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Die redaktionelle Gesellschaft | Diskurskultur | bpb.de

Diskurskultur Editorial Krise und Kritik des verständigungsorientierten Diskurses Deliberative Demokratie nach der digitalen Transformation Die redaktionelle Gesellschaft. Eine konkrete Utopie für die digitale Diskurskultur Wissenschaftliche Diskurskultur zwischen Freiheit und Politisierung Rechtspopulistische Diskursverschiebungen In der Kampfzone. Rassismus, Antisemitismus und das Ringen um Deutungshoheit Cancel Culture Revisited. Zwei Perspektiven Wie die Meinungsfreiheit zum Problemfall erklärt wird Von verzerrten Evidenzen und moralischer Panik

Die redaktionelle Gesellschaft Eine konkrete Utopie für die digitale Diskurskultur

Bernhard Pörksen

/ 18 Minuten zu lesen

Die digitale Transformation der demokratischen Öffentlichkeit erfordert eine neue digitale Diskurskultur. Um zu ihr zu gelangen, braucht es eine publizistische Verantwortung sozialer Netzwerke, dialogischen Journalismus – und ein Schulfach „Medienmündigkeit“.

Es ist ein dramatischer Moment im Leben von Jordi Mir, ein Augenblick im Affekt, als er am 7. Januar 2014 um kurz vor 12 Uhr aus seiner Wohnung auf die Straße blickt. Er sieht zwei Vermummte, die Maschinengewehre im Anschlag. Jordi Mir greift zum Handy, filmt, 42 Sekunden lang. Auf dem Boden liegt der Polizist Ahmed Merabet, der um Gnade flehend die Hände hebt. Dann fallen die Schüsse, die Merabet töten. Die beiden Attentäter, die kurz zuvor etliche Redakteure und Mitarbeiter des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ erschossen haben, springen ins Auto und flüchten. Jordi Mir weiß nicht wirklich, was er gefilmt hat. Er denkt an einen Banküberfall, lädt wie in Trance das Video auf Facebook hoch und löscht es nur eine Viertelstunde später wieder, weil er doch ahnt, dass die Ad-hoc-Publikation keine gute Idee war. Aber da ist schon alles zu spät. Rasend schnell verbreiten sich die Bilder der Exekution. Jordi Mir hat den ikonischen Moment des Anschlags als reproduktionsfähiges Dokument geliefert.

Keine Stunde später bringt das französische Fernsehen die Erschießung, dann folgt der Rest der Medienwelt, die Filmaufnahmen werden in sozialen Netzwerken geteilt, von Journalisten gestreut. Sie sind auf einmal überall. Der Bruder des Getöteten wird später vor die Kameras treten und sagen: „Wie könnt ihr es wagen, dieses Video zu senden? Ich habe seine Stimme gehört. Ich habe ihn erkannt. Ich habe gesehen, wie man ihn abgeschlachtet hat.“ Unter Journalisten entbrennt eine Debatte, ob man all dies zeigen darf, unverpixelt, in anonymisierter Form oder eben gar nicht. Sind die Bilder relevant, von öffentlichem Interesse, Dokumente einer Grausamkeit, die sonst nicht verstehbar wäre? Auch Jordir Mir wendet sich ein zweites Mal an die Öffentlichkeit. Er bittet die Familie des Getöteten um Verzeihung, nennt sein Handeln einen „dummen Reflex“, eine Idiotie, die ihm im Moment der Überforderung passiert ist.

Man kann diese Szene als einen Hinweis verstehen, dass die Gesellschaft, wie der Journalist Friedemann Karig in einem klugen Essay schrieb, eine „Ethik des Teilens“ benötigt, eine sensible Moral des Users, der Inhalte eben nicht gedankenlos weiterleiten, Exekutionsbilder online stellen, womöglich Gerüchte verbreiten sollte. Tatsächlich ist die Verantwortung für die öffentliche Sphäre heute auch ins Lager derjenigen diffundiert, die einst „das Publikum“ genannt wurden. Und tatsächlich ist es auch eine Entscheidung der vernetzten Vielen, was aus der Öffentlichkeit wird. Ein gigantischer Pool aus Blutbildern und pulsierenden Hitlisten von immer lustigeren Katzenvideos? Eine Sphäre des Spektakels? Eine Manege für überdrehte Clowns und für diejenigen, die am lautesten brüllen und am effektivsten provozieren? Oder doch, wie der Philosoph Jürgen Habermas, der Doyen der Öffentlichkeitstheorie, hofft, eine Welt, in der „das Phänomen des eigentümlich zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“ noch Gültigkeit besitzt?

Allerdings bedarf die Forderung nach einer Ethik des Teilens der Konkretion. Ihr fehlt es an einem übergreifenden Gerüst aus Werten, Prinzipien und konkreten Standards, die im Moment der Entscheidung die Reflexion leiten könnten. Ihr fehlt die institutionalisierbare Grundlage, denn sie kennt nur einen einzigen Adressaten, nämlich das Individuum, das postet, tweetet, kommentiert. Kurzum: Die individualistisch konzipierte Ethik des Teilens ist die falsche Antwort auf die richtige Frage, wie man publizistische Verantwortung in den Wirkungsnetzen des digitalen Zeitalters neu denken kann, wenn man selbst so unmittelbar und schnell, ein Smartphone in der Hand, vom Beobachter zum Beteiligten zu werden vermag, der vielleicht die entscheidenden Dokumente publiziert. Jordi Mir postet seinen Handyfilm auf Facebook, irgendwer leitet sein Video weiter, der klassische Journalismus reagiert, etablierte Fernsehsender publizieren, was bereits auf Facebook öffentlich war. Und alles explodiert in einem plötzlich aufschäumenden Aufmerksamkeitsexzess. In diesem Zusammenwirken zeigen sich wie unter einem Brennglas die Kraftzentren der digitalen Öffentlichkeit: das medienmächtige Publikum, der real existierende Journalismus mit seinem Sofort-Sendezwang und die Wirkmacht von Plattformen.

In dieser Situation eines Medienumbruchs verbirgt sich ein noch unverstandener, in seiner Dimension kaum wirklich entzifferter Bildungsauftrag. Es reicht nicht, allein am Individuum, einer Ethik des Teilens oder, wie in der Medienpädagogik, an einem diffusen, politisch entkernten Konzept von Medienkompetenz anzusetzen, sondern es gilt, die Player der öffentlichen Welt insgesamt zu involvieren, den Einzelnen mit seinem Netzzugang genauso wie die Journalisten und diejenigen, die Informations- und Meinungsströme in sozialen Netzwerken lenken. Es geht, um eine Formulierung des Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker aufzugreifen, darum, „den Raum der Freiheit zu planen“ – also produktive und nützliche Maximen der kommunikativen und publizistischen Selbstkontrolle zu umschreiben, die umso wichtiger erscheinen, je wirkungsloser in einer vernetzten Welt die juristischen und institutionellen Kontrollmechanismen werden.

Die Grundfragen, auf die es ankommt, lauten: Wie kann man diesem Zusammenspiel alter und neuer Gatekeeper gerecht werden, die verschiedenen Akteure gleichermaßen in den Blick nehmen? Wie könnte ein verbindendes Wertegerüst aussehen, das das allgemeine Postulat mit konkreten Kategorien zur Einschätzung verbindet? Und wie verbindet man das Leitziel einer konkreten Normativität mit der nötigen Offenheit und jener liberalen Elastizität, die dem demokratischen Ideal der Mündigkeit angemessen ist, ihm erst seine Würde durch die individuelle Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeit gibt? Die Antwort auf diese Fragen, die hier entfaltet wird, ist die Utopie der redaktionellen Gesellschaft. Sie taugt als Bildungsziel für die digitale Moderne und kann dabei helfen, die revolutionäre Öffnung des kommunikativen Raumes zu verarbeiten.

Was ist mit dem Ausdruck gemeint? In einer redaktionellen Gesellschaft sind die Normen und Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus zum selbstverständlichen Bestandteil der Allgemeinbildung geworden, so mein Definitionsvorschlag. Sie werden an Schulen, Universitäten und bürgernahen Journalistenschulen gelehrt. Sie taugen als Wertegerüst des öffentlichen Sprechens. Man muss diese Prinzipien nicht neu erfinden. Sie liegen in Form der handwerklichen Regeln und Maximen des journalistischen Arbeitens bereits vor. Denn was machen gute Journalisten? Sie prüfen, was sie publizieren, sie analysieren Quellen, sie recherchieren. Sie bemühen sich darum, die Blase eigener Vorurteile zu verlassen, und sind skeptisch gegenüber großen und kleinen Ideologien, den Interessen von Informanten und dem Spin raffinierter PR-Strategen. Sie folgen dem verständigungsorientierten Credo Audiatur et altera pars („man höre auch die andere Seite“), zeigen also idealerweise die nötige Portion Offenheit für andere Positionen und Argumente. Und schließlich gehört es zu ihren ureigenen Aufgaben, Machtmissbrauch und echte Skandale mit aller Entschiedenheit aufzudecken – und doch gleichzeitig die Persönlichkeitsrechte und die Unschuldsvermutung zu beachten, Pranger-Attacken und die kleinlich-mäkelnde Dauermoralisierung von unbedeutenden Grenzüberschreitungen zu vermeiden.

Wie gesagt, das ist alles normativ gedacht. Und selbstverständlich muss man sofort hinzufügen, dass zu den Journalisten auch jene zählen, die Fotos von gerade Verunglückten organisieren („Witwenschütteln“), Prominente bespitzeln und im Wettlauf um die Sensation Biografien zerstören. Aber die Tatsache, dass es auch schlechte Journalisten gibt, ist noch kein Einwand, weil ein Ideal nicht schon durch seine Verletzung wertlos wird. Und man kann ergänzen, dass es in der gegenwärtigen Phase der Medienevolution, in der sich – einerseits – die Öffnung und – andererseits – die Refeudalisierung des Kommunikationsraumes durch Plattform-Giganten beobachten lässt, gerade den Energiestoß utopisch-idealistischer Überlegungen braucht. Dies gewiss nicht, weil diese schon punktgenau umgesetzt wären, sondern weil die Sollens-Forderungen als Katalysator von Diskurs und Debatte taugen. Aber wie ließe sich – jenseits von allgemeinen Prinzipien und Proklamationen – die Medienmündigkeit im Konkreten fördern? Ich möchte drei Vorschläge unterbreiten: In einem ersten Schritt beschreibe ich ein eigenes Schulfach als Labor der redaktionellen Gesellschaft, skizziere dann, wie sich das Verhältnis von Journalismus und Publikum anders und neu denken ließe und zeige schließlich, wie auch die Betreiber von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken dazu gebracht werden könnten, sich ihrer publizistischen Verantwortung zu stellen.

Ein eigenes Schulfach als Labor

Für die Erziehung zur Medienmündigkeit braucht es lange schon ein eigenes Schulfach; dieses lässt sich als eine Art Labor der redaktionellen Gesellschaft begreifen, als ein geschützter, aber doch von der aktuellen Medienwirklichkeit geprägter Raum, in dem die Mechanismen des Öffentlichen studiert werden können. Abseits privater Geschäftsinteressen, ohne Echtzeit-Hektik, aber in dem Versuch, die moralische Phantasie und das publizistische Vermögen aller Beteiligten zu schulen.

Warum an den Schulen? Nun, die Laborsituation der Schule erlaubt den Kraftakt der reflektierten Distanznahme zu einer scheinbar naturwüchsig und alternativlos erscheinenden Wirklichkeit. Sie bietet vergleichsweise unabhängige Sphären einer relativen Freiheit für diejenigen, die faktisch schon längst in der digitalen Welt leben und eines Tages deren Zukunft bestimmen werden. Die Vernetzung und Digitalisierung in ihren persönlichen und gesellschaftlichen Folgen zu durchdenken, sie mit Blick auf die soziale Umwelt und die eigene kognitive Innenwelt zu begreifen, ihre Sozialverträglichkeit zu debattieren – das wäre so etwas wie der pädagogische Grundauftrag dieses neuen, unvermeidlich interdisziplinären Faches an der Schnittstelle von philosophischer Ethik, Sozialpsychologie, Medienwissenschaft und Informatik.

Am Anfang stünde eine medientechnisch fundierte Entstehungsgeschichte der digitalen Welt, die offenbart, in welchem Maße der Medienwandel ökologisch wirkt, weil er – von der Nutzung der Schrift bis zur Erfindung von Druckerpresse, Radio, Film, Fernsehen oder eben des Computers – die Gesellschaft radikal transformiert und die Organisation des Wissens, den Charakter von Autorität und Wahrheit und die Formen des Diskurses verändert. Fortfahren ließe sich mit einer Machtanalyse der digitalen Welt, die zeigt, was Big Data, Quantified Self, die Plattform-Monopole von Facebook oder Google oder die Automatisierung der Arbeitswelt und die Vermessung des Menschen lebenspraktisch bedeuten, welche Wirklichkeiten Algorithmen erschaffen und wer überhaupt Anschluss hat an die Segnungen der digitalen Welt. Das dritte Großthema und Lernziel wäre eine erkenntniskritische Sensibilisierung durch eine Disziplin, die ich als angewandte Irrtumswissenschaft bezeichnen möchte. Sie verdankt ihre Illustrationsbeispiele und Grundeinsichten der sozialpsychologischen Literatur zum Gruppen- und Bestätigungsdenken, der kasuistischen Analyse von Fälschungen und Fehleinschätzungen, dem historischen und epistemologischen Studium von Vorurteilen, von Manipulation und Persuasion. Ein solches Studium der Irrtumswissenschaft vermittelt Wissen, das davon handelt, wie Wissen zustande kommt und wie fehlerhaft und manipulationsanfällig die Wahrnehmung des Einzelnen oder auch ganzer Gruppen und Gesellschaften potenziell sein kann. Schließlich wäre die Praxis des Mediengebrauchs in der digitalen Welt ein entscheidendes Thema. Hier ginge es um die Einschätzung der Verlässlichkeit und Objektivität von Quellen und um die konkreten Kriterien, die einen bei der Einordnung von mehr oder minder vertrauenswürdigen Informationen leiten können. Es ginge um die potenzielle Wirkung eigener Postings und Publikationen in den Wirkungsnetzen des Digitalen und die Macht raffiniert getarnter Werbung und Propaganda, die im Extremfall global zirkuliert. Und hier ginge es auch um die Ethik des eigenen Sprechens, die Spielregeln einer vernunftorientierten, um das bessere Argument ringenden Debatte, die enthemmende Wirkung der Anonymität beziehungsweise Pseudonymität, die konkreten Maßnahmen zur Sicherung der Privatsphäre, aber eben auch um den Schutz der eigenen Konzentrationsfähigkeit und der tiefen Aufmerksamkeit in Zeiten der Dauerablenkung und des Informationsbombardements.

Eine vitale, demokratisch fundierte Öffentlichkeit – das wäre so etwas wie die treibende Grundeinsicht des neuen Schulfaches – braucht Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. Sie ist nichts Natürliches und beständig Vorhandenes, sondern dynamisch, angreifbar und unvermeidlich im Spiel der Interessen und aggressiven Polarisierungen bedroht. Es könnte so, Schritt für Schritt, ein neues Verständnis der öffentlichen Sphäre entstehen – als dem geistigen Lebensraum einer Gesellschaft, der vor Missbrauch und Manipulation, vor Desinformation und intransparent agierenden Machtmonopolen geschützt werden muss.

Dialogischer Journalismus

In der redaktionellen Gesellschaft der Zukunft braucht es einen neuen, weniger asymmetrisch organisierten Pakt zwischen den Journalisten und ihrem Publikum, ein großes Gespräch auf Augenhöhe, das die Uralt-Tugenden des Dialogs – Nahbarkeit und Berührbarkeit, echtes, nicht bloß strategisch oder geschäftlich motiviertes Interesse und wirkliches Zuhören, die Bereitschaft zum Perspektivwechsel – in moderne Formen überführt. Das Publikum ist aus Sicht des dialogischen Journalismus nicht mehr passiv, sondern Teilnehmer eines großen, niemals abgeschlossenen Gesprächs auf der Suche nach Wahrheit, Relevanz und Sinn. Es bestimmt die Agenda der Themen in direkter und unmittelbarer Weise mit und wird mitunter in Rechercheprozesse nach dem Muster des Crowdsourcing involviert. Das Grundprinzip: Das sogenannte Publikum wird zum Dialog- und Diskurspartner in einem Klima wechselseitiger Inspiration. Information gilt aus dieser Perspektive nicht mehr als statisch, Wissensentstehung wird prozesshaft gedacht, nicht als Ergebnis abschließender und ausschließender Verkündigung. Die professionelle Expertise des organisierten Journalismus verdankt sich damit nicht mehr allein einem Informations- und Wissensvorsprung, sondern der Kunstfertigkeit, mit der man Kommunikationsprozesse initiiert und schöpferische Dialoge moderiert und kuratiert. Es braucht – als Bedingung der Möglichkeit eines dialogischen Journalismus – heterogene Redaktionen, die die unterschiedlichen Wirklichkeiten eines Landes abbilden, Ombudsleute und Öffentlichkeitsredakteure, die Publikumsinteressen vertreten, eine auf Diversität setzende Personalpolitik der Medienunternehmen. Es müssen Personen mit Migrationsgeschichte in einer Redaktion sein, Nicht-Studierte, mehr Frauen und insgesamt Menschen mit tiefen biografischen Erfahrungen – auch, um eine allzu große weltanschauliche Homogenität, die Fokussierung auf eine urbane Mittelschicht, akademische oder elitäre Milieus zu vermeiden.

Es gilt überdies, das klassische Gatekeeping des massenmedialen Zeitalters durch das Gatereporting zu ergänzen; der Journalismus der Zukunft muss neben der Vermittlung von Inhalten noch systematischer über die Prozesse ihres Zustandekommens informieren und offensiv für die eigenen Rationalitätskriterien werben. Was ist damit gemeint? Gatekeeping betreiben heißt, Informationen auszuwählen, sie überhaupt als relevant auszuzeichnen. Das ist die klassische, nach wie vor unverzichtbare Kernkompetenz in einer Zeit, in der Gerüchte und gefährlicher Nonsens blitzschnell zirkulieren. Gatereporting hingegen bedeutet, die eigenen Auswahlkriterien und Quellen, wann immer möglich, offen zu legen und sich um die Begründung von Relevanz, Stichhaltigkeit und Wahrheitsanspruch zu bemühen. Es reicht heute nicht mehr, nur zu verkünden, was man selbst für richtig und wichtig hält. Es ist an der Zeit, die Meta-Rezepte der Quellen- und Wissensüberprüfung sowie die etablierten Spielregeln der Faktenrecherche mitzuliefern. Man muss – in Redaktionsblogs, Foren, sozialen Netzwerken, durch Netztutorials, die Veröffentlichung von Rohmaterial – erklären und wieder erklären, warum man sagt, was man sagt, und auswählt, was man auswählt; man muss eigene Fehler und Grenzüberschreitungen transparent machen, Gefährdungen und Hindernisse der unabhängigen Gesellschaftsbeobachtung unerschrocken beschreiben und durch eigene Fortbildungsangebote und bürgernahe Journalistenschulen über die eigene Arbeit informieren. Das heißt: Die Selbstaufklärung über die Gesetze der eigenen Branche ist der unvermeidliche Zweitjob von Journalistinnen und Journalisten in einer redaktionellen Gesellschaft, die die Medienmündigkeit und die publizistische Verantwortung aller Beteiligten als Ziel kollektiver Anstrengungen begreift. Der kategorische Imperativ eines in dieser Weise verwandelten Journalismus, der auf das große Gespräch zielt, lautet: Begreife die eigene Kommunikation nie als Endpunkt, sondern immer als Anfang und Anstoß von Dialog und Diskurs.

Plattformräte

Soziale Netzwerke wie Facebook, Suchmaschinen wie Google und Mikrobloggingdienste wie Twitter (nun „X“) sind Zwitter- und Meta-Medien und agieren als solche in einem schwer definierbaren und noch schwerer sinnvoll regulierbaren Grau- und Grenzbereich. Wer sie als Medienunternehmen mit redaktioneller Verantwortung für sämtliche Beiträge auffasst, der macht den Fehler, ihnen implizit Zuständigkeiten für den Charakter von Einzeläußerungen anzutragen, die sie nicht besitzen – und vergrößert paradoxerweise, womöglich in dem Bestreben, ihren Einfluss zu begrenzen, ihre Macht. Wer sie als gänzlich neutrale Plattformen begreift, die doch nur unterschiedslos Kommunikation ermöglichen, der übersieht, dass ihre Betreiber sehr wohl – nur eben auf weitgehend intransparente Art und Weise – permanent redaktionelle Entscheidungen durch die algorithmische Filterung von Information treffen. Und er ignoriert, dass sie nicht nur, wie beispielsweise Facebook, Brustwarzen- und Penisbilder löschen, sondern auch im Falle von nationalen und internationalen Konflikten widersprüchlich agieren und Profile, Seiten und Inhalte nach eigenem Gutdünken sperren, während sie andere stehen lassen, weil dies ihren beziehungsweise den nordamerikanischen Vorstellungen von Meinungsfreiheit entspricht. Und er macht sich nicht ausreichend deutlich, dass die Plattform-Giganten der digitalen Zeit schon durch die schlichte Tatsache ihrer Marktmacht und die Kannibalisierung des Werbe- und Anzeigenmarktes die öffentliche Sphäre tiefgreifend verändern.

Damit stellt sich das Problem, wie man in einer redaktionellen Gesellschaft Plattformen regulieren könnte, ohne in Richtung der Totalbevormundung (das wäre das eine Extrem) oder in Richtung eines allzu gleichgültigen Laisser-faire (das wäre das andere Extrem) abzustürzen. Dass es diese Regulierung braucht, ist offensichtlich, weil die Plattform-Betreiber gegenwärtig – je nach Belieben, politisch-juristischer Opportunität und aktuellem Anlass – verschiedene, einander widersprechende Positionen kombinieren: Mal treten sie als Subjekte in Erscheinung, die für sich das Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nehmen; dann wieder werden redaktionelle Entscheidungen bekannt, die willkürlich oder rein situativ begründet erscheinen. Und schließlich wählen sie, dies ist wohl die häufigste Reaktion, die „technokratische Pose“ (ein Ausdruck des Netzkritikers Evgeny Morozov), beanspruchen also Neutralität und tun so, als seien ihre Algorithmen gleichsam stumpf vor sich hin rechnende Gerechtigkeitsautomaten, die mechanisch und unterschiedslos Informationen sortieren. Dann heißt es vonseiten der Plattform-Betreiber beispielsweise, man produziere keine eigenen Inhalte beziehungsweise bilde lediglich Nutzerinteressen ab; man würde Computerwissenschaftler und Ingenieure beschäftigen und keine Journalisten; und es gebe keine redaktionellen Eingriffe von Menschen in den Fluss von Information – all dies sind Schutzbehauptungen, die in dieser Form und dieser Absolutheit nicht stimmen.

Die Lösung, die im Bemühen um allgemeine Medienmündigkeit naheliegt, besteht darin, dass man Filtertransparenz, die Offenlegung der Entscheidungspraxis und die Möglichkeit des allgemeinen Publikums, diskursiv auf diese Entscheidungspraxis Einfluss zu nehmen, befördern und notfalls auch gesetzlich erzwingen muss. Denn Medien (und eben auch medienähnliche Unternehmen oder Plattformen) müssen, wie die Philosophin Onora O’Neill formuliert, verfügbar und einschätzbar sein. Wir müssen wissen, wer auf welche Weise und mit welcher Agenda Informationen auswählt, personalisiert und gewichtet, womöglich Relevanz- und Realitätsverzerrungen programmiert, um dann zu entscheiden, wie wir diese Informationen einschätzen und ob wir uns ihnen aussetzen wollen.

Wie ließe sich diese Einschätzungsfähigkeit steigern? Der Vorschlag, der hier unterbreitet wird, lautet: Plattformen müssen sich eigene, detailliert ausbuchstabierte Richtlinien und Ethikkodizes geben, die der öffentlichen Diskussion zugänglich sind. Sie brauchen in jedem einzelnen Land Ombudsgremien des Publikums. Sie benötigen Öffentlichkeitsredakteure, die den Dialog mit dem Publikum pflegen, die analog und digital erreichbar und zur sofortigen Reaktion im Falle von Beschwerden oder Kontroversen angehalten sind. Die Unternehmen selbst müssen in Transparenzberichten zur Beantwortung folgender Fragen verpflichtet werden: Wie wird durch die eigene Stellung im Markt die öffentliche Sphäre verändert? Welche publizistischen Effekte haben die eingesetzten Algorithmen, welche Tendenz und welche diskursiven Effekte begünstigen sie? Welche Werte sind ihnen eingeschrieben? Wie geht das Unternehmen mit Hasskommunikation, mit politischem und religiösem Extremismus und Beschwerden generell um? Welche Leitlinien verfolgt das Unternehmen im Kampf gegen Desinformation und im Umgang mit Propaganda, ideologischem oder religiös begründetem Fanatismus? Auf welche Weise bestimmt man die Grenzen der Meinungsfreiheit? Wer ist damit beauftragt, Inhalte zu kuratieren? In welche Prozesse der Informationsfilterung sind Menschen involviert, in welche nicht?

Es liegt in der Logik eines Meta-Mediums und der hier unterbreiteten Vorschläge, dass diese Transparenzberichte wiederum von Ombudsgremien und unabhängigen Wissenschaftlern bewertet und diese Einschätzungen prominent auf der Plattform selbst kommuniziert und diskutiert werden sollten. Sinnvoll erschiene zu diesem Zweck ein eigener Plattformrat, eine neu zu gründende Institution als Anlaufstelle, Schiedsrichter und Korrekturinstanz von Fehlentscheidungen, die Diskurs- und Transparenzpflichten einfordert. Das hieße konkret: In einem solchen Plattformrat kämen Plattformbetreiber, Journalisten, Verleger, Wissenschaftler und Vertreter der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammen; hier würden Beschwerden und Kritikpunkte diskutiert; hier würde man auf Debatten zur Transformation der digitalen Welt reagieren, Rügen oder Missbilligungen aussprechen oder Vorwürfe in Teilen oder zur Gänze zurückweisen. Die Debatten und die angebliche oder tatsächliche Verletzung von Standards müssten dann von den Plattformen selbst veröffentlicht und den Nutzern prominent zugänglich gemacht werden. Auf diese Weise würden – in einer Mischung aus Top-down- und Bottom-up-Verfahren – die allgemeinen Prinzipien der redaktionellen Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung einer eigenen Plattformethik konkretisiert, die überhaupt erst für das breite Publikum identifizierbar und transparent gemacht würde. Und es würde klarer, in welcher Ernsthaftigkeit man Leitwerte wie Wahrheits-, Diskurs- und Verständigungsorientierung respektiert, welches Relevanzkonzept man favorisiert und inwiefern man die eigenen Mitarbeiter für ethisch-moralische Leitfragen sensibilisiert.

Was wäre damit gewonnen? Die Antwort lautet: Damit würde die inzwischen gefährlich normal scheinende und seltsam natürlich wirkende Intransparenz der publizistischen Vorentscheidungen durch Plattform-Betreiber der allgemeinen Analyse und der öffentlichen Kritik zugänglich. Das Publikum würde auf diese Weise in die Lage versetzt, das bislang weitgehend unsichtbare, dem öffentlichen Diskurs entzogene redaktionelle Programm einzuschätzen und sich die Frage zu stellen, ob es selbst mit diesem einverstanden ist – oder doch die Plattform und den Anbieter wechseln sollte; eben dieser Wechsel zu Alternativplattformen ist ja möglich. Das hieße, allgemeiner betrachtet, dass man im Falle von Plattformen Transparenzpflichten und Meta-Prinzipien der Diskursorganisation durchsetzt, nicht jedoch eine spezielle Vorstellung von Wahrheit, Moral oder Meinungsfreiheit, weil einen dies, sieht man von klaren, offensichtlichen Rechtsverstößen einmal ab, auf die schiefe Bahn der Gesinnungsvorgabe gleiten lässt. Man greift also nicht direkt auf der Ebene der einzelnen Inhalte ein, aber steigert die Entscheidungsfreiheiten des Einzelnen, vergrößert seine Möglichkeiten der bewussten Auswahl; der Einzelne muss sich dann selbst ein Urteil bilden.

Ausblick

Dies alles bedeutet, einen langen, mühevollen Weg zu gehen. Aber eben erst diese Sisyphusarbeit der fortwährenden Auseinandersetzung ist den Idealen eines demokratischen Miteinanders in der redaktionellen Gesellschaft der Zukunft wirklich angemessen. Warum? Weil Bildungsanstrengungen dieser Art die Mündigkeit des anderen voraussetzen, ihn als selbstständiges Gegenüber betrachten – aus welchen Gründen sollte man sich sonst auch im Diskurs engagieren? Und weil erst durch die Bereitschaft zur fortwährenden Auseinandersetzung das große Gespräch über publizistische Verantwortung möglich wird, das die redaktionelle Gesellschaft der Zukunft auszeichnen könnte. Ein solches Plädoyer, das nicht auf ein statisches System aus Normen und Regeln zielt, weist ins Offene und will und braucht die Debatte, nicht die Ruhebank fester Wahrheiten und vermeintlich zeitloser Gewissheiten. Es setzt, eben darin besteht seine Schwäche, aber vielleicht auch seine Stärke und Attraktivität, schon in der Wahl der Mittel voraus, was es als Ziel erst zu erreichen gilt: die Autonomie und Selbstverantwortung des Menschen und seine Fähigkeit, mit anderen auf gute Weise in Freiheit zu leben.

ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen umfassen „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“ (2018) und "Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik" (2020, gemeinsam mit Friedemann Schulz von Thun).
E-Mail Link: bernhard.poerksen@uni-tuebingen.de