatstheorie. Kommunisten sprachen auch von der „demokratischen Diktatur“.

Die deutsche Katastrophe spielte ihnen dabei insofern in die Hände, als die Legitimität des kommunistischen Weges auch ohne demokratische Verfahren 1945/46 von kaum jemandem angezweifelt wurde – dafür waren die Verwüstungen und Verbrechen einfach zu evident. Hinzu kam überdies eine globale Bewegung, die das weltweite Gefüge und die Geschichtsnarrative der vergangenen 500 Jahre grundlegend infrage stellte. Der einsetzende Dekolonisierungsprozess schwächte Europa und insbesondere die westlichen Siegerstaaten USA und Großbritannien massiv in ihrer Legitimität. Stattdessen stärkte die weltweite Befreiungs- und Revolutionsbewegung die Sowjetunion, denn diese Emanzipationsbewegung richtete sich ausschließlich gegen die imperialen Westmächte, paradoxerweise aber nicht gegen den größten imperialen Staat der Welt, die Sowjetunion. Im Gegenteil: Die Sowjetunion und China erfuhren eine Stärkung, weil sie sich gegen den Westen stellten und die Befreiungsbewegungen unterstützten.

Keine Verhandlungsspielräume

Der kurze Ausflug in übergeordnete Zusammenhänge sollte andeuten, dass es 1945 gar keine echten Verhandlungsräume zur Auslotung einer gesamtdeutschen Lösung gab, ging es doch um zwei gegensätzliche politische Ideen und Systeme, die beide um ihrer Existenz Willen gar nicht in der Lage waren, der anderen Seite Zugeständnisse zu machen. Kompromisse waren nur zum Preis der Selbstaufgabe möglich. Als Winston Churchill noch im Mai 1945 erstmals gegenüber US-Präsident Harry S. Truman das alte Wort vom „Eisernen Vorhang“ aufgriff und schrieb: „Was dahinter vorgeht, wissen wir nicht“, mahnte er bereits, die Sowjets könnten ihren Vormarsch, „wenn sie wollten, in kürzester Zeit bis zur Nordsee und zum Atlantik“ fortsetzen. Es sei „lebenswichtig“, zu „einer Verständigung mit Russland zu kommen, oder zu sehen, wo wir mit Russland stehen, ehe wir unsere Armeen bis zur Ohnmacht schwächen und uns auf unsere Besatzungszonen zurückziehen“. Im August 1945 warfen die USA über Hiroshima und Nagasaki zwei Atombomben ab – mit fürchterlichen Folgen. Bis heute wird über den Sinn dieser Massenmordaktion gestritten. Dass sie auch eine Machtdemonstration gegenüber dem Kreml war, steht dabei außer Frage. Im März 1946 sagte Churchill, mittlerweile kein britischer Premier mehr, in den USA öffentlich: „Von Stettin an der Ostsee bis Triest am Mittelmeer hat sich ein Eiserner Vorhang auf Europa herabgesenkt.“ Halb Europa befinde sich nunmehr unter der „Lenkung durch Moskau“. Es sei nicht das Europa, „für das wir gekämpft haben. Es birgt nicht die Essenz eines dauerhaften Friedens.“

Vor diesem Hintergrund sind die Teilung Deutschlands ab 1945 und die „doppelte Staatsgründung“ 1949 historisch einzuordnen, ganz unabhängig von den konkreten Abläufen wie etwa den Wahlen in Kommunen und Ländern 1946, dem Scheitern der Münchner Ministerpräsidentenkonferenz, bei der eine Zusammenarbeit aller deutschen Länder, auch der ostdeutschen, vereinbart werden sollte, der Bildung der Bizone, der Währungsreform, der Berlin-Blockade, der Erarbeitung des Grundgesetzes im Westen oder der Verabschiedung einer Verfassung im Osten. Deutschland war nicht souverän, auch keine einzelne Besatzungszone war es. Allerdings verabschiedeten sich explizit die Kommunisten frühzeitig von jeglichen Möglichkeiten, gesamtdeutsche demokratische Wege gehen zu können. Durch die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED und dem damit verbundenen Verbot der SPD in der Sowjetischen Besatzungszone im April 1946 waren sämtliche gesamtdeutschen Wege verbaut. Mit der Bildung der SED war die deutsche Teilung vorweggenommen und auf lange Zeit zementiert worden. Ohne die Zulassung demokratischer Parteien einschließlich der SPD war ein einheitliches Deutschland 1946 nicht denkbar. Diese erste Mauer im Deutschland der Nachkriegszeit wird bei der Betrachtung der „doppelten Staatsgründung“ zu oft übersehen. Die SED war von Anfang an als eine „Partei neuen Typus“ inszeniert worden, die eine „Diktatur des Proletariats“ anstrebte. Das proklamierten die Kommunisten um Walter Ulbricht nicht erst 1947/48, sondern bereits 1945/46, auch auf dem Parteitag, der die Vereinigung mit der Ost-SPD, wie es im Kreml geplant worden war, besiegelte.

Teilstaatsgründung

Walter Ulbricht kündigte am 2. Oktober 1949 im „Neuen Deutschland“ die Gründung des ostdeutschen Teilstaates an. Seine Begründung folgte der bisherigen Linie: Der westdeutsche Separatstaat habe den Charakter eines „Kolonialstaats“, das Grundgesetz sei von den Besatzungsmächten diktiert und breche nicht mit den Ursachen, die zum Faschismus geführt hätten. Um die deutsche Einheit weiter zu ermöglichen, werde die verabschiedete Verfassung der „deutschen demokratischen Republik“ – den Begriff benutzten die Kommunisten seit 1937, damit an die 1848er-Tradition anknüpfend – nun in Kraft gesetzt, um die demokratische Ordnung, den demokratischen Staat zu stärken.

Am 7. Oktober 1949 erfolgte die Staatsgründung. Vier Tage später inthronisierten die Sowjets Wilhelm Pieck als Präsidenten und einen Tag später die Regierung Otto Grotewohls. Der wichtigste deutsche Kommunist, Walter Ulbricht, war jetzt stellvertretender Ministerpräsident mit weitreichenden Befugnissen in Partei und Staat – niemand zweifelte daran, dass er der starke Mann in der Regierung und der SED war. Die Hauptaufgabe bestand darin, die Prinzipien der „Partei neuen Typus“ nun auf Staat und Gesellschaft zu übertragen.

Bereits am 4. Oktober hatte sich der Parteivorstand der SED um 11 Uhr im „Zentralhaus der Einheit“ versammelt. Dabei kam es zu Äußerungen, die eindrucksvoll das Selbstverständnis der SED-Funktionäre spiegelten und auch zeigten, wie stark die Teilung eine zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Freiheit und Unfreiheit war. Gerhart Eisler, erst im Juni 1949 aus der Emigration in den USA zurückgekehrt und nun für Massenagitation zuständig, forderte, im Rahmen der Staatsgründung Massendemonstrationen und andere Mobilisierungsmaßnahmen zu initiieren, „damit (…) die Bildung der provisorischen Regierung nicht nur ein Akt von Leuten innerhalb eines Gebäudes wird“. Eisler wollte, dass die Passiven und Abseitsstehenden durch Rundfunkübertragungen von den Manifestationen überall im Land mitgerissen würden. „So wird sich die provisorische Regierung weithin sichtbar in der ganzen Zone von vornherein auf eine ständig anschwellende Bewegung von Massen stützen. Das sollten wir diskutieren und dann durchführen; denn als Marxisten müssen wir wissen: wenn wir eine Regierung gründen, geben wir sie niemals wieder auf, weder durch Wahlen noch andere Methoden.“ Walter Ulbricht bekräftigte diese Aussage mit dem Zwischenruf: „Das haben einige noch nicht verstanden!“

Die „doppelte Staatsgründung“ 1949 war kein Akt, der an einem bestimmten Tag begann. Noch viel weniger war er mit Inkraftsetzung von Grundgesetz und DDR-Verfassung beendet. Erst in den 1980er Jahren verabschiedete sich die Bundesrepublik „von ihrem Selbstverständnis als Provisorium“. Die DDR wiederum verstand sich von Beginn an als historisch, als Höhepunkt der deutschen Geschichte. Und doch brauchte auch sie, um zu sich selbst zu finden. Im Juni 1953 fegte ein Volksaufstand die SED-Diktatur beinahe hinweg. Die kommunistische Führungsgruppe lernte daraus. In der nächsten, ganz ähnlichen Krise 1960/61 zog sie andere Schlüsse und nahm ihre ganze Staatsgesellschaft in Haft. Sie mauerte sie ein und sperrte sie prophylaktisch weg. Der Prozess der „inneren Staatsgründung“ war nun erst abgeschlossen. Aus dem fragilen SED-Staat wurde ein stabil erscheinender, der zehn Jahre später international anerkannt wurde und 1973 gemeinsam mit der Bundesrepublik in die UNO aufgenommen wurde. DDR und Bundesrepublik schienen auf dem Weg in die Endgültigkeit. 1989 beendete eine osteuropäische Freiheitsrevolution diesen „Sonderweg“.

Die „doppelte Staatsgründung“ war eine Episode der Geschichte, die zum ewigen Kampf zwischen Freiheit und Unfreiheit gehört. 1989 siegte die Freiheit. In Deutschland ist das nicht selbstverständlich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jill Lepore, Diese Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, München 2019; Ibram X. Kendi, Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika, München 2017; Howard Zinn, Eine Geschichte des amerikanischen Volkes, Hamburg 2013 [1980]; James Q. Whitman, Hitlers amerikanisches Vorbild. Wie die USA die Rassengesetze der Nationalsozialisten inspirierten, München 2018.

  2. Vgl. Kiran Klaus Patel, The New Deal. A Global History, Princeton 2016.

  3. Vgl. Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 20103.

  4. Wladimir I. Lenin, Was tun? [1902], in: ders., Werke, Bd. 5, Berlin 19859, S. 377, Anm. *.

  5. Vgl. Karl Marx an Joseph Weydemeyer, 5.3.1852, in: ders./Friedrich Engels, Werke, Bd. 28, Berlin 1963, S. 508; ders., Kritik des Gothaer Programms [1875], in: ebd., Bd. 19, Berlin 19879, S. 28.

  6. Grundlegend unter Einbeziehung des Diktatur-Begriffs im Gegensatz zum Begriff der Tyrannei: Wilfried Nippel, Diktatur des Proletariats – Versuch einer Historisierung, in: Zyklos 5 – Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie 2019, S. 71–130.

  7. Vgl. Wladimir I. Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution [1917/18], in: ders. (Anm. 4), S. 393–507, hier S. 424.

  8. Josef W. Stalin, Über die Grundlagen des Leninismus. Vorlesungen an der Swerdlow-Universität [1924], in: ders., Werke, Bd. 6, Berlin 1952, S. 39–101, hier S. 63.

  9. Vgl. Wladimir I. Lenin, Über Verfassungsillusionen [1917], in: ders., Werke, Bd. 25, Berlin 1974, S. 193–208, hier S. 200f.

  10. Vgl. Karl Kautsky, Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Revolution, Berlin 1919, S. 9, S. 124f.

  11. Ders., Gegen die Diktatur, Berlin 1919, S. 2.

  12. Vgl. Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich [1871], in: ders./Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, Berlin 1962, S. 313–365, hier S. 342.

  13. Vgl. Karl Kautsky, Die proletarische Revolution und ihr Programm [1922], 3., durchges. u. überarb. Aufl., Berlin 1932, S. 63ff., S. 113ff.

  14. Vgl. ders., Kommunismus und Sozialdemokratie, Berlin 1932, S. 9.

  15. Vgl. ders. (Anm. 13), S. 119.

  16. Vgl. Wladimir I. Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, in: ders., Werke, Bd. 28, Berlin 1970, S. 223–327, bes. S. 229–248.

  17. Jürgen Kuczynski, Zurück zu Marx! Antikritische Studien zur Theorie des Marxismus, Leipzig 1926, Vorwort u.S. 162–166.

  18. Vgl. Georg Lukács, Demokratische Diktatur [1928], in: ders., Demokratische Diktatur. Politische Aufsätze V: 1925–1929, Darmstadt–Neuwied 1979, S. 170–179.

  19. Vgl. Akira Iriye (Hrsg.), 1945 bis heute. Die globalisierte Welt, München 2013; Dietmar Rothermund, Delhi, 15. August 1947. Das Ende kolonialer Herrschaft, München 1998.

  20. Zit. nach Odd Arne Westad, Der Kalte Krieg. Eine Weltgeschichte, Stuttgart 2020, S. 77.

  21. Zit. nach Thomas Kielinger, Winston Churchill. Der späte Held. Eine Biographie, München 2014, S. 344.

  22. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Walter Ulbricht – Der deutsche Kommunist (1893–1945), München 20232; ders., Walter Ulbricht – Der kommunistische Diktator (1945–1973), München 2024.

  23. Stenographische Niederschrift über die 22. (36.) Tagung des PV der SED am 4.10.1949, in: Siegfried Suckut, Die Entscheidung zur Gründung der DDR. Die Protokolle der Beratungen des SED-Parteivorstandes am 4. und 9. Oktober 1949, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1/1991, S. 125–175, hier S. 161.

  24. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium, 1982–1990, Stuttgart 2006, S. 11.

  25. Vgl. Kowalczuk (Anm. 22), Walter Ulbricht – Der kommunistische Diktator, S. 366–372.

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ist Historiker und Publizist. Zuletzt erschien seine zweibändige Biografie Walter Ulbrichts bei C.H. Beck.