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Wissenschaftliche Diskurskultur zwischen Freiheit und Politisierung

Elif Özmen

/ 14 Minuten zu lesen

In der aktuellen Debatte um die Gefährdungen der Wissenschaftsfreiheit werden Einschränkungen der wissenschaftlichen Streit- und Debattenkultur und Verengungen von Denkräumen kritisiert. Was aber ist wissenschaftliche Diskurskultur eigentlich?

Das gesellschaftliche Vertrauen in die Wissenschaft ist gegenwärtig sehr hoch. So vertrauen 62 Prozent der Deutschen der Aussage- und Geltungskraft wissenschaftlicher Erkenntnisse „voll und ganz“; 69 Prozent finden, dass politische Entscheidungen durch wissenschaftliches Wissen getragen werden sollten; für ganze 60 Prozent gelten Hochschulprofessor:innen als besonders vertrauenswürdige Personen und Auskunftgeber (zum Vergleich: von Politiker:innen denken das gerade mal 17 Prozent, von Journalist:innen 32 Prozent der Befragten). Ein Grund für diese gesamtgesellschaftliche Anerkennung liegt in der relativen Unabhängigkeit der Wissenschaft und der Wissenschaftler:innen in Deutschland. Zwar ist mit den weltweiten Tendenzen der Entdemokratisierung und Autokratisierung in vielen Ländern auch ein Rückgang der Wissenschaftsfreiheit verbunden, doch für Deutschland gilt das nicht, wie der Spitzenplatz im Academic Freedom Index (AFI) nachdrücklich belegt. Gerade weil das AFI-Projekt verschiedene Dimensionen von Wissenschaftsfreiheit über einen langen Zeitraum in knapp 180 Ländern separat erhebt und miteinander vergleicht, kann dieses Ergebnis als besonders belastbar gelten.

Dennoch – und in einer gewissen Spannung zu diesen Index-Werten – gibt es eine anhaltende öffentliche Debatte um mutmaßliche Gefährdungen und Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit, die zu gefühlten oder realen Einschränkungen der wissenschaftlichen Streit- und Debattenkultur und zu (Selbst-)Regulierungen der Frei- und Denkräume an Hochschulen, auf Konferenzen und in der Wissenschaftskommunikation führen würden. Als Belege gelten Verbotsforderungen, Boykott-Aufrufe, die Verhinderung von Veranstaltungen, Drohungen und Denunziationen gegenüber einzelnen Wissenschaftler:innen, die Sanktionierung von Begriffen (wie das „N-Wort“, Weiße, „Rasse“, Frauen*) und nicht-gendergerechter Sprache sowie die harsche Zurückweisung bestimmter Denktraditionen, Werke, Autor:innen und Inhalte aufgrund ihrer (angeblichen oder auch tatsächlichen) mangelhaften politischen oder moralischen Güte.

Es geht in dieser Debatte also nicht um die altbekannten Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit durch staatliche Akteure und Eingriffe, sondern um „weichere“ Praktiken der gesellschaftlichen Einflussnahme, die allerdings mit harten Konsequenzen für die Betroffenen einhergehen können. Ebenso wie staatliche Kontrolle und Zensur würden diese (teil-)gesellschaftlichen Forderungen nach politischer Korrektheit, Trigger-Warnungen, Begriffs- und Sprachregelungen und die begleitende Kultur der Skandalisierung und des „Cancelns“ die Autonomie der Wissenschaftler:innen gefährden – und damit das Prosperieren der Wissenschaft im Ganzen. Als besonders perfide gilt, dass sich solche Versuche der politischen, moralischen und ideologischen Steuerung zwar außerwissenschaftlicher Leitnormen bedienen (wie Gleichstellung, Anti-Diskriminierung, Wiedergutmachung, Emanzipation, Gerechtigkeit), aber immer häufiger nicht „von außen“ kommen, sondern von Hochschulleitungen, Kolleg:innen und den Studierenden initiiert und durch wissenschaftliche Förderinstitutionen und Begutachtungs- und Publikationsprozesse gestützt werden.

Wie immer man sich hier positioniert: Die Debatte um die Freiheit der Wissenschaft und ihre mutmaßlichen inneren Feinde ist auch eine Debatte über die Gelingensbedingungen der Wissenschaft als eine kollektive, kooperative und weitgehend selbstregulierende Tätigkeit, deren Freistellung von staatlicher Fremdbestimmung und Politisierung dem ungehinderten wissenschaftlichen Bemühen um Wahrheit dient.

Formen der Politisierung der Wissenschaft

Ohne die Freiheit von wissenschaftsfremden Einflussnahmen kann Wissenschaft die ihr eigentümlichen Ziele – die Ermittlung signifikanter Wahrheiten, das Verstehen, Erklären und Begründen natürlicher und lebensweltlicher Phänomene, die Entwicklung adäquater Theorien und darauf gründender praktischer Anwendungen – nicht zufriedenstellend realisieren. Daher herrscht gegenwärtig große Einigkeit darüber, dass die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre schlechthin konstituierend ist für die Wissenschaft. Uneinigkeit besteht hingegen bezüglich der Frage, ob und welche „Politisierung“ der Wissenschaft zuträglich oder schädlich ist.

Während der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass Verschwörungserzählungen, „alternative“ Wahrheiten, Scharlatanerien und andere Querdenkereien das gesellschaftliche Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse und Kompetenzen unterminieren können. Es wurde aber auch deutlich, dass viele Bürger:innen und nicht wenige Akteure aus Politik und Medien schlichtweg unvertraut sind mit den Eigenarten der wissenschaftlichen Forschungs- und Diskurskultur. Die Gleichzeitigkeit von wissenschaftlichem Objektivitätsanspruch und wissenschaftlichen Unsicherheiten, Dissensen und Widersprüchen führte – und führt bei den Diskussionen um den Klimawandel regelmäßig – zu dem Eindruck, dass sich hinter wissenschaftlichen Positionen am Ende doch nur subjektive Interessen und Meinungen oder Ideologien verbergen. Zu einem solchen relativistischen und hegemonialen Bild von Wissenschaft tragen die faktische politische Instrumentalisierung der Wissenschaft, die Inszenierung von wissenschaftlicher Expertise sowie das eitel-willfährige „Hoflieferantentum“ mancher Wissenschaftler:innen in der Öffentlichkeit das Ihrige bei, sei es als Expertin, Funktionär, Talkshowgast, Politikberater oder Podcasterin.

Dabei sind solche Praktiken der Politisierung – der politischen Dienstbarmachung – von Wissenschaft weder neu, noch sollten sie besonders überraschen. Die Geschichte der Wissenschaften ist auch eine Geschichte der staatlichen Steuerung, politischen Zurichtung, Zensur und handfesten Repression. Zwar werden in freiheitlichen Demokratien akademische Freiheitsrechte garantiert, etwa indem der staatlichen Zensur und Gängelung von Forschung, Lehre und Publikationstätigkeit verfassungsrechtliche Grenzen gezogen sind. Aber das Recht der Freiheit der Wissenschaft, welches die wissenschaftliche Tätigkeit und wissenschaftliche Geltungsansprüche der staatlichen Verfügungsgewalt – und in diesem Sinne: der Politisierung – entzieht, ist seinerseits politisch. Mit der rechtlichen Normensetzung wird der gesamtgesellschaftlichen Anerkennung der wissenschaftlichen Erkenntnistätigkeit und der allgemeinen Wertschätzung der wissenschaftlichen Wissensform Ausdruck gegeben.

Diese Version von Politisierung – der verfassungsrechtliche Auftrag zum Schutz und zur Förderung der Wissenschaft – flankiert die Gesellschaftsform, die seit einigen Jahrzehnten mit dem Schlagwort der „Wissensgesellschaft“ bezeichnet wird und mit dem die soziologischen, ökonomischen, aber auch die politischen und epistemischen Anforderungen des postindustriellen Zeitalters herausgestellt werden. In der Wissensgesellschaft gelten Wissensproduktion und Wissensorganisation als wertvollste gesellschaftliche Ressourcen, sodass alle kollektiven Handlungssphären – Wirtschaft, Recht, Technik, Bildung, aber allem voran Politik – durch Wissen dominiert werden (sollten). Wissenschaftlichem Wissen gebührt hierbei der Vorrang, nicht zuletzt, weil es gesichert und verbindlich, objektiv und vertrauenswürdig, öffentlich zugänglich und nachvollziehbar zu sein beansprucht.

Das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Politik und Recht scheint in der demokratischen Wissensgesellschaft besonders eng zu sein, weil sich mit der Orientierung an wissenschaftlichem Wissen positive demokratische Erwartungen verbinden lassen, etwa an einen Zuwachs von Rationalisierung und Innovation, an die Etablierung evidenzbasierter Politik-Techniken, die eine verlässliche Quelle der Legitimation politischen Handelns bieten und zur politischen Stabilisierung beitragen. Wegen dieses engen Verhältnisses gibt es in freiheitlichen demokratischen Wissensgesellschaften eigentümliche Tendenzen zur Politisierung in dem Sinne, dass Wissenschaft als politisches Argument – oder umgekehrt: Politik als Erweiterung des wissenschaftlichen Tätigkeitsfeldes – benutzt wird. Diese Form der Politisierung wäre aber, ebenso wie die erstgenannte Form der illiberalen Zurichtung und Zensur von Wissenschaft, kritikwürdig, insofern die Sphären der Politik und der Wissenschaft in einer Weise vermischt werden, die weder der Politik noch der Wissenschaft dient. Auf der einen Seite droht eine Epistemisierung, eine „Verwissenschaftlichung“ der Politik, die sich letztlich als undemokratisch beziehungsweise unpolitisch herausstellt, gerade wenn und weil sie sich auf mutmaßlich alternativlose Evidenzen beruft. Auf der anderen Seite schadet diese politische Nähe der Wissenschaft, die sich nur zum Preis der Simplifizierung, Entfachlichung, Kompetenzüberschreitung und Unglaubwürdigkeit an dem öffentlich-politischen Wettbewerb der Ideen und Meinungen beteiligen, aber diesen schwerlich gewinnen kann. Wissenschaftliche Meinungen sind tatsächlich sehr eigentümliche, ja eigentlich gar keine Meinungen. Und die wissenschaftliche Diskurskultur unterscheidet sich in wichtigen Hinsichten von anderen öffentlichen Diskurspraktiken.

Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftskultur

Die aktuelle Debatte um die Gefährdungen der freien Wissenschaft und ihrer Streit- und Debattenkultur weist Parallelen zu einem anderen gesellschaftlichen Konfliktthema auf, nämlich den Gründen und Grenzen der Meinungsfreiheit. Mit Blick auf die deutsche Verfassungstradition mag das zunächst nicht verwundern; immerhin wird die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre in ein und demselben Grundrechtsartikel verhandelt wie die Meinungsfreiheit (zudem die Presse-, Informations- und Kunstfreiheit). Diese Kommunikationsgrundrechte gehören wegen ihrer Bedeutung für die individuelle Persönlichkeitsentfaltung, die kollektive Verständigung und die demokratische Selbstbestimmung zum normativen Grundbestand freiheitlicher Demokratien.

Dennoch handelt es sich bei der Wissenschaftsfreiheit um ein spezifisches Recht, das in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes als ein defensives und konstitutives Individualrecht ohne Gesetzesvorbehalt garantiert ist. Das heißt, dass Einschränkungen der Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre nur durch eine Kollision mit gleichwertigen Rechtsgütern begründet werden können, namentlich der Menschenwürde, dem Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Gesundheit oder dem Tier- und Umweltschutz. Wissenschaftsfreiheit ist kein Jedermann-Recht, sondern beschränkt auf Personen und Institutionen in wissenschaftlicher Forschung und Lehre.

Grundsätzlich ist ihr Schutzbereich von Meinungen als subjektiven Werthaltungen unterschieden und auf sachgerechte Ernsthaftigkeit, Planmäßigkeit und Wahrheitsorientierung verpflichtet. Anders als wissenschaftliche Tatsachenbehauptungen haben Meinungen einen subjektiv-wertenden Charakter und lassen sich daher nicht als „wahr“ oder „falsch“ erweisen. Vielmehr lässt sich um Meinungen trefflich und endlos streiten; Meinungspluralismus und Meinungsdissense lassen sich nur teilweise rational auflösen. Das Jedermann-Recht der freien Meinungsäußerung und Meinungsverbreitung ist daher an keine epistemischen (oder moralischen, politischen, ästhetischen) Gütekriterien gebunden: „Auf den Wert, die Richtigkeit, die Vernünftigkeit der Äußerung kommt es nicht an“, auch nicht, „ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird.“

Es ist daher legitim, gegen jede Vernunft und Wirklichkeit darauf zu bestehen, dass „das meine Meinung ist“ und dass „man das doch wohl sagen darf“. Für die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in der demokratischen Öffentlichkeit erscheint die Vorstellung eines Wettbewerbs oder Marktplatzes der Ideen und Interessen durchaus passend – ebenso die Erwartung, dass sich dieser „geistige Kampf“ „notwendig ‚pluralistisch‘, (…) vor allem in Rede und Gegenrede vollzieht“. Die Frage, wie sich unter diesen Bedingungen im Rahmen von politischen Konflikten zivilisiert streiten und entscheiden lässt, ist die unumgängliche (und in Zeiten der Polarisierung und Polemisierung nicht leicht zu beantwortende) Frage nach den epistemischen und ethischen Grundlagen demokratischer Diskurskultur.

Für die Wissenschaft stößt die Vorstellung eines freien Marktes der Ideen oder eines Wettbewerbs der Meinungen allerdings an Grenzen, die durch die Eigentümlichkeit der Wissenschaft bestimmt werden. Die wissenschaftliche Suche nach Erkenntnis, Wahrheit und Verständnis der Natur und der menschlichen Lebenswelt wird, jedenfalls idealiter, nicht durch Angebot und Nachfrage, Werbung, Käufer- oder Wählergunst oder eine unsichtbare Hand angeleitet, sondern durch den kollektiven Verstand der Wissenschaftsgemeinschaft und das sozioepistemische Normengefüge der Wissenschaftskultur beziehungsweise des Wissenschaftsethos. Dieses umfasst eine Reihe von relativ unstrittigen epistemischen Werten (wie Eindeutigkeit, Genauigkeit, Klarheit, Kohärenz, Konsistenz, Überprüfbarkeit, Verlässlichkeit), zudem Begründungs- und Verfahrensregeln, Handlungsorientierungen, Tugenden, Rollenerwartungen sowie institutionalisierte Belohnungs- und Sanktionssysteme, die die Ausbildungs- und Qualifikationswege, Methodologien und Praktiken – darunter die Diskurskultur – der Wissenschaft anleiten. Bei allen disziplinären Unterschieden und fachlichen Differenzen zwischen den Einzelwissenschaften gibt es Gemeinsamkeiten, die nicht nur die internen Wissenschaftsprozesse und das Selbstverständnis der Wissenschaftler:innen normieren, sondern zugleich definieren, was überhaupt als (gute) wissenschaftliche Praxis gilt und wer als (gute) Wissenschaftler:in betrachtet werden kann.

Das Ethos wissenschaftlicher Diskussionskultur

Während auf dem demokratischen Marktplatz der Meinungen reichlich viele Ideen und Interessen angeboten werden und auch reüssieren können (wie Klimawandel- und Corona-Leugnung, Verschwörungserzählungen, Kreationismus, Astrologie, Homöopathie), gilt für wissenschaftliche Ideen mit Blick auf das Ethos der Wissenschaft, dass grundlegende Rationalitätsstandards zu erfüllen sind. Diese dienen zugleich als Filter für solche unwissenschaftlichen Meinungen und Ideen. Die markttypische Annahme, dass im freien Wettbewerb die Nachfrage das Angebot und darüber auch den Preis regelt, erweist sich für das Ideal der Wissenschaft als unangemessen. Die Freiheit der Wissenschaft schließt die Freiheit ein, seinen eigenen Forschungsinteressen folgen zu können, ohne dabei ihre mutmaßliche Markt- oder Wettbewerbsfähigkeit berücksichtigen zu müssen. Und das gilt auch innerhalb der Wissenschaft, deren marktwirtschaftliche Zurichtung durch die zunehmende Ökonomisierung und Drittmittelfetischisierung eine reale Gefahr der Einschränkung von Forschungsfreiheit bedeutet.

Dabei sind wissenschaftliche Meinungen gerade keine Meinungen im Sinne von Werthaltungen, sondern wahrheitsfähige Aussagen, die etwas behaupten, was objektiv – also auch unabhängig von einer subjektiven Stellungnahme – der Fall ist. In der Wissenschaft lässt sich gar nicht sinnvoll von „meiner Wahrheit“ sprechen oder auf „alternative Fakten“ verweisen; vielmehr muss man sich dem besseren Argument, der treffenden Kritik, den Evidenzen und Tatsachen beugen. Daher fallen Tatsachenbehauptungen auch nur dann unter den Schutz der Meinungsfreiheit, wenn und weil diese eine Voraussetzung der Bildung von Meinungen sind. Nicht geschützt sind hingegen unrichtige Informationen oder bewusst falsche Tatsachenbehauptungen, wie Lügen, Fake News oder wissentlich unwahre Informationsverbreitung – und zwar auch dann, wenn sie von Professor:innen vorgebracht werden.

Allerdings darf es für die Gewährung der Wissenschaftsfreiheit keine Rolle spielen, ob die wissenschaftlichen Hypothesen, Überzeugungen, Standpunkte, Theorien oder Forschungsergebnisse „strittig“, unliebsam, unbequem oder reaktionär sind, unvernünftig, unbegründet oder abwegig erscheinen oder als beunruhigend, schockierend oder verletzend empfunden werden. Mindermeinungen sind ebenso geschützt wie irrige Forschungsansätze und fehlerhafte Ergebnisse, vorausgesetzt, „daß es sich dabei um Wissenschaft handelt; darunter fällt alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter Versuch zur Ermittlung von Wahrheit anzusehen ist“.

Die für die Wissenschaft charakteristische Pluralität von Forschungsansätzen und Evidenz-Verfahren, die ausgeprägte Debatten- und Fehlerkultur und die konstruktive Konkurrenz zwischen Wissenschaftler:innen sind somit ein fester Bestandteil des wissenschaftlichen Alltags. Das zeigt sich auch an den Besonderheiten der wissenschaftlichen Diskurskultur, deren Grundsätze sich aus dem Ethos der Wissenschaft erschließen lassen. Hierzu zählt etwa Universalismus als der allgemeine und objektive Geltungsanspruch wissenschaftlicher Aussagen. Er verpflichtet Wissenschaftler:innen, sich in wissenschaftlichen Diskursen ohne Rücksicht auf Personen, Status, Interessen und Machtverhältnisse ausschließlich durch Sachverhalte und Argumente leiten zu lassen.

Ein weiteres epistemisches Prinzip ist Interesselosigkeit. Die wissenschaftliche Tätigkeit wird nicht durch die persönlichen Präferenzen, eigennützigen Motive und subjektiven Meinungen oder Werte der Wissenschaftler:innen bestimmt, sondern durch die methodisch angeleitete und systematisierte Suche nach Wahrheit, Erkenntnissen und Einsichten. Dabei wird von der individuellen Wissenschaftler:in eine Haltung der intellektuellen Redlichkeit, Unaufgeregtheit und Unparteilichkeit verlangt. Für wissenschaftliche Diskurse bedeutet das, persönliche (darunter auch politische und moralische) Leidenschaften, Wünsche und Präferenzen zurückzustellen. Positiv gewendet gebührt den anderen Wissenschaftler:innen und ihrer Forschungstätigkeit Respekt, insbesondere dann, wenn diese konträr zu den eigenen wissenschaftlichen Überzeugungen stehen.

Ein drittes epistemisches Prinzip mit kommunikativen Wirkungen ist der organisierte Skeptizismus. Die Wahrheits- und Wirklichkeitsorientierung der Wissenschaft geht damit einher, dass wissenschaftliche Überzeugungen, Hypothesen, Methoden und Forschungsergebnisse keine Gewissheiten oder absoluten Wahrheiten darstellen, sondern regelmäßig mit Unsicherheiten, Unwissen, Verzerrungen, Fehlern und Irrtümern gerechnet werden muss. Daher stehen sie der wissenschaftlichen Kritik, Überprüfung und Revision – unter anderem in wissenschaftlichen Diskursen – jederzeit offen. Hierbei ist es völlig üblich und auch angemessen, die Gegenposition zu der eigenen vorwegzunehmen und mitzudenken. Unüblich ist es hingegen, wenn der eigenen Rede keine Gegenrede, Einwände oder Kritiken folgen.

Schließlich ist auch Wahrhaftigkeit eine epistemisch-ethische Tugend: Die Auswahl und Präsentation der Probleme, Hypothesen und Mittel, die die Forschungstätigkeit der einzelnen Wissenschaftler:in leiten, ist von dieser gewissenhaft und ehrlich, sich und anderen gegenüber, vorzunehmen. Auch in wissenschaftlichen Diskursen gilt eine Wahrhaftigkeitspflicht: Lügen, „Bullshitting“ und Provokationen um der Provokation willen sind ebenso wie Diskursfurcht und Empörungslust als diskursive Laster zu betrachten.

Diese Anfangsüberlegungen zur wissenschaftlichen Diskurskultur sind von dem Ideal der Wissenschaft, einem Ethos der Rationalität und einer geteilten akademischen Kultur geleitet. Dieses Ideal bietet überhaupt erst die normativen Voraussetzungen für die epistemischen Freiräume, auf die die reale Wissenschaft angewiesen ist und die nicht durch das Rechtsgut der Wissenschaftsfreiheit alleine garantiert und ausgestaltet werden können. Dem Ethos der Wissenschaft kommt dabei auch die Aufgabe zu, das normative Fundament zu sichern, auf dem sich der wissenschaftliche Disput, die harte argumentative Auseinandersetzung und auch der Streit um die richtige Position, These und Theorie konstruktiv entfalten können. Schließlich gilt: „Über gute Wissenschaft, Wahrheit oder Unwahrheit von Ergebnissen kann nur wissenschaftlich geurteilt werden.“ Für diese Beurteilungen spielen wissenschaftliche Diskurse eine konstitutive Rolle, deren normative Grundsätze an eben jene Ethos-Normen anknüpfen können, die die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft definieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Wissenschaft im Dialog, Wissenschaftsbarometer 2022, Externer Link: http://www.wissenschaft-im-dialog.de/projekte/wissenschaftsbarometer/wissenschaftsbarometer-2022; Externer Link: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/163400/umfrage/ansehen-der-berufe-in-der-gesellschaft.

  2. Die untersuchten fünf Dimensionen sind: Freiheit der Forschung und Lehre, Freiheit des akademischen Austauschs und der Wissenschaftskommunikation, akademische und kulturelle Ausdrucksfreiheit, Autonomie der wissenschaftlichen Institutionen und Campus-Integrität. Vgl. Externer Link: https://academic-freedom-index.net.

  3. Vgl. zu dieser Debatte die Beiträge in Jennifer Lackey (Hrsg.), Academic Freedom, Oxford 2018; APuZ 46/2021 (Wissenschaftsfreiheit), Externer Link: http://www.bpb.de/wissenschaftsfreiheit-2021; Elif Özmen (Hrsg.), Wissenschaftsfreiheit im Konflikt. Grundlagen, Herausforderungen und Grenzen, Berlin 2021; Sandra Kostner (Hrsg.), Wissenschaftsfreiheit. Warum dieses Grundrecht zunehmend umkämpft ist, Baden-Baden 2022.

  4. Ich selbst betrachte die Diagnose jedenfalls für den deutschen Wissenschaftsraum, wie sie prominent, lautstark und überaus medienwirksam vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit (Externer Link: http://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de) verbreitet wird, mit großer Skepsis; nicht zuletzt, weil sich hier viele Akteure eben jener Politisierung (der Wissenschaftsfreiheit) schuldig machen, die sie für die Wissenschaft beklagen. Vgl. Elif Özmen, Epistemische Offenheit als Wagnis. Über Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie, in: Özmen (Anm. 3), S. 29–47.

  5. So der Wortlaut des einflussmächtigen Hochschulurteils des Bundesverfassungsgerichts von 1973, BVerfGE 35, 79 (113): „Damit sich Forschung und Lehre ungehindert an dem Bemühen um Wahrheit (…) ausrichten können, ist die Wissenschaft zu einem von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich persönlicher und autonomer Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers erklärt worden.“

  6. Vgl. Rainer Bromme et al., An Anchor in Troubled Times: Trust in Science Before and Within the COVID-19 Pandemic, in: PLoS One 17/2022, S. 1–27.

  7. Vgl. Klaus Ferdinand Gärditz, Hoflieferanten. Wie sich Politik der Wissenschaft bedient und selbst daran zerbricht, Stuttgart 2023.

  8. Vgl. Gernot Böhme/Nico Stehr, The Knowledge Society. The Growing Impact of Scientific Knowledge on Social Relations, Dordrecht 1986; Stefan Böschen/Ingo Schulz-Schaeffer (Hrsg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden 2003.

  9. Vgl. Alexander Bogner, Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, Stuttgart 2021; Elif Özmen, Welches Wissen, wessen Meinung? Über die epistemischen Hoffnungen der Demokratie, in: Julian Nida-Rümelin/Andreas Oldenbourg (Hrsg.), Normative Konstituenzien der Demokratie, Berlin 2023 (i.E.).

  10. Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Kommunikationsfreiheiten, Baden-Baden 2002.

  11. Zudem entbindet die „Freiheit der Lehre (…) nicht von der Treue zur Verfassung“, auch fallen strafrechtlich relevante Meinungen, Theorien und Taten von Wissenschaftler:innen (wie Volksverhetzung, Holocaustleugnung, Gewaltverherrlichung, Verleumdung, Gotteslästerung) nicht unter den Schutz der Wissenschaftsfreiheit. Vgl. Gabriele Britz, Kommentierung zu Art. 5 Abs. 3 GG, in: Grundgesetz-Kommentar, hrsg. von Horst Dreier, Tübingen 2013; Klaus Ferdinand Gärditz, Die äußeren und inneren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, in: Wissenschaftsrecht – Zeitschrift für deutsches und europäisches Wissenschaftsrecht 51/2018, S. 5–44.

  12. Vgl. BVerfGE 35, 79 (113): „Wissenschaft meint jede Tätigkeit, die nach Inhalt und Form als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist. Das Merkmal ernsthaft soll heißen, dass Wissenschaft stets einen gewissen Kenntnisstand voraussetzt.“

  13. BVerfGE 65, 1 (41). Gleichwohl gibt es in Demokratien die epistemische Hoffnung, dass den Bürger:innen die rationale und moralische Güte und empirische Sachgerechtheit ihrer Meinungen nicht gleichgültig sind. Vgl. Elif Özmen, Meinungsfreiheit als umkämpfter Begriff. Rechtliche, politische, moralische und epistemische Perspektiven, in: Ethik und Unterricht 3/2022, S. 4–7.

  14. BVerfGE 65, 1 (41).

  15. Hierzu Marie-Luisa Frick, Zivilisiert streiten. Zur Ethik der politischen Gegnerschaft, Ditzingen 2018.

  16. Der Begriff scientific ethos geht zurück auf den Begründer der Wissenschaftssoziologe, Robert K. Merton, der dieses sozioepistemische Normengefüge sozialwissenschaftlich untersucht und in Form von vier Prinzipien – Kommunitarismus, Universalismus, Interesselosigkeit, Skeptizismus – in die Debatte eingeführt hat. Vgl. Robert K. Merton, A Note on Science and Democracy, in: Journal of Legal and Political Sociology 1/1942, S. 115–126. Zur aktuellen Debatte vgl. Gerhard Schurz/Martin Carrier (Hrsg.), Werte in den Wissenschaften. Neue Ansätze zum Werturteilsstreit, Frankfurt/M. 2013; Daniel Füger/Elif Özmen, What Is Scientific Criticism For? Some Philosophical Reflections on Criticism and Evidence within the Scientific Ethos, in: Karin Zachmann et al. (Hrsg.), Evidence Contestation. Dealing with Dissent in Knowledge Societies, London–New York 2023, S. 33–56.

  17. In Ländern wie den USA oder Großbritannien, in denen Wissenschaftsfreiheit unter das allgemeine Recht auf Meinungsfreiheit fällt, wird dagegen regelmäßig auf die Wissenschaft als marketplace of ideas verwiesen. Vielleicht sind die Debatten um academic freedom als freedom of speech in diesen Ländern auch deswegen so aufgeheizt und unversöhnlich, weil es hier deutlich schwerer als in der deutschen Tradition fällt, das Recht auf freie Rede von dem Recht auf freie wissenschaftliche Kommunikation qualitativ zu unterscheiden.

  18. Vgl. BVerfGE 61, 1 (8).

  19. BVerfGE 90, 1 (12).

  20. Ich orientiere mich bei den folgenden Überlegungen an den epistemischen und ethischen Prinzipien, die von Robert K. Merton und André Cournand als Teil des scientific ethos bzw. scientist’s code formuliert wurden, vgl. Merton (Anm. 16) und André Cournand/Michael Meyer, The Scientist’s Code, in: Minerva 14/1976, S. 79–96.

  21. BVerfGE 90, 1 (12).

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ist Professorin für Philosophie mit den Schwerpunkten theoretische Ethik und politische Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
E-Mail Link: elif.oezmen@phil.uni-giessen.de