Das gesellschaftliche Vertrauen in die Wissenschaft ist gegenwärtig sehr hoch. So vertrauen 62 Prozent der Deutschen der Aussage- und Geltungskraft wissenschaftlicher Erkenntnisse „voll und ganz“; 69 Prozent finden, dass politische Entscheidungen durch wissenschaftliches Wissen getragen werden sollten; für ganze 60 Prozent gelten Hochschulprofessor:innen als besonders vertrauenswürdige Personen und Auskunftgeber (zum Vergleich: von Politiker:innen denken das gerade mal 17 Prozent, von Journalist:innen 32 Prozent der Befragten).
Dennoch – und in einer gewissen Spannung zu diesen Index-Werten – gibt es eine anhaltende öffentliche Debatte um mutmaßliche Gefährdungen und Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit, die zu gefühlten oder realen Einschränkungen der wissenschaftlichen Streit- und Debattenkultur und zu (Selbst-)Regulierungen der Frei- und Denkräume an Hochschulen, auf Konferenzen und in der Wissenschaftskommunikation führen würden. Als Belege gelten Verbotsforderungen, Boykott-Aufrufe, die Verhinderung von Veranstaltungen, Drohungen und Denunziationen gegenüber einzelnen Wissenschaftler:innen, die Sanktionierung von Begriffen (wie das „N-Wort“, Weiße, „Rasse“, Frauen*) und nicht-gendergerechter Sprache sowie die harsche Zurückweisung bestimmter Denktraditionen, Werke, Autor:innen und Inhalte aufgrund ihrer (angeblichen oder auch tatsächlichen) mangelhaften politischen oder moralischen Güte.
Es geht in dieser Debatte also nicht um die altbekannten Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit durch staatliche Akteure und Eingriffe, sondern um „weichere“ Praktiken der gesellschaftlichen Einflussnahme, die allerdings mit harten Konsequenzen für die Betroffenen einhergehen können. Ebenso wie staatliche Kontrolle und Zensur würden diese (teil-)gesellschaftlichen Forderungen nach politischer Korrektheit, Trigger-Warnungen, Begriffs- und Sprachregelungen und die begleitende Kultur der Skandalisierung und des „Cancelns“ die Autonomie der Wissenschaftler:innen gefährden – und damit das Prosperieren der Wissenschaft im Ganzen. Als besonders perfide gilt, dass sich solche Versuche der politischen, moralischen und ideologischen Steuerung zwar außerwissenschaftlicher Leitnormen bedienen (wie Gleichstellung, Anti-Diskriminierung, Wiedergutmachung, Emanzipation, Gerechtigkeit), aber immer häufiger nicht „von außen“ kommen, sondern von Hochschulleitungen, Kolleg:innen und den Studierenden initiiert und durch wissenschaftliche Förderinstitutionen und Begutachtungs- und Publikationsprozesse gestützt werden.
Wie immer man sich hier positioniert:
Formen der Politisierung der Wissenschaft
Ohne die Freiheit von wissenschaftsfremden Einflussnahmen kann Wissenschaft die ihr eigentümlichen Ziele – die Ermittlung signifikanter Wahrheiten, das Verstehen, Erklären und Begründen natürlicher und lebensweltlicher Phänomene, die Entwicklung adäquater Theorien und darauf gründender praktischer Anwendungen – nicht zufriedenstellend realisieren. Daher herrscht gegenwärtig große Einigkeit darüber, dass die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre schlechthin konstituierend ist für die Wissenschaft. Uneinigkeit besteht hingegen bezüglich der Frage, ob und welche „Politisierung“ der Wissenschaft zuträglich oder schädlich ist.
Während der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass Verschwörungserzählungen, „alternative“ Wahrheiten, Scharlatanerien und andere Querdenkereien das gesellschaftliche Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse und Kompetenzen unterminieren können.
Dabei sind solche Praktiken der Politisierung – der politischen Dienstbarmachung – von Wissenschaft weder neu, noch sollten sie besonders überraschen. Die Geschichte der Wissenschaften ist auch eine Geschichte der staatlichen Steuerung, politischen Zurichtung, Zensur und handfesten Repression. Zwar werden in freiheitlichen Demokratien akademische Freiheitsrechte garantiert, etwa indem der staatlichen Zensur und Gängelung von Forschung, Lehre und Publikationstätigkeit verfassungsrechtliche Grenzen gezogen sind. Aber das Recht der Freiheit der Wissenschaft, welches die wissenschaftliche Tätigkeit und wissenschaftliche Geltungsansprüche der staatlichen Verfügungsgewalt – und in diesem Sinne: der Politisierung – entzieht, ist seinerseits politisch. Mit der rechtlichen Normensetzung wird der gesamtgesellschaftlichen Anerkennung der wissenschaftlichen Erkenntnistätigkeit und der allgemeinen Wertschätzung der wissenschaftlichen Wissensform Ausdruck gegeben.
Diese Version von Politisierung – der verfassungsrechtliche Auftrag zum Schutz und zur Förderung der Wissenschaft – flankiert die Gesellschaftsform, die seit einigen Jahrzehnten mit dem Schlagwort der „Wissensgesellschaft“ bezeichnet wird und mit dem die soziologischen, ökonomischen, aber auch die politischen und epistemischen Anforderungen des postindustriellen Zeitalters herausgestellt werden. In der Wissensgesellschaft gelten Wissensproduktion und Wissensorganisation als wertvollste gesellschaftliche Ressourcen, sodass alle kollektiven Handlungssphären – Wirtschaft, Recht, Technik, Bildung, aber allem voran Politik – durch Wissen dominiert werden (sollten). Wissenschaftlichem Wissen gebührt hierbei der Vorrang, nicht zuletzt, weil es gesichert und verbindlich, objektiv und vertrauenswürdig, öffentlich zugänglich und nachvollziehbar zu sein beansprucht.
Das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Politik und Recht scheint in der demokratischen Wissensgesellschaft besonders eng zu sein, weil sich mit der Orientierung an wissenschaftlichem Wissen positive demokratische Erwartungen verbinden lassen, etwa an einen Zuwachs von Rationalisierung und Innovation, an die Etablierung evidenzbasierter Politik-Techniken, die eine verlässliche Quelle der Legitimation politischen Handelns bieten und zur politischen Stabilisierung beitragen. Wegen dieses engen Verhältnisses gibt es in freiheitlichen demokratischen Wissensgesellschaften eigentümliche Tendenzen zur Politisierung in dem Sinne, dass Wissenschaft als politisches Argument – oder umgekehrt: Politik als Erweiterung des wissenschaftlichen Tätigkeitsfeldes – benutzt wird. Diese Form der Politisierung wäre aber, ebenso wie die erstgenannte Form der illiberalen Zurichtung und Zensur von Wissenschaft, kritikwürdig, insofern die Sphären der Politik und der Wissenschaft in einer Weise vermischt werden, die weder der Politik noch der Wissenschaft dient. Auf der einen Seite droht eine Epistemisierung, eine „Verwissenschaftlichung“ der Politik, die sich letztlich als undemokratisch beziehungsweise unpolitisch herausstellt, gerade wenn und weil sie sich auf mutmaßlich alternativlose Evidenzen beruft.
Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftskultur
Die aktuelle Debatte um die Gefährdungen der freien Wissenschaft und ihrer Streit- und Debattenkultur weist Parallelen zu einem anderen gesellschaftlichen Konfliktthema auf, nämlich den Gründen und Grenzen der Meinungsfreiheit. Mit Blick auf die deutsche Verfassungstradition mag das zunächst nicht verwundern; immerhin wird die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre in ein und demselben Grundrechtsartikel verhandelt wie die Meinungsfreiheit (zudem die Presse-, Informations- und Kunstfreiheit). Diese Kommunikationsgrundrechte gehören wegen ihrer Bedeutung für die individuelle Persönlichkeitsentfaltung, die kollektive Verständigung und die demokratische Selbstbestimmung zum normativen Grundbestand freiheitlicher Demokratien.
Dennoch handelt es sich bei der Wissenschaftsfreiheit um ein spezifisches Recht, das in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes als ein defensives und konstitutives Individualrecht ohne Gesetzesvorbehalt garantiert ist. Das heißt, dass Einschränkungen der Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre nur durch eine Kollision mit gleichwertigen Rechtsgütern begründet werden können, namentlich der Menschenwürde, dem Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Gesundheit oder dem Tier- und Umweltschutz.
Grundsätzlich ist ihr Schutzbereich von Meinungen als subjektiven Werthaltungen unterschieden und auf sachgerechte Ernsthaftigkeit, Planmäßigkeit und Wahrheitsorientierung verpflichtet.
Es ist daher legitim, gegen jede Vernunft und Wirklichkeit darauf zu bestehen, dass „das meine Meinung ist“ und dass „man das doch wohl sagen darf“. Für die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in der demokratischen Öffentlichkeit erscheint die Vorstellung eines Wettbewerbs oder Marktplatzes der Ideen und Interessen durchaus passend – ebenso die Erwartung, dass sich dieser „geistige Kampf“ „notwendig ‚pluralistisch‘, (…) vor allem in Rede und Gegenrede vollzieht“.
Für die Wissenschaft stößt die Vorstellung eines freien Marktes der Ideen oder eines Wettbewerbs der Meinungen allerdings an Grenzen, die durch die Eigentümlichkeit der Wissenschaft bestimmt werden. Die wissenschaftliche Suche nach Erkenntnis, Wahrheit und Verständnis der Natur und der menschlichen Lebenswelt wird, jedenfalls idealiter, nicht durch Angebot und Nachfrage, Werbung, Käufer- oder Wählergunst oder eine unsichtbare Hand angeleitet, sondern durch den kollektiven Verstand der Wissenschaftsgemeinschaft und das sozioepistemische Normengefüge der Wissenschaftskultur beziehungsweise des Wissenschaftsethos.
Das Ethos wissenschaftlicher Diskussionskultur
Während auf dem demokratischen Marktplatz der Meinungen reichlich viele Ideen und Interessen angeboten werden und auch reüssieren können (wie Klimawandel- und Corona-Leugnung, Verschwörungserzählungen, Kreationismus, Astrologie, Homöopathie), gilt für wissenschaftliche Ideen mit Blick auf das Ethos der Wissenschaft, dass grundlegende Rationalitätsstandards zu erfüllen sind. Diese dienen zugleich als Filter für solche unwissenschaftlichen Meinungen und Ideen. Die markttypische Annahme, dass im freien Wettbewerb die Nachfrage das Angebot und darüber auch den Preis regelt, erweist sich für das Ideal der Wissenschaft als unangemessen.
Dabei sind wissenschaftliche Meinungen gerade keine Meinungen im Sinne von Werthaltungen, sondern wahrheitsfähige Aussagen, die etwas behaupten, was objektiv – also auch unabhängig von einer subjektiven Stellungnahme – der Fall ist. In der Wissenschaft lässt sich gar nicht sinnvoll von „meiner Wahrheit“ sprechen oder auf „alternative Fakten“ verweisen; vielmehr muss man sich dem besseren Argument, der treffenden Kritik, den Evidenzen und Tatsachen beugen. Daher fallen Tatsachenbehauptungen auch nur dann unter den Schutz der Meinungsfreiheit, wenn und weil diese eine Voraussetzung der Bildung von Meinungen sind. Nicht geschützt sind hingegen unrichtige Informationen oder bewusst falsche Tatsachenbehauptungen, wie Lügen, Fake News oder wissentlich unwahre Informationsverbreitung
Allerdings darf es für die Gewährung der Wissenschaftsfreiheit keine Rolle spielen, ob die wissenschaftlichen Hypothesen, Überzeugungen, Standpunkte, Theorien oder Forschungsergebnisse „strittig“, unliebsam, unbequem oder reaktionär sind, unvernünftig, unbegründet oder abwegig erscheinen oder als beunruhigend, schockierend oder verletzend empfunden werden. Mindermeinungen sind ebenso geschützt wie irrige Forschungsansätze und fehlerhafte Ergebnisse, vorausgesetzt, „daß es sich dabei um Wissenschaft handelt; darunter fällt alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter Versuch zur Ermittlung von Wahrheit anzusehen ist“.
Die für die Wissenschaft charakteristische Pluralität von Forschungsansätzen und Evidenz-Verfahren, die ausgeprägte Debatten- und Fehlerkultur und die konstruktive Konkurrenz zwischen Wissenschaftler:innen sind somit ein fester Bestandteil des wissenschaftlichen Alltags. Das zeigt sich auch an den Besonderheiten der wissenschaftlichen Diskurskultur, deren Grundsätze sich aus dem Ethos der Wissenschaft erschließen lassen.
Ein weiteres epistemisches Prinzip ist Interesselosigkeit. Die wissenschaftliche Tätigkeit wird nicht durch die persönlichen Präferenzen, eigennützigen Motive und subjektiven Meinungen oder Werte der Wissenschaftler:innen bestimmt, sondern durch die methodisch angeleitete und systematisierte Suche nach Wahrheit, Erkenntnissen und Einsichten. Dabei wird von der individuellen Wissenschaftler:in eine Haltung der intellektuellen Redlichkeit, Unaufgeregtheit und Unparteilichkeit verlangt. Für wissenschaftliche Diskurse bedeutet das, persönliche (darunter auch politische und moralische) Leidenschaften, Wünsche und Präferenzen zurückzustellen. Positiv gewendet gebührt den anderen Wissenschaftler:innen und ihrer Forschungstätigkeit Respekt, insbesondere dann, wenn diese konträr zu den eigenen wissenschaftlichen Überzeugungen stehen.
Ein drittes epistemisches Prinzip mit kommunikativen Wirkungen ist der organisierte Skeptizismus. Die Wahrheits- und Wirklichkeitsorientierung der Wissenschaft geht damit einher, dass wissenschaftliche Überzeugungen, Hypothesen, Methoden und Forschungsergebnisse keine Gewissheiten oder absoluten Wahrheiten darstellen, sondern regelmäßig mit Unsicherheiten, Unwissen, Verzerrungen, Fehlern und Irrtümern gerechnet werden muss. Daher stehen sie der wissenschaftlichen Kritik, Überprüfung und Revision – unter anderem in wissenschaftlichen Diskursen – jederzeit offen. Hierbei ist es völlig üblich und auch angemessen, die Gegenposition zu der eigenen vorwegzunehmen und mitzudenken. Unüblich ist es hingegen, wenn der eigenen Rede keine Gegenrede, Einwände oder Kritiken folgen.
Schließlich ist auch Wahrhaftigkeit eine epistemisch-ethische Tugend: Die Auswahl und Präsentation der Probleme, Hypothesen und Mittel, die die Forschungstätigkeit der einzelnen Wissenschaftler:in leiten, ist von dieser gewissenhaft und ehrlich, sich und anderen gegenüber, vorzunehmen. Auch in wissenschaftlichen Diskursen gilt eine Wahrhaftigkeitspflicht: Lügen, „Bullshitting“ und Provokationen um der Provokation willen sind ebenso wie Diskursfurcht und Empörungslust als diskursive Laster zu betrachten.
Diese Anfangsüberlegungen zur wissenschaftlichen Diskurskultur sind von dem Ideal der Wissenschaft, einem Ethos der Rationalität und einer geteilten akademischen Kultur geleitet. Dieses Ideal bietet überhaupt erst die normativen Voraussetzungen für die epistemischen Freiräume, auf die die reale Wissenschaft angewiesen ist und die nicht durch das Rechtsgut der Wissenschaftsfreiheit alleine garantiert und ausgestaltet werden können. Dem Ethos der Wissenschaft kommt dabei auch die Aufgabe zu, das normative Fundament zu sichern, auf dem sich der wissenschaftliche Disput, die harte argumentative Auseinandersetzung und auch der Streit um die richtige Position, These und Theorie konstruktiv entfalten können. Schließlich gilt: „Über gute Wissenschaft, Wahrheit oder Unwahrheit von Ergebnissen kann nur wissenschaftlich geurteilt werden.“