Alle Welt hat Angst vor Cancel Culture, aber jede Nation lebt diese Angst auf ihre Weise aus. Der russische Diskurs über „культура отмены“ ist nicht der brasilianische um „cultura do cancelamento“, der französische über „le wokisme“ hat wenig mit dem türkischen über „linç kültürü“ zu tun. Wenn man die Sorge um „die“ Cancel Culture also als Mediendiskurs thematisiert, muss man vorsichtig sein. Denn es hängt viel davon ab, wessen Medien gemeint sind.
In meinem Buch „Cancel Culture Transfer“
Evidenz und Interpretation
Wenn man die Warnung vor Cancel Culture als Mediendiskurs analysiert, heißt das wohlgemerkt nicht, dass betreffende Vorfälle nicht existierten. Es meint vielmehr, dass ihnen eine falsche Bedeutung zugemessen wird. Dies erstens in dem Sinne, dass es weitaus weniger solcher Fälle gibt, als suggeriert wird – was die Frage nach sich zieht, warum gerade diese Vorkommnisse als besonders signifikante Probleme unserer Gegenwart an ein breites Lesepublikum herangetragen werden. Und zweitens in dem Sinne, dass sie unter der Schablone „Cancel Culture“ sozusagen präformiert in den öffentlichen Diskurs gelangen. Cancel Culture ist keine Tatsachenbeschreibung, sondern Interpretation.
Was also existiert wirklich? Der Begriff „Cancel Culture“ ist in Online-Communities, vor allem unter afroamerikanischen Fangruppen entstanden. Ohne das Internet, insbesondere ohne Twitter, hätte er nicht die Reichweite erlangt, die er auch in den Traditionsmedien seit 2019 hat. In Bezug auf das Internet reagiert der Begriff auf durchaus Reales: jene häufig unguten Eigendynamiken von Online-Diskursen – die schnelle Reaktion, die leichtfertige Aburteilung, der „Pile-On“, in dem jeder einem bereits Zurechtgewiesenen noch den eigenen Senf dazugeben muss. Ob solche Verhaltensweisen in bestimmten Gruppen weiter verbreitet sind als in anderen, wage ich zu bezweifeln. Die Algorithmen Twitters und Facebooks prädispositionieren uns alle zu solchen Diskursverknappungen. Für eine Warnung vor Cancel Culture reicht aber diese spezifische Diskurspraxis noch nicht aus. Um als Cancel Culture durchzugehen, müssen spezifische ideologische Inhalte und spezifische Identitäten involviert sein.
Vereinfacht könnte man sagen: Warnungen vor Cancel Culture sind vor allem Reaktionen auf zwei Hashtags: #MeToo und #BlackLivesMatter. Die Rede von der Cancel Culture trat 2019 ihren weltweiten Siegeszug an. Die erste Erwähnung in Frankreich dürfte in „Le Figaro“ gewesen sein, in einem Artikel aus dem Juli 2019, in dem es um den Regisseur Woody Allen als „Opfer der dort [in den USA] grassierenden Cancel Culture“ ging.
Was es hingegen bereits seit Jahrzehnten gibt, ist ein auf Hochtouren laufendes Mini-Gewerbe in den USA, das Campus-Anekdoten weiterverbreitet und politisch auszuschlachten versucht. Stramm konservative Organisationen wie das Intercollegiate Studies Institute, Accuracy in Academia, Students for Academic Freedom oder Campuswatch mussten jahrzehntelang Anekdoten von echter oder vermeintlicher Zensurwut per Post einsammeln und in kleinauflagigen Magazinen verklappen.
Bedrohte Redefreiheit?
Nicht nur dank dieser Organisationen gibt es in den USA seit den 1980er Jahren einen breiten Diskurs über die angeblich akut bedrohte Redefreiheit an amerikanischen Universitäten. Die Angst vor Cancel Culture aktiviert historisch eingeübte Interpretationsmuster, sowohl in den USA als auch in Deutschland. Man warnt uns seit fast vierzig Jahren in einem immer wieder aufgefrischten, aber merklich konstanten Vokabular und anhand eines immer wieder aktualisierten, aber strukturell äußerst ähnlich aufgebauten Anekdotenschatzes vor einer „neuen“ Zensur, einer „neuen“ Gedankenpolizei oder einem sich „nunmehr“ eintrübenden Diskursklima.
Dabei handelt es sich einerseits in der Tat um einen diskursiven Transfer, in dem US-amerikanische Anekdoten, Begriffe und Situationen einigermaßen direkt übernommen werden. Andererseits geht es um eine Reaktivierung älterer, spezifisch deutscher Topoi, die nun, über die Bande USA gespielt, in einem neuen, politisch weniger eindeutig verortbaren Gewand auftreten. „Machen Sie sich des Rassismus, Sexismus und Klassismus schuldig?“, fragte etwa 1991 das „New York Magazine“ unter dem Titel „Are You Politically Correct?“ auf seiner Titelseite. In der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) liest sich das 2021 dann so: „Wütende Denunziationen von scheinbar sexistischem oder rassistischem Verhalten, blitzartige Urteile und anschliessend scharfe Sanktionen gehören heute zum Rohstoff des globalen Medienbetriebs.“
Auch damals schon hieß es, politische Korrektheit („PC“) sei eine „totalitäre Ideologie“ und betreibe eine „Politik der Spaltung“. Und schuld daran waren schon damals – wie heute aus der Perspektive von Kritiker:innen wie Susan Neiman oder Yascha Mounk
Gleichzeitig zehrt die deutsche Rezeption von älteren Assoziationen, die mit den USA nichts zu tun haben, auf die man aber dank der US-amerikanischen Provenienz des Begriffes Cancel Culture nicht direkt Bezug nehmen muss, wenn man heute den „Tugendterror“ beklagt. Die Rede von den „Gutmenschen“ etwa etablierte sich in Deutschland schon in den 1980er Jahren unter Anti-68ern. Weiter ging es mit Martin Walsers Rede von „Moralkeulen“ und dem Diskurs als dem „andauernde[n] TÜV, der das Zugelassene etikettiert und den Rest tabuisiert“,
Verzerrungen
Inwiefern verzerrt die mediale Berichterstattung über Cancel Culture die Tatsachen? Eine erste Verzerrung ergibt sich oft schon daraus, dass Beschreibungen von Cancel Culture eher Warnungen vor ihr sind, die ihre implizite Dringlichkeit aus Trends ableiten, die empirisch so gar nicht gegeben sind. Wer von Cancel Culture spricht, tätigt gemeinhin nicht nur eine Aussage über das Hier und Jetzt. Vielmehr stellt der/die Betreffende einerseits eine Diagnose bezüglich jüngster Veränderungen an, trifft andererseits aber auch eine Vorhersage über die nahe Zukunft: Das Meinungsklima sei rauer geworden und drohe sich auch in der Zukunft weiter einzutrüben.
So schreibt etwa der Journalist Jochen Bittner in der „Zeit“ über den Verfall der Meinungsfreiheit in den USA: „Gab es im Jahr 2001 noch zwei Vorfälle, bei denen Demonstranten versuchten, missliebige Sprecher vom Campus auszuladen oder ihre Vorträge zu stören, wurden es danach deutlich mehr: 2015/16 gab es 38 solcher Versuche.“
Die zweite Verzerrung ergibt sich aus einem Effekt, den der Soziologe Stanley Cohen in den 1970er Jahren als „Inventarphase“
Dies hat einen dreifach verzerrenden Effekt: Erstens werden Dinge als Beweis für eine große Erzählung herangezogen, die sie bei genauerer Betrachtung gar nicht belegen. In dem zitierten Text von Steven Pinker und Bertha Madras etwa ist zu lesen, dass sechzig Prozent der 877 angeführten „Versuche, Wissenschaftler zu bestrafen, (…) zu tatsächlichen Sanktionen“ führten. Pinker und Madras ziehen für ihre Zählung eine Liste heran, in der alle Fälle aufgeführt sind, in denen ein/e Professor:in an den 6.000 Bildungseinrichtungen der USA erklärt hat, er oder sie sei aus Gründen disziplinarrechtlich belangt worden, die der Wissenschaftsfreiheit zuwiderlaufen – die sogenannte FIRE-Liste der Foundation for Individual Rights in Education. Damit wird suggeriert, dass die aktuellen Fälle – wie in der McCarthy-Zeit – einer klaren ideologischen Stoßrichtung folgten: Was früher der Antikommunismus war, ist jetzt „Wokeness“. Dem ist aber natürlich nicht so. Gewiss: Auf der FIRE-Liste finden sich Professor:innen, die wegen abfälliger Kommentare über Black Lives Matter in die Defensive gerieten. Aber sie enthält auch linke Professor:innen, die aufgrund ihrer Unterstützung solcher Gruppierungen ins Visier rechter Gruppen gerieten. Sie enthält Professor:innen, die sich mit ihrem Dekanat überwarfen und von deren Fällen öffentlich niemand etwas mitbekommen hat. Und doch soll durch das Framing von Pinker und Madras (nach dem Professor:innen „gemobbt, beschimpft, zum Schweigen gebracht und manchmal angegriffen wurden“) eindeutig das Schreckgespenst junger, identitätspolitisch beseelter Menschen evoziert werden.
Zweites machen Medien es in der „Inventarphase“ ihren Konsument:innen allzu leicht, den Anstieg in der Berichterstattung mit einem Anstieg der realen Verbreitung der zugrundeliegenden Zwischenfälle zu verwechseln. Wenn es im obigen Zitat von Jochen Bittner Zahlen gibt, die mit Vorsicht zu genießen sind, so sind das weniger die 38 Cancel-Versuche 2015/16, sondern eher die angeblichen zwei im Jahr 2001. Bittner hat diese Zahlen ebenfalls der Datenbank von FIRE entnommen, auf die auch Pinker zurückgriff. Diese beinhaltet in der Tat sehr wenige Einträge für das frühe einundzwanzigste Jahrhundert. Eine stichprobenhafte Expedition in diverse Pressearchive ergibt allerdings, dass natürlich schon damals mehr solcher Fälle vorlagen, als rückblickend gezählt und in die Datenbank aufgenommen wurden. Allerdings wurde seltener in den nationalen und internationalen Medien über solche Vorgänge berichtet. Damalige Vorfälle konnten weder auf Twitter verewigt noch als Fox-News-Clips bei Youtube unsterblich werden. Hier wirkt auch die allgemeine Amnesie in diesen Diskursen: Dass wir vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren schon ziemlich ähnlich über solche Phänomene geklagt haben, ist beim Klagen über die Gegenwart sehr schnell vergessen.
Eine dritte Verzerrung ergibt sich daraus, dass bestimmte Leser-, Hörer und Zuschauerschaften, gerade auch in Deutschland, lange selektiv für solche Verschiebungen sensibilisiert wurden. Das heißt, einem Teil des Publikums wurde beigebracht, bei bestimmten Vorfällen, etwa der Störung eines Redners an einer Universität durch linke Student:innen, sehr viel genauer hinzuschauen und diesem Ereignis mehr Bedeutung beizumessen als einem zumindest auf den ersten Blick identisch gelagerten Fall, in dem es nicht um vermeintlich „woken Widerstand“ geht.
Das ist die aufmerksamkeitsökonomische Dimension dieses Diskurses: Seine Währung und sein primäres Ziel heißen Aufmerksamkeit. In den allermeisten Texten, in denen vor politischer Korrektheit oder Cancel Culture gewarnt wird, steht am Ende keine politische Forderung (etwa nach einem Gesetz, das es zu verabschieden gälte), sondern ein moralischer Appell: „Lasst uns weiter genau hinschauen!“ – als ob wir alleine durch unsere obsessive Beschäftigung mit dem Thema schon einen Beitrag zur Besserung geleistet hätten. Dabei hat die wichtigste Meta-Botschaft dieser Diskussion vor allem mit der Frage zu tun, wer in unseren Medien und unserer Gesellschaft Aufmerksamkeit verdient und warum.
Moralische Panik
Es ist dieser Aspekt, der es mir angemessen erscheinen lässt, von der Angst vor Cancel Culture als „moralischer Panik“ zu sprechen. Es geht mir dabei nicht darum, den Warnern vor Cancel Culture gemäß eines heute beliebten Vorwurfs „Moralisierung“ vorzuwerfen. Es geht mir vielmehr darum, eine die Tatsachen verzerrende Wahrnehmung zu beschreiben, in der Aufmerksamkeit moralisiert wird. Der Begriff der moralischen Panik wurde in den 1970er Jahren durch den schon erwähnten britischen Soziologen Stanley Cohen geprägt.
Wenn für ein angeblich massives gesellschaftliches Problem ein ums andere Mal dieselben Anekdoten ins Feld geführt werden, liegt der Verdacht nahe, dass es sich hierbei um moralische Panik handelt. Wenn über junge Menschen und ihre seltsamen Sitten zwar unentwegt gesprochen, die solchermaßen zum Problem erklärten jungen Menschen selbst aber mysteriöserweise nie (oder fast nie) zu Wort kommen, scheinen wir es ebenfalls mit moralischer Panik zu tun zu haben. Und wenn mit großer Atemlosigkeit eine Scheinnähe zwischen unterschiedlichen Phänomenen evoziert wird – wenn das betreffende Phänomen zwar eigentlich ganz weit weg ist, aber „jetzt auch hierher“ schwappt, in die amerikanischen Vorstädte, nach Europa, nach Deutschland –, dann ist die Frage durchaus legitim, wer aus welchen Gründen diese radikale Entgrenzung eigentlich marginaler und provinzieller Vorgänge vornimmt.
Interessant ist, dass bei Warnungen vor Cancel Culture eigentlich immer dieselben zehn kanonischen Fälle angesprochen werden. Damit soll nota bene nicht verteidigt werden, was in diesen spezifischen Fällen passiert ist. Auffällig ist aber doch, dass das ständige Recycling der Beispiele selbst eine spezifische Sprache spricht, und zwar jenseits der jeweiligen Vorkommnisse. Denn mit dem angeblichen „Nicht-zu-Wort-Kommen“ ist es in Zeiten der Cancel Culture eine einigermaßen kuriose Sache: Dass einem Menschen, von dem gesagt wird (oder der von sich selber sagt), er sei „gecancelt“ worden, gemeinhin mehr Aufmerksamkeit zukommt als vorher, heißt einerseits nicht, dass es das Canceln nicht gegeben hat. Es zeigt andererseits aber doch, dass „Gecancelt-Werden“ nicht notwendigerweise mit einer „Unsichtbarmachung“ oder einem „Zum-Verstummen-Bringen“ einhergeht. Umgekehrt würde man annehmen, dass Menschen, die andere „canceln“ – die Chefankläger, die Robespierres unserer Zeit –, Mediendiskurse und die öffentliche Debatte dominieren. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall: Wem Canceln vorgeworfen wird, der kommt im öffentlichen Diskurs über das Canceln kaum mehr vor.
In den deutschen Medien hat in jüngerer Zeit zum Beispiel der Fall der britischen Philosophin Kathleen Stock von der University of Sussex Furore gemacht. Studierende warfen Stock transphobe Äußerungen und politischen Aktivismus vor, offene Briefe flogen hin und her, und am Schluss schmiss Kathleen Stock im Juli 2021 entnervt hin und gab ihre Professur auf. In den zwölf Monaten nach ihrem Abgang erschienen in deutschen Tageszeitungen 130 Artikel, die sich mit dem Fall beschäftigten, 24 davon allein in der „Welt“. Darunter waren Interviews mit der Philosophin, Rezensionen ihres Buches und natürlich Essays, die eine „Hetzjagd“ analysierten und beklagten, der Stock vonseiten der „Transgender-Aktivisten“ ausgesetzt gewesen sei. Hier solle, so der Tenor der Beiträge, eine Debatte abgewürgt werden.
Die Debatte wurde in der Tat abgewürgt, nur war es nicht Stocks Position, die aus der Öffentlichkeit verschwand. Den 130 Artikeln, in denen Stock zu Wort kam, standen gerade einmal fünf Wortmeldungen prominenter Kritiker:innen ihrer Position gegenüber. Das ist teilweise dem Framing geschuldet, denn es ging ja um die „lesbische Philosophin“ einerseits und den anonymen „Twitter-Mob“ andererseits. Darüber hinaus aber scheint Cancel Culture aus Sicht der Kritiker:innen nicht Teil einer „echten“ Debatte, keine „echte“ Streitkultur zu sein – weshalb, sobald Cancel-Culture-Vokabular bemüht wird, auch nicht mehr über eine Debatte als Debatte und über einen Streit als Streit berichtet werden muss. Stattdessen tritt man die Flucht auf die Meta-Ebene an: Statt über die Debatte selbst und ihre Inhalte kann man über die angeblich wegbrechenden Bedingungen der Möglichkeit von Debatte sinnieren.
Das ist mit dem Wort von der „moralischen Panik“ gemeint; es geht darum, wer wieviel Aufmerksamkeit erfährt und verdient. Denn einerseits geht es bei der Erregung über angeblich zensurwütige amerikanische College-Student:innen zwar häufig um jene jungen (und oft nichtweißen) Menschen in den USA, andererseits geht es aber gerade nicht um sie in dem Sinne, dass man sie zum Interview anriefe, um ihre Sicht der Dinge genauer zu verstehen. Diese Art der Sympathie wird im Sprachspiel der Cancel Culture nur dem Cancel-Opfer zuteil, das im Normalfall die Geschichte seiner cancellation als Solo vortragen darf.
Ausblick
Ein durchschnittlicher Warntext vor Cancel Culture beginnt fast immer mit Anekdoten, von denen dann auf ein größeres Ganzes geschlossen wird, um danach auf ein breiteres systemisches und kulturelles Problem zu verweisen – das sich eintrübende Diskursklima, einen neuen McCarthyismus von links und anderes mehr. In dem oben zitierten Text aus der NZZ etwa heißt es: „Die Auswahl der Fälle ist zufällig. Sie ließe sich beliebig verlängern.“
Nun sind im Falle von Black Lives Matter und #MeToo die Vorwürfe sehr viel plausibler, die Fallzahlen deutlich höher und die Vermittlung zwischen Einzelfall und System weitaus besser belegt. Dennoch ist es ein interessantes Phänomen, dass Cancel-Culture-Stories das Format und die Rhetorik der genannten Bewegungen nachahmen und gleichzeitig vor ihnen warnen. Es handelt sich gewissermaßen um #MeToo für Menschen, die vor #MeToo Angst haben. Und es ist ein virales Phänomen für Menschen, die vor viralen Phänomenen Angst haben.
Dabei geht es nicht nur um eine Kritik dieses Diskurses, sondern auch um seine Analyse. Denn unsere Sorgen um Diskursrinnen, Schweigespiralen und Filterblasen sind in hohem Maße interessant – gerade in Deutschland. In den USA ist die Angst vor Cancel Culture, Identitätspolitik und „Wokeness“ relativ leicht zu verorten. Es handelt sich um Deckbegriffe, mit denen stramm konservative Kräfte sich selbst die Erlaubnis geben, so mit unliebsamen Meinungen zu verfahren, wie man es den „Woken“ immer vorwarf. Nicht umsonst hat Ron DeSantis, Gouverneur von Florida, sich in seinem „Stop WOKE Act“ die linke, „woke“ Cancel Culture vorgeknöpft und dabei Forschungs- und Meinungsfreiheit massiv beschnitten.
In Deutschland stellt sich die Sache weniger eindeutig dar. Vor allem beschäftigt sich der deutschsprachige Diskurs über Cancel Culture nicht nur mit sich selbst. Stattdessen hadert er mit Fragen von Provinzialismus und Weltbürgertum, deutscher Identität und Universalismus, Pluralismus und Leitkultur. Vor allem aber hadert er mit einer Welt, in der das Verhältnis zu den USA jene Selbstverständlichkeit eingebüßt hat, die es bis vor Kurzem noch hatte.